Freitag, 29. März 2024

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Tunesische Stadt Kasserine
Terroristen in der Nachbarschaft

Kasserine im Zentrum von Tunesien gilt als Rückzugsort für Terroristen. Vor allem in den umliegenden Bergen sollen sich Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates versteckt halten. Dabei sah es im Arabischen Frühling 2011 lange danach aus, als sei Tunesien auf dem Weg zu einer funktionierenden Demokratie.

Von Anne Françoise Weber | 22.03.2017
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    Die offizielle Arbeitslosenquote liegt in Kasserine bei über 20 Prozent. Viele junge Leute campieren daher aus Protest gegen die Regierung vor dem Berufsministerium. (Archiv) (imago )
    Die Stadt Kasserine und die sie umgebende gleichnamige Provinz im Westen Tunesiens haben einen schlechten Ruf. Die Region gilt als Hochburg des Terrorismus; in den Bergen, die die Stadt umgeben und im Westen die Grenze nach Algerien bilden, sollen sich Anhänger der Terrororganisationen Islamischer Staat und Al Kaida versteckt halten. Immer wieder rückt die Armee zu Anti-Terror-Einsätzen an; Tote oder Festgenommene werden gleich als Terroristen bezeichnet. Was bedeutet das für die Einwohner? Die Suche nach Antworten beginnt in der Nähe der Berge:
    Das Haus von Hafsia Yehia und ihrer Familie liegt nur einen Kilometer vom Chaambi-Gebirge entfernt. Haus ist ein großes Wort für die kleine Steinhütte mit der fensterlosen Küche, in der ausglühende Kohlen auf dem Boden einen letzten Rest Wärme spenden. Der kleinen Enkelin ist anzusehen, dass sie friert. Fließendes Wasser gibt es nicht, alle zwei Wochen muss die Familie bei einem Zisternenwagen Wasser kaufen und zahlt dafür umgerechnet fast zehn Euro – eine Vermögen für sie. Geld verdienen Hafsia und ihr Mann nur, wenn sie bei den benachbarten Bauern auf dem Feld helfen oder deren Ziegen hüten können. Von der Regierung oder den lokalen Behörden erwarten sie nichts.
    "Ein Nachbar ist mit seinen Ziegen auf eine Miene getreten und gestorben"
    "Mein Sohn ist arbeitslos, ich habe drei Anträge gestellt, nichts passiert. Das Gleiche bei der Renovierung unseres Hauses. Ich habe einen Antrag gestellt, bin zum Bürgermeisteramt gegangen, Experten haben sich das Haus angeschaut - aber danach passierte nichts, sie geben mir nichts."
    Nur in einem hat sich ihre Situation im vergangenen Jahr verbessert – der Zugang zum Chaambi-Gebirge ist nicht länger gesperrt. Hafsia und ihre Familie können wie früher Holz und Kräuter sammeln, Tonerde holen und die Ziegen weiden lassen. Gefährlich aber bleibt es:
    "Vor ein paar Tagen ist ein Nachbar auf den Berg gestiegen mit seinen Ziegen, die sind auf eine Mine getreten und gestorben - zum Glück sind die Ziegen vor ihm gelaufen, sonst wäre er auf die Mine getreten. Die Armee hat ihn festgenommen und ihm gesagt: Ihr dürft nicht auf den Berg steigen, ihr wisst, dass da Minen sind; wir können euch nur unten beschützen. Und fast jeden Tag fliegen Helikopter über das Gebirge und Patrouillen durchforsten das Gelände."
    Bei zwei Angriffen wurden mehr als 20 Soldaten getötet
    Es sind wohl die Terroristen, die die Minen legen: Sie schützen so ihre Verstecke in den Bergen und wollen ein Eindringen der Armee verhindern. Auch wenn sie selbst noch keinen Terroristen gesehen hat, ist Hafsia überzeugt, dass auf der anderen, Algerien zugewandten Seite des Gebirges tatsächlich noch welche zu finden sind. Sie erinnert sich gut, dass bei zwei Angriffen auf Armeeposten in den Jahren 2013 und 2014 im Chaambi-Gebirge mehr als 20 Soldaten getötet wurden. Die große Militärpräsenz hält Hafsia daher nicht für übertrieben – und zum Glück werden sie und ihre Familie meist in Ruhe gelassen.
    "Am Anfang ist die Armee oft zu uns gekommen, die Soldaten waren sehr hart zu uns, haben alles durchsucht und über jeden von uns Nachforschungen angestellt, aber dann haben sie gemerkt, dass wir nichts mit den Terroristen zu tun haben. Uns haben sie nichts getan, aber die Nachbarn da drüben wurden von der Armee drangsaliert, weil sie nicht weit von einem Mann wohnen, der vor kurzem getötet wurde und der ein Terrorist gewesen sein soll. Jetzt ist das zum Glück vorbei."
