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TV-Doku
"24 Stunden Jerusalem" - zwischen Traum und Albtraum

24 Stunden in der verrücktesten Stadt der Welt, 24 Stunden Leben in Jerusalem. In einem Ausnahmeprojekt von arte und dem Bayerischen Rundfunk haben 60 Filmteams 90 Protagonisten in ihrem Alltag in der Heiligen Stadt beobachtet. Gesendet wird ununterbrochen bis Sonntag, 13. April, 6:00 Uhr früh.

Von Maria Ossowski | 11.04.2014
    Eine Stadt, seit 70 Jahren im Ausnahmezustand. Oder besser: seit 2.000 Jahren. Eine Stadt, die ständig in den Nachrichten ist, eine Stadt, weit entfernt von jeder Normalität. Eine Stadt der Gefahren, eine Stadt der Ängste und: eine traumhaft schöne Stadt mit 800.000 Menschen, die hier leben und sterben, beten und diskutieren, einkaufen und arbeiten, träumen und kämpfen, streiten und lachen, leiden und lieben. Trotz der Politik und mit der Politik. Zwei Friedensaktivisten erklären Jerusalems Wahnsinn: "Ob man es mit jüdischen oder muslimischen Augen betrachtet - hier ist der Punkt, wo die tektonischen Platten des Westens, des Islam und der jüdischen Welt aufeinandertreffen. Hier berühren sie sich. Suchen Sie einen Kampf der Kulturen? Bitteschön! Hier haben Sie ihn - in drei Dimensionen."
    20 Israelische, 20 palästinensische und 20 europäische Teams haben 90 Menschen in Jerusalem einen Tag lang im vergangenen Jahr begleitet. Den palästinensischen Historiker, dessen Haus bis vor kurzem eine Mauer geteilt hatte, die Archivarin in Yad Vashem, die täglich Akten des Massenmordes ordnet, den palästinensischen Hotelangestellten, den israelischen Siedler, die Franziskanermönche in der Grabeskirche, den komponierenden Pater und und und ... und auch Ruth Bach aus Berlin, einst von den Nazis verjagt, hängt die über 90-Jährige noch immer an deutscher Literatur: "Natürlich Thomas Mann - daran erinnere ich mich sehr gut. Ich hatte eine Tochter von ihm kennengelernt in New York und wir haben uns öfter getroffen. Sie hat mir oft von ihrem Vater erzählt - das war Monika. Und dann hat sie mir auch erzählt, dass sie die Kleine von den fünf Kindern war, und dass ihr Vater da schon manchmal Bonbons verteilt hatte und er dann keins mehr hatte, als sie dran war. Darüber beklagte sie sich bei ihrem Vater, der ihr dann sagte, sie könne sich nicht rechtzeitig genug an die Ungerechtigkeiten dieser Welt gewöhnen."
    Maximale Unterschiede auf minimalem Raum
    Die Ungerechtigkeiten in Jerusalem sparen die Filmemacher nicht aus. Politik begleitet den Alltag jedes Menschen in dieser Stadt. Der Siedler erzählt, dass er darauf warte, endlich auf dem Tempelberg, dort, wo die Al Aksa Moschee steht, den jüdischen Tempel wieder zu errichten. Im palästinensischen Flüchtlingscamp Shufat gedenken Palästinenser inhaftierter Angehöriger mit Fotos und Trommeln ...
    Jerusalem, das sind maximale Unterschiede auf minimalem Raum. Nirgendwo wird das deutlicher als in der Grabeskirche, wo Regie und Kamera einen italienischen Franziskanermönch begleiten.
    Wer 24 Stunden eintaucht in diese Stadt, muss alle Vorurteile fahren lassen. Es scheint, als hätten alle das Recht, hier zu leben und die Fehler der Gegner zu beklagen. Das ging auch Regisseur Volker Heise so, der für dieses Projekt sogar nach Jerusalem gