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Tut der Seele gut

Über die Faszination von Deich und Wiesen, See und Himmel gerät leicht in Vergessenheit, dass es sich bei Eiderstedt in Nordfriesland nicht nur um grandios unberührte Natur handelt, sondern zugleich auch um eine Jahrhunderte alte Kulturlandschaft.

Von Stefan Siegert | 19.04.2009
    Die See - kaum ein Wort der deutschen Sprache mobilisiert so viele Gefühle, Bilder, Träume. Die See und ihre Seele, der Wind, sind allgegenwärtig in Eiderstedt. Kaum jemand weiß, wo Eiderstedt liegt. Aber jedes Kind kennt den Bierreklame-Leuchtturm von Westerhever oder St. Peter-Ording mit seinen Stelzenhäusern auf der Sandbank. Beide liegen am Westrand von Eiderstedt. Westen, das ist für die Eiderstedter alles, was außerhalb des Seedeichs liegt, also Vorland und Watt, Halligen, Inseln und Nordsee. Osten ist die durch niedrige Innendeiche in Kooge aufgeteilte Marsch zwischen Nordsee und Eider. Im Norden liegt Husum, im Süden Tönning, die beiden, für heutige Verhältnisse, kleinen Häfen. Die Fluchtlinien der von zahllosen Entwässerungsgräben durchzogenen Wiesen gehen bis an den Horizont; darüber ein großer Himmel mit Wolken, Möven und Zugvögelschwärmen. Auf Westen und Osten reduziert sich die Landschaft auch, wenn Jürgen Reck vom Restaurant und Museum "Roter Haubarg" in Witzwort über eine kulinarische Kostbarkeit Eiderstedts spricht:

    "Das Salzwiesenlamm ist ein Lamm, das im Überschwemmungsland geweidet hat. Es kann von den Halligen kommen, es kann von den Inseln kommen oder es kann westlich des Deichs gewesen sein. Alles was östlich des Deichs, also auf dem Land groß wird und wächst und frisst, ist das Salzgraslamm. Und der Unterschied liegt da drin, dass sich das Gras und die Kräuter verändern. Gras, was überschwemmt wird von Salzwasser, hat andere Kräuter wieder als Gras, was nicht überschwemmt wird. Und das Salzgras östlich des Deichs bekommt Salz nur aus dem Lufteintrag. Es ist also weniger salzig und hat etwas andere Kräuter."

    Wo man heute das Salzwiesenlamm gart - und dazu immer etwas Salzgrasheu in den Ofen gibt -, sind seit etwa Christi Geburt Menschen dabei, der See das Land abzutrotzen. Wie heute noch auf den Halligen, schützte man die Häuser zunächst nur mit mühsam aufgeschütteten Warften vor der Gewalt der Elemente. 1125 entstand der erste Deich. 1612 deichte man die Inseln Utholm, Eiderstedt und Everschop ein, nannte das Ganze Dreilande, das heutige Eiderstedt.

    Auf dem Seedeich grasen Schafe. Bei Touristen beliebt sind um Ostern herum besonders die kleinen Lämmer mit ihren zitternden Stummelschwänzchen. Die Schafe halten das Gras kurz auf dem Außendeich, auch das ist Küstenschutz. Über der Faszination von Deich und Wiesen, See und Himmel gerät leicht in Vergessenheit, dass es sich hier nicht nur um grandios unberührte Natur handelt, sondern zugleich um Jahrhunderte alte Kulturlandschaft, zwei Sphären, die in Eiderstedt zur Zeit in heftigem Streit miteinander liegen. Volquart Hamkens, Vorsitzender des Naturschutzvereins Eiderstedt, versucht zu vermitteln:

    "Von der Seite her ist Wasser hier ein sehr sensibles und ganz wichtiges Thema. Das hat nicht nur mit dem Meer zu tun. Wir müssen in die Nordsee entwässern oder hier in die Eider zum Teil. Das hängt von den Wasserständen ab, das hängt davon ab, ob es frei raus laufen kann, ob wir es pumpen können. Und dann ist das Wasser natürlich entscheidend für Ackerbau und dann ist das Wasser entscheidend für die gesamte Vogelwelt in Eiderstedt."

    Die einen brauchen gut entwässerte Flächen für Getreide und Mais. Den anderen kann es für ihre Trauerseeschwalben, Uferschnepfen und Kiebitze nicht feucht genug sein. Die Naturfreunde sehen das Ganze nach wie vor eher romantisch:

    "Wenn wir hier im Herbst und Winter die Gänse haben, wenn Tausende von Gänsen, Nonnengänse und Ringelgänse hier auf einer Weide sitzen, wenn man da sieht und hört, dann merkt man Natur, dann fühlt man Natur. Und das ist etwas, das man in den Großstädten so nicht mehr wieder findet."

    Aber der weltweite Zugvogelbestand hat sich in den vergangenen 15 Jahren vervierfacht. Bauern wie Georg Jans aus Westerhever beklagen die Vernichtung ihrer Grünflächen:

    "Ich habe Erfahrungen mit Wildgänsen aus meiner Kinderzeit. Wir haben hier vorne, im Süden von unserem Ort eine Fläche, die ist immer von Gänsen angeflogen gewesen. Damals war auch die Landwirtschaft profitabler, das hat man geschluckt. Und - ich bin auch Naturfreund, seit frühesten Beinen. Aber jetzt - im dritten Jahr! - , die haben sich ja derart vermehrt: Das sind Kotwüsten."

    "Die Zugvögel hier. Wenn die im Herbst kommen, die Gänse beispielsweise, und im Frühjahr wieder wegziehen - Eiderstadt ist immer am weitesten vorgelagert und am einfachsten und immer am besten zu erreichen. Aber die brauchen nun mal Feuchtigkeit, die brauchen Wiesen, die brauchen all die Dinge, die auch die Landwirtschaft hat. Und Vogelschutz fällt nun mal zusammen mit landwirtschaftlichen Flächen. Der Vogel möchte in der Fläche satt werden - und die Landwirte möchten das auch. Und wir müssen sehen, dass wir sie mitnehmen alle, wenn's geht. Alle, die damit zu tun haben."

    Gemeinsinn hat eine lange Tradition in Eiderstedt. Der Deichbau prägte die Menschen bis hinein in die Besitzverhältnisse. Wer nicht deichen konnte, musste weichen. Wer den Deich instand hielt, dem gehörte das Land dahinter. Kooperation tat Not, buchstäblich bei Strafe des Untergangs. Feudalherren hatten da keine Chance. Zwischen Husum und Tönning gab es nur freie Bauern. Ihre großen Häuser auf den Warften, die Haubarge, wirken noch heute stolz, wehrhaft und praktisch. Um sie herum vom steifen Nordwest verbogen, stehen meist Bäume, gut nicht nur für den Wetterschutz, sondern auch, wie Nicolai Rehder vom Johanniskoog weiß, für die Gesundheit der Hausbewohner:

    "All die alten Warften haben meistens sehr alte und meistens sehr tief wurzelnde Bäume, die immer wieder erneuert wurden. Fast immer Eschen, Kastanien, und das waren ja die so genannten Fiberbäume. Diese tief wurzelnden Bäume zogen ja das Grundwasser aus der Warft, so dass die Fieberanfälligkeit reduziert wurde, eben weil das Grundstück eben trockener wurde."

    "Es wurde von der Natur aufgezwungen, so zu bauen. Man hatte ja eine Landschaft, die sehr schwierig zu bewirtschaften war. Es war ja ein sehr tiefgründiger Boden gewesen, ehemals Überschwemmungsland und erst durch die Eindeichung war überhaupt eine Trockenlegung in dem Sinne möglich gewesen. Und um Häuser zu bauen, brauchte man ein Fundament und man brauchte eigentlich auch einen Hochwasserschutz, und das war teuer zu bauen, und man musste die Warften sehr klein bauen, von der Fläche her so klein wie möglich. Und daraufhin hat man sich entschlossen, die Häuser die benötigt wurden zur Landwirtschaft, nämlich die Scheune, der Stall und das Wohnhaus, so dicht wie möglich zusammen zu bauen. Die dichteste Form ist: Alles unter einem Dach."

    Wenn die Warft während großer Fluten für längere Zeit von Wasser umgeben war, brauchten Mensch und Vieh Trinkvorräte, denn all das viele Wasser war salzig. Die Zisternen nützten nur, solange es geregnet hatte. Man fand eine Alternative, eine wahres Wunder an Nachhaltigkeit, den Tauteich. Jahrhunderte lang vergessen, ist er auf Eiderstedt heute wieder zu bestaunen.