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    Das Haus der Familie Yehia. Es liegt nicht weit vom Chaambi-Gebirge entfernt. (Anne Françoise Weber)
    Persönlich kennt Hafsia niemanden, der sich den Terroristen angeschlossen hat. Aber sie weiß von zwei Brüdern aus dem Viertel Ezzouhour in der rund 10 km entfernten Stadt Kasserine.
    Im Viertel Ezzouhour wohnt auch die Familie von Mourad, der im Sommer 2015 zusammen mit vier anderen mutmaßlichen Terroristen von der Armee getötet wurde. Mourad soll einer der bekanntesten tunesischen Anführer von Al Qaida im Maghreb gewesen sein. Vor seinem Tod war er lange Zeit verschwunden – genauer gesagt seit jenem Tag, an dem seltsamer Besuch kam, wie der Vater berichtet:
    "Es kamen zwei Polizisten, einer davon in Uniform. Sie haben ihm gesagt, dass er des Mordes an einem Beamten verdächtigt werde und am nächsten Morgen um vier Uhr abgeholt werden soll. Und genau so ist es passiert. Es kamen dann andere Polizisten um vier Uhr in der Frühe und haben gefragt: Wo ist Mourad? Ich habe ihnen gesagt: Er ist nicht da, er ist weggegangen. Wie kann es sein, dass die einen ihn warnen und die anderen kommen, um ihn festzunehmen?"
    Warum sich Mourad den Terroristen angeschlossen hat, weiß niemand
    Mehrere Briefe an verschiedene Minister habe die Familie geschrieben, um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten. Keine Reaktion. Warum sich Mourad den Terroristen angeschlossen und mit wem er gekämpft hat, weiß hier anscheinend niemand. Er sei ein umgänglicher Typ gewesen und habe keinen in der Familie gezwungen, seinen Lebenswandel religiösen Vorschriften anzupassen. Auch um Geld sei es ihm nicht gegangen, meint die Schwester:
    "Was bringt einen Menschen dazu, seine Frau zu verlassen, seine Tochter? Mich könnte keiner überzeugen!"
    Zur Zeit des Diktators Ben Ali war Mourad drei Jahre wegen islamistischer Umtriebe im Gefängnis. Als er zurückkam, sei er bedrückt und traurig gewesen, erzählt die Mutter. Also begann sie, seine Hochzeit vorzubereiten. Nie hätten sie gedacht, dass er wenige Monate nach der Geburt seiner Tochter verschwinden würde, sagen die Eltern.
    "Er hat uns nicht angerufen und wir haben ihn nicht gesehen. Er war drei oder vier Jahre lang verschwunden. Wir hörten, er sei in diesem oder in jenem Gebirge, sei hier- oder dorthin gezogen. Das haben wir aus dem Fernsehen erfahren, wie alle anderen Leute. An dem Tag, an dem er getötet wurde, haben wir das im Fernsehen gesehen."
    Die Familie hat für Mourads mutmaßliche Taten einen hohen Preis bezahlt. Eine Anstellung im öffentlichen Dienst bekommt keines der Geschwister. Nach Mourads Verschwinden kamen eine Zeit lang fast jede Nacht Sicherheitskräfte und stellten die Wohnung auf den Kopf – ein kranker Bruder von Mourad sei infolgedessen an einem Herzinfarkt gestorben, erzählen die Eltern. Ein zweiter Bruder, Tareq, sitzt im Gefängnis – er wurde wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt, aber der Vater ist sich sicher:
    "Es gibt Leute, die zu Recht im Gefängnis sitzen. Und andere, die einfach so festgenommen werden. Gegen Tareq gibt es keinerlei Beweise. Nur den Beweis, dass er der Bruder von Mourad ist."
    Der letzte der Brüder sitzt mit den Eltern und der Schwester im Wohnzimmer und verlangt nur eins: nicht für die Taten seines Bruders verantwortlich gemacht zu werden, sondern eine eigene Chance zu bekommen.
    In den Medien will die Familie lieber nicht mehr auftauchen
    Die Familie will ihre Namen lieber nicht nennen und nicht fotografiert werden. Auch wenn alle Nachbarn Bescheid wissen und bei Mourads Beerdigung waren, auch wenn eine seiner Schwestern in einer Talkshow über ihren Bruder gesprochen und sich deutlich von ihm distanziert hat – in den Medien will die Familie jetzt lieber nicht mehr auftauchen.
