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Türkei
"Die Kurden sind Opfer einer neuen US-Politik"

Der frühere Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Jürgen Chrobog, hat den USA vorgeworfen, die türkischen Angriffe auf die Arbeiterpartei PKK zu tolerieren. Das Vorgehen der Türkei werde von der US-Regierung gedeckt, sagte Chrobog im Deutschlandfunk. Die Amerikaner hätten nur noch ein Ziel: Die Bekämpfung der Terrormiliz IS.

Jürgen Chrobog im Gespräch mit Doris Simon | 30.07.2015
    Der frühere Diplomat Jürgen Chrobog.
    Der frühere Diplomat Jürgen Chrobog. (Imago / Müller-Stauffenberg)
    Nach Ansicht des Ex-Botschafter in Washington, Jürgen Chrobog, ordnen die USA der Bekämpfung des "Islamischen Staats" alles andere unter. Die USA seien froh, einen Luftwaffenstützpunkt für die Angriffe auf die Dschihadisten benutzen zu dürfen, sagte er im Deutschlandfunk. Deshalb stelle man alles zurück, was die Türken verärgern könne, womit Chrobog Kritik an dem Vorgehen der Türkei gegen die PKK meinte.
    Chrobog sprach von einer einseitigen Entscheidung. "Die Kurden sind in diesem Fall Opfer einer neuen amerikanischen Politik."

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: Mit aller Härte geht die türkische Regierung gegen die Kurden vor, mit Verhaftungen im eigenen Land und mit Militäroperationen im Norden Syriens und des Iraks. Die Militäraktionen treffen auch diejenigen Kurden, die bislang etwa im Nordirak am entschiedensten den sogenannten islamischen Dschihad bekämpft haben. Zuletzt haben die türkischen Luftangriffe gegen den IS in Syrien zuletzt auch nachgelassen. Jürgen Chrobog, ehemaliger Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Kenner der Region, ist jetzt am Telefon, guten Morgen!
    Jürgen Chrobog: Guten Morgen, Frau Simon!
    Simon: Herr Chrobog, worum, glauben Sie, geht es der Türkei wirklich? Um den Kampf gegen den IS oder den Kampf gegen die Kurden?
    Chrobog: Ich fürchte, es geht nicht gegen den Kampf gegen IS, zunächst einmal nicht. Hauptfeind ist natürlich einmal der syrische Präsident Assad, den man wegbekommen will, und dann das wesentliche Ziel für die Türken ist es, ein zusammenhängendes Staatsgebiet der Kurden zu verhindern um jeden Preis. Hauptfeind sind die Kurden.
    Die Lage ist sehr kompliziert geworden
    Simon: Deutschland und andere NATO-Staaten unterstützen ja die Kurden im Irak im Kampf gegen den IS. Halten Sie es für gerechtfertigt und für angemessen, dass die NATO-Partner derzeit zusehen, wie die Türkei vor allem die Kurden militärisch bekämpft?
    Chrobog: Es ist kompliziert. Wir unterstützen nicht die PKK, wir unterstützen die Peschmerga. Aber diese Unterscheidungen sind nur schwer zu machen und nur schwer verständlich zu machen auch unter den Kurden. Die PKK ist ja auch verhasst bei den Kurden im Irak. Dort liebt man sie nicht, dort weiß man auch um die Gefahr und auch die zukünftige Gefahr der PKK. Aber dennoch ist die PKK die einzige militärische Kraft, die dort wirklich gegen den IS massiv vorgegangen ist und dort auch wirklich Erfolge erzielt hat. Nein, wir haben jetzt in der NATO ja die große Solidarität in diesem Kampf erklärt, haben die Türkei unterstützt, und das ist natürlich ein Problem, damit hat jetzt die Türkei auch Carte blanche bekommen, sie können machen, was sie wollen, sind gedeckt auch gerade durch die Amerikaner. Sehr kompliziert auch für die Zukunft.
    Simon: Sie sagen selber, das ist gefährlich. Warum drängt aus Ihrer Sicht die NATO nicht auf die Einstellung des Angriffs auf Kurden, wenn das sowohl die einen als auch die anderen trifft?