    "Während die Zisternen auf den Halligen ja tiefe, trichterförmige Aushöhlungen sind, bis vier Meter tief, sind die Tauteiche elipsenförmig, schmal unten, breit oben. Sie wurden angelegt mit einer dicken Tonschicht verschmiert. Dann wurde Schilf dagegen gestellt, dann wieder Ton und dann eben eine zweite Lage Schilf auf diese zweite Lage Ton. Das hat man denn ganz langsam abgebrannt, und es entstand eine Art von Glasur. Praktisch sind die Tauteiche ein riesiger Topf. Durch die Abkühlung nachts kondensiert der Tau, schlägt sich auf dieser Außenhaut des Tauteichs nieder. Umgekehrt durch die doppelte Reetschicht, die doppelte Lehmschicht, entweicht die Erdwärme nicht. Selbst in den trockensten Jahren, ich kann mich an1947 erinnern, wo alles Vieh auf Grund der Trockenheit nichts mehr zu fressen hatte, alle Gräben waren leer, alle Kuhlen waren leer - der Tauteich hat immer seinen konstanten Wasserstand behalten. "

    1632 erlebte Eiderstedt die größte Sturmflut. Auf vielen Warften zerschlug die tobende See das Mauerwerk der Haubarge. Aber die starken Eichenständer, der Kern ihrer Konstruktion, blieben stehen; die Menschen überlebten in den oberen Stockwerken. Die vorletzte Sturmflut, 1962, verpasste Georg Jans infolge Landwirtschaftslehre außerhalb. Eiderstedt blieb unversehrt. Bei der letzten, als der Seedeich brach und der Ülvesbüller Koog voll lief, war er dabei. Jans gehört offenbar zur Sorte Küstenbewohner, die von Sturmfluten weniger in Angst und Schrecken versetzt werden, als dass sie das Praktische im Auge behalten.

    "Die Sturmflut 76, die haben wir ja richtig erlebt. Ich weiß noch, ich war vormittags noch zum Deich und hab gestrandetes Holz nach'n Innendeich rübergeholt. Dann haben wir gegessen, und kommen nach dem Mittag raus und kucken zur kleinen Stalltür raus und sehen den kriechenden Nebel über dem Deich. Das's ja komisch, dass der Nebel so über den Deich kriecht! Bis ich nach kurzer Zeit gewahr wurde: Das sind ja die Wellen, die drüber hin gehen."

    "Unser Nachbarkoog, der Tümlauer Koog, er lief nicht voll, aber Mensch und Vieh wurde evakuiert. Ähnlich wie beim Schimmelreiter kamen nachts die Leute mit ihrem Vieh hier vorbei getrieben. Das Vieh wurde dann hier, im Johanniskoog einquartiert, und die Menschen mussten mehrere Monaten bei Verwandten in Garding wohnen. Und erst als die Bundeswehr diesen schießschartenartig ausgehöhlten Außendeich wieder flickten, konnten sie wieder in ihre Höfe zurückziehen."

    "Das war ja auch nachts, die Flut. Und dann sahen wir am nächsten Tag die Bescherung von den Halligen. Da lagen die Wäschekommoden, da lagen die Weckgläser, heil, der ganze Hausstand lag bei uns am Deich. Überlebt haben die ja alle, auf den Böden."

    Als touristisch-weißen Sandstreifen zwischen Grünland und Wasser gibt es "den Strand" in Eiderstedt bestenfalls in St. Peter-Ording. Strand, das ist für Georg Jans und die Seinen das Land vor dem Seedeich. Je nach Tiede ist es grün, matschig, von schnurgeraden Gräben zerfurcht - oder überflutet.

    "Der letzte Satz früher, die Aussegnung: Und Gott segne unseren Strand, das hat früher dazugehört. Wie mittags die Schulzeit vorbei war, im Trab nach Hause, vorne rein, den Ranzen hier rein in die Küche, hinten wieder raus - und hin zum Strand!"

    "Angetrieben ist ja alles, was schwimmt. Anfang der dreißiger Jahre waren es die Rotweinfässer - Eichenfässer! Aber meine erste Apfelsine: Gesehen und gegessen - vom Strand!"

    Eine Ewigkeit weht der Wind auf Eiderstedt, frisch und salzig, voll von Meer. Möven stehen im Wind, Schwalben durchkreuzen ihn segelnd. Den Menschen erscheint der Wind als Erzählung und Melodie ihres Lebens unterm selben Himmel mit der See.

    "Heulen muss der Wind ums Haus, das gehört dazu. Das ist die See, die Natur die Gewalt. Das sind die Elemente."