    Einer, der sich in der Berichterstattung über Terrorismus in der Region um größte Sorgfalt bemüht, ist der Journalist Borhen Yahyaoui. Er arbeitet als Reporter für ein großes tunesisches Privatradio. Erst kürzlich hat er einen Bericht über die Terrorgruppen in den Bergen um Kasserine veröffentlicht.
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    Der Journalist Borhen Yahyaoui bemüht sich, Informationen über die Dschihadisten in den umliegenden Bergen zu sammeln. (Anne Françoise Weber)
    "Sie lassen sich in zwei terroristische Gruppierungen unterteilen: Erstens die Brigade Oqba Ibn Nafaa, die zu al-Qaida im Maghreb gehört. Sie ist seit 2011 in Kasserine angesiedelt und umfasst 35 bis 40 Mann. Sie bilden Zellen in den Bergen von Semmema, Chaambi, Birine und Sidi Aich in der Provinz Gafsa. Darunter sind Tunesier, Algerier und Mauretanier. Und zweitens gibt es die Jund al Khalifah, die dem IS folgen und in den Gebirgen Mghila und Salloum sitzen. Zu ihnen gehören ungefähr 35 Kämpfer aus Tunesien und Algerien."
    Den Regierungen und Geheimdiensten in Europa und den USA wirft Borhen Yahyaoui vor, ebenso wie die tunesische Regierung die Entstehung der terroristischen Gruppen gefördert zu haben, so lange es ihnen passte. Dass nun ausgerechnet die 80.000-Einwohner-Stadt Kasserine als Hort des Terrorismus gilt, hat für ihn sehr klare Gründe:
    "Die Probleme in Kasserine sind noch größer als in den anderen benachteiligten Regionen des Landes. Die Einwohner haben einen höheren Preis für die Revolution gezahlt und hatten größere Hoffnungen – umso größer ist die Enttäuschung. Und die Sicherheitslage ist hier noch schlechter, denn Kasserine ist von vier oder fünf Bergen umgeben, die den Terroristen als Rückzugsmöglichkeit dienen. Wie überall auf der Welt setzt sich der Terrorismus in Gebirgen fest, wo der Zugriff für die Sicherheitsbehörden schwierig ist. Kasserine ist eine Durchgangsregion zwischen Tunesien und Algerien. Der Hauptgrund, warum Kasserine vom Terrorismus so betroffen ist, ist also seine geographische Lage."
    Die Vereinten Nationen gehen von 5.000 tunesischen Dschihadisten aus
    Seinen Informationen nach ist derzeit nur ein Mann aus Kasserine bei der Al-Qaida-Gruppierung aktiv. Allerdings vermuten inländische Quellen rund 3000 Tunesier in Syrien und im Irak und eine Studie der Vereinten Nationen geht sogar von bis zu 5000 tunesischen Dschihadisten aus – eine enorme Zahl für das kleinste nordafrikanische Land. Dabei sah es doch nach dem Sturz des Diktators Ben Ali im so genannten Arabischen Frühling 2011 aus, als sei Tunesien mit seiner relativ gut gebildeten Bevölkerung auf dem besten Weg zu einer funktionierenden Demokratie. Doch der wirtschaftliche Aufschwung lässt auf sich warten und die alten Eliten halten weiterhin viele Fäden in der Hand. Zwei Anschläge haben dem Tourismus zuletzt empfindlich zugesetzt, und dass die Attentäter von Nizza und Berlin aus Tunesien kamen, hat dem Ruf des Landes weiter geschadet. Eine parlamentarische Untersuchungskommission soll nun die dschihadistischen Rekrutierungen untersuchen. Borhen Yahyaoui verweist allerdings darauf, dass deren Hochzeit schon einige Jahre zurück liegt:
    "Dass die jungen Leute zum Kämpfen in die Berge oder in Konfliktzonen aufgebrochen sind, war vor allem in der Zeit zwischen 2012 und 2013 der Fall, als die Troika-Regierung diese Leute in Kriege schicken wollte, mit denen sie nichts zu tun hatten. Danach ist die Zahl der jungen Leute aus Kasserine in den Bergen und in den Konfliktzonen gesunken."