    Chrobog: Es ist ja Widerspruch erfolgt bei der NATO-Sitzung am Dienstag. Auch Deutschland hat dringend dazu geraten, den Friedensprozess, der sehr gut lief zwischen der Türkei und den Kurden, weiter zu betreiben. Das hat aber der türkische Präsident Erdogan abgelehnt. Sie machen so weiter. Und für die Amerikaner gibt es nur ein einziges Ziel im Augenblick, der Kampf gegen die IS. Und sie sind so froh darüber, dass sie jetzt diesen Stützpunkt als Luftwaffenbasis wieder bekommen haben im Irak [sic: gemeint ist in der Türkei], oder endlich bekommen haben, dass sie alles zurückstellen, was in irgendeiner Form die Türken verärgern könnte und diese Sache wieder gefährden sollte. Sie brauchen diesen Stützpunkt für ihre Flüge, für ihren Kampf gegen IS und stellen alles andere in den Hintergrund. Ein großes Problem natürlich, eine sehr einseitige Entscheidung. Ob dies sich langfristig auszahlt, müssen wir sehen. Aber das Problem liegt sicher auch darin, dass irgendwo wieder Spannungen auftreten in der Sichtweise der Europäer und der Amerikaner.
    Hauptziel der USA ist der Kampf gegen IS
    Simon: Das ist das eine Problem, bleiben wir gerade noch bei dem anderen, was Sie skizziert haben: Die Amerikaner wollen vor allem den Kampf gegen den IS vorantreiben. Die Gefahr ist aber jetzt natürlich auch, dass sie in der Region zunehmend an Glaubwürdigkeit verlieren. Erst unterstützen sie die Kurden im Kampf gegen IS, jetzt opfern sie die Kurden. Ist das - Sie waren ja lange Botschafter in Washington - aus Ihrer Sicht den Amerikanern bewusst, diese Gefahr?
    Chrobog: Das ist ihnen schon bewusst, aber sie haben ein Schwerpunktziel im Augenblick, das ist der Kampf gegen IS. Dem wird alles andere untergeordnet. Die Lage ist sehr diffizil in der Region. Sie müssen aufpassen, dass sie keinen Krieg gegen Assad führen jetzt, insofern ist hier auch die Haltung der Türkei gefährlich für sie. Denn das würde große Probleme auch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufwerfen. Aber wie gesagt, ihr Hauptziel ist die Bekämpfung des IS, alles andere wird zurückgestellt und die Kurden sind in diesem Fall hier das Opfer einer neuen amerikanischen Politik.
    Simon: Wie groß sehen Sie denn die Gefahr, dass man eines Tages sagen wird: Diese Carte blanche für die Türkei war der Anfang von noch viel größeren Problemen, als wir sie jetzt schon ohnehin in der Region haben?
    Chrobog: Das ist sicher die Gefahr, die sich hier ganz klar herausstellt. Die Amerikaner sehen es sehr einseitig, sie legen ihr einziges Ziel fest, was sie haben, alles andere wird vernachlässigt, das wird die Spannungen erhöhen. Und kann übrigens auch Rückwirkungen haben auf uns. Wenn die Türken jetzt den Krieg gegen die Kurden führen, dann kämpfen sie ja an mehreren Fronten. Sie haben auch eine innere Front in der Türkei. Es wird Anschläge in der Türkei geben können vom IS, aber eben auch von Kurden. Der Krieg flammt wieder auf, genau das möchte Erdogan wahrscheinlich sogar. Weil er damit natürlich auch sehr viel mehr Freiheit kriegt in der Türkei selbst, um eine Verfassung zu gestalten nach seinem Gusto.
    Wahrscheinlich strebt Erdogan Neuwahlen an
    Simon: Wir haben ja von der Bundeswehr 260 Soldaten im Süden der Türkei, bei den Patriot-Abwehrsystemen, da sind jetzt die Sicherheitsvorkehrungen erhöht worden. Sehen Sie die auch in unmittelbarer Gefahr?
    Chrobog: Das stellt schon ein Problem dar. Wenn jetzt von kurdischer Seite Auseinandersetzungen geführt werden gegen die Türkei, dann kommen wir natürlich in eine sehr konfliktträchtige Situation. Aber ich sehe im Augenblick noch keinen Anlass, jetzt diese Truppen zurückzurufen. Aber wir werden hier sehr aufpassen müssen, dass wir nicht in einen wirklichen Konflikt hineingeraten.