    Die Troika-Regierung der Jahre 2012 und 2013 stand unter der Führung der islamistischen Ennahda-Partei, der viele Tunesier mindestens Nachlässigkeit, manche wie Borhen Yahyaoui auch Unterstützung bei der Ausreise junger Terrorismuswilliger vorwerfen. Die Ennahda-Abgeordnete Mehrezia Labidi bestreitet dagegen eine besondere Verantwortung ihrer Partei, die mittlerweile Teil einer Regierung der nationalen Einheit ist:
    "Wenn es einen Mangel an Wachsamkeit gab, dann stand dahinter kein politischer Wille. Die Aufgabe war einfach enorm. Und sehr schnell hat man die Probleme erkannt. Es war immerhin die Regierung von Ennahda-Politiker Ali Laaraeydh, die 2013 die Gruppierung Ansar al-Scharia verboten und zur terroristischen Organisation erklärt hat."
    Was nützt Prävention, wenn junge Leute für sich keine Zukunft sehen?
    Mehrezia Labidi glaubt auch nicht, dass heute noch viele Tunesier zum Kämpfen nach Syrien reisen. Zu gut seien inzwischen sowohl die Kontrollen als auch die Prävention. Aber was nützt die beste Prävention, wenn junge Leute für sich keine Zukunft sehen? Rabia Gharsalli aus Kasserine hat da seine eigene Antwort:
    "Die einzige Lösung für Kasserine ist meiner Meinung nach das direkte Eingreifen des Staates. Der verlässt sich bisher auf die Privatwirtschaft. Aber die Privatwirtschaft lässt sich hier nicht nieder. Erstens, weil die Infrastruktur fehlt. Und zweitens, weil es Sicherheitsprobleme gibt und Kasserine ein schlechtes Image hat wegen des Terrorismus und der Nähe zum Chaambi-Gebirge. Ausländische Investoren werden nicht nach Kasserine kommen."
    Rabia Gharsalli gehört selbst zum Heer der jungen Leute ohne festen Job in Kasserine. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt hier bei über 20 Prozent - Gharsalli zählt aber nicht einmal dazu. Denn er hat eine kleine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme; das Einkommen reiche ihm gerade mal, um Zigaretten zu kaufen, erklärt er. Vor der Revolution hatte er sich zu den Salafisten hingezogen gefühlt, wie er nach einigem Zögern zugibt. Aber er betont:
    "Es gibt Unterschiede zwischen den Salafisten und denen, die andere für ungläubig erklären. Auch in ihrem Glauben sind sie unterschiedlich. Salafisten gibt es hier im Ort; das können gute Menschen sein, sie arbeiten, beten, kommunizieren mit den Leuten. Es gibt andere, die manche auch Salafisten nennen, aber ich bin dagegen - das sind Dschihadisten, anders gesagt Terroristen. Zwischen den beiden Gruppen gibt es keine Verbindung, sie sind sehr verschieden und schon immer gab es Auseinandersetzungen zwischen ihnen, vor allem über die Haltung zur Staatsmacht. Sie haben Probleme miteinander, in der Doktrin und der Programmatik."
    Seit der Revolution ist Rabia Gharsalli in der Zivilgesellschaft aktiv. Gerade ist er dabei, mit seinem Freund Chedi Rebhi für eine Hilfsorganisation einen kurzen Film über Schulabbrecher fertig zu stellen.
    Die Quote der Schulabbrecher in Kasserine ist eine der höchsten im Land
    Die Bilder, die die beiden anschauen, zeigen ärmlich gekleidete Kinder mit großen Augen, die in den Schulbus steigen. Für viele von ihnen, zumal wenn sie auf dem Land wohnen, ist es ein beschwerlicher Weg, den sie irgendwann nicht mehr auf sich nehmen. Die Quote der Schulabbrecher in Kasserine ist eine der höchsten im Land. Chedi Rebhi beklagt, dass die Region immer hinter Tunis und dem Küstenstreifen herhinken musste:
    "Es gibt keinen fruchtbareren Boden für Terrorismus als ein armes, hungerndes, marginalisiertes und ungebildetes Milieu. Die Marginalisierungs- und Verarmungspolitik von Ben Ali und davor von Bourguiba hat Heerscharen von Ungebildeten hervorgebracht. Und nichts ist einfacher, als diese Leute auf solche Abwege zu bringen. Ich würde nicht sagen, dass der Terrorismus überhaupt keinen Bezug zur Religion hat. Aber seine Verbindung zu Armut und mangelhafter Bildung ist weitaus stärker."
    Die Analphabetenquote liegt in Kasserine bei 32 Prozent, in der Hauptstadt Tunis sind es nur zwölf Prozent. Das ist nur eine der Zahlen aus einem ungewöhnlichen Antrag, den die Region Kasserine im Sommer 2015 bei der tunesischen Wahrheitskommission eingereicht hat. Sie will als "Opferregion" anerkannt werden, weil sie bei der Entwicklung des Landes über Jahrzehnte systematisch benachteiligt worden sei. Grundsätzlich sieht das Gesetz einen solchen Status vor – eine Antwort gibt es jedoch bislang nicht.
    Die Benachteiligung mag einer der Gründe für junge Leute in Kasserine sein, sich dem Terrorismus zuzuwenden. Doch Chedi Rebhi ist überzeugt, dass mit den Nachrichten über Terrorismus auch Politik gemacht wird:
    "Keiner kann leugnen, dass es Terrorismus gibt"
    "Keiner kann leugnen, dass es Terrorismus gibt. Man kann nicht behaupten, dass es keine tunesischen Terroristen gibt, oder dass keiner aus Kasserine kommt. Die Frage ist aber, wie sie sich bewegen, wie sie denken, wer ihnen den Raum, die Freiheit gegeben hat, dass sie Dinge planen und ausführen. Das hat zur Zeit der Troika-Regierung begonnen. Das ganze tunesische Volk hält das für eine Manipulation. Manchmal gibt es mehr Terrorismus, dann weniger, manchmal verschwindet er. Der Terrorismus rührt sich, wenn das Volk Dinge einfordert, die wichtig für Alltag, Arbeit und Einkommen sind. Er ist ein Instrument der Ablenkung. Man soll sich Sorgen wegen des Terrorismus machen und alles andere vergessen."
    Eine der Hauptstraßen von Kasserine ist eine Dauerbaustelle – tief ist der Boden aufgerissen, hier sollen wohl neue Rohre verlegt werden. Vorerst ist die Grube ein wunderbarer Spielplatz für ein paar Kinder, die fröhlich hineinhüpfen. Ein paar Meter weiter liegt ein kleines Geschäft für Autolacke. Hinter der Theke steht ein großer Mann mit rundem, freundlichen Gesicht, der immer freitags einer anderen Arbeit nachgeht: Mahfoudh Ben Deraa ist Imam und zugleich auch der Präsident der Imame in Kasserine. Er hält die Terrorismusgefahr in Kasserine für übertrieben und betont, dass im städtischen Alltag nichts davon zu merken sei und sich bloß kein ausländischer Investor davon abschrecken lassen sollte.
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    Imam Mahfoudh Ben Deraa arbeitet unter der Woche in einem Geschäft für Autolacke. (Anne Françoise Weber)
    "Religiöses Denken und die wirtschaftliche Situation sind eng miteinander verbunden. Wir Imame bekämpfen den Terrorismus mit Bewusstseinsbildung und Lehrstunden in Moscheen, auf Plätzen, in Sälen und in Gefängnissen – aber das allein reicht nicht. Denn wenn die wirtschaftliche Situation einen jungen Mann in Schwierigkeiten bringt, wenn er sieht, wie seine Mutter verhungert oder seine Schwester auf der Straße bettelt, kann das zu extremen Einstellungen führen. Die Grundlage der Terrorismus-Bekämpfung ist die religiöse Bewusstseinsbildung bei den jungen Männern, die sich davon angezogen fühlen. Wir haben Gott sei Dank im religiösen Bereich 90 Prozent Fortschritt zu verzeichnen. Aber es bleibt der wirtschaftliche Bereich, die Armutsbekämpfung. Vielleicht bringt die Armut einen Mann dazu, etwas zu tun, was er für einen religiösen Auftrag hält – aber die Religion ist unschuldig, diese Leute haben mit dem Islam nichts zu tun."
    Mahfoudh Ben Deraa plädiert für ein demokratisches, säkulares Staatswesen in Tunesien und ein friedliches Zusammenleben mit Juden und Christen. Allerdings kann er nicht ganz bestreiten, dass manche das anders sehen:
    "Sagen wir, in einer Familie gibt es vier Söhne, drei sind gute Menschen, einer denkt anders. Tötest du ihn? Er bleibt dein Sohn. Aber man kann nicht die ganze Familie als extremistisch bezeichnen. In Tunesien leben zwölf Millionen Menschen. Die große Mehrheit denkt gemäßigt. Es ist eine winzige Minderheit, die anders denkt. Aber sie können nur mit der Gemeinschaft zusammenleben, wenn sie ihr Denken, ihre Einstellung und ihr Verhalten ändern."
    Was der Imam nicht sagt: Solange sich auch nur wenige Terroristen in den Bergen um Kasserine verschanzen, können sie immer noch Anhänger rekrutieren – und das Ansehen der Region weiterhin ruinieren. Eine schlechte Nachbarschaft, die sich nicht leugnen lässt.