    Simon: Herr Chrobog, Sie sprachen vorhin an, dass innerhalb der NATO die Meinungen durchaus auseinandergehen. Die USA auf der einen Seite und etliche andere, darunter Deutschland, doch mit deutlicher Kritik am Vorgehen der Türkei. Diese sich abzeichnende Spaltung, ist da noch mehr Gefahr drin oder belässt es Deutschland beim Protestieren und Appellieren?
    Chrobog: Wir können nicht mehr machen, die Amerikaner haben ihre Truppen dort, die machen die Luftschläge, sie brauchen wie gesagt auch diesen Luftwaffenstützpunkt. Aber es ist natürlich nicht in unserem Interesse, dass vor allen Dingen der Friedensprozess in der Türkei auf diese Weise völlig zum Erliegen kommt. Ich sagte schon, Erdogan will hier natürlich eine neue Verfassungssituation schaffen, wahrscheinlich strebt er auch neue Wahlen an. Die Kurden, die ja durchaus mitgespielt haben, die HDP, die ja 13 Prozent bei den Parlamentswahlen gewonnen hat, wird jetzt völlig in die Ecke gedrängt, sie wird kriminalisiert, zwar vielleicht nicht als Partei verboten werden, aber man redet über die Immunität von Abgeordneten. Hier entsteht eine völlig neue Lage und damit geht ein Friedensprozess zu Ende, der sehr viel Stabilität geschaffen hat in den letzten Jahren. Übrigens auch durch ein sehr segensreiches Wirken von Erdogan in der Vergangenheit. Aber das Ziel der Türkei, jeden türkischen Staat [sic: gemeint ist kurdischen Staat] in der Region zu verhindern, hat hier Vorrang und hier kommen wir in eine sehr schwierige Lage. Wenn heute schon Reisewarnungen ausgesprochen werden, nach Istanbul zu fahren, dann können wir sehen, was sich hier entwickelt.
    Simon: Herr Chrobog, das, was Sie da beschreiben, lässt einen frösteln. Aber zugleich, nach dem, was ich von Ihnen vorher gehört habe, habe ich den Eindruck, wir können nur zugucken, oder?
    Chrobog: Wir können hier nur zugucken, wir können nur warnen. Wir können auch Einfluss auf die Türkei ausüben, jetzt diesen Friedensprozess doch weiter zu führen, aber ich bin hier sehr skeptisch.
    Assads Situation ist nicht so schlecht, dass er jeden Tag gestürzt werden kann
    Simon: Wie kann der denn aussehen, so ein Einfluss, der wirklich was bewirkt?
    Chrobog: Ja gut, die Türkei ist immerhin ein NATO-Partner und wir werden unsere Stimmen im Rahmen der NATO ja mal wieder zur Geltung bringen müssen. Aber das Hauptgewicht liegt hier natürlich bei den Amerikanern. Wenn sie jetzt im Hinblick auf ihre eigenen Interessen die Türken machen lassen, dann haben wir ein großes Problem.
    Simon: Könnte es am Ende sein, wenn wir noch mal über die Türkei hinausgucken, jetzt dieser Riesenkonflikt, der sich abzeichnet innerhalb der Türkei, auf der anderen Seite der IS, die Kurden auch im Nordirak, dass Baschar al Assad, der syrische Präsident, dass er der Gewinner dieser Situation sein wird?
    Chrobog: Ja, letzten Endes schon. Die Türkei sieht ihn zwar als Hauptfeind an und will ihn stürzen, aber die Sache um ihn herum stabilisiert sich. Aber andererseits hat sich ja – und das ist ja auch bekannt – inzwischen die Lage sehr verschlechtert, er hat nicht mehr genug Militär, was seinen Krieg führen kann. Das Einflussgebiet von Assad ist sehr, sehr begrenzt im Augenblick, er wird einen Kern, ein Rumpfgebiet wahrscheinlich unter Kontrolle behalten, aber seine Situation ist nicht so schlecht, dass man sagen muss, er kann jetzt jeden Tag gestürzt werden.
    Simon: Das war die Einschätzung von Jürgen Chrobog, dem ehemaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Kenner des Nahen Ostens. Vielen Dank, Herr Chrobog!
    Chrobog: Vielen Dank, Frau Simon!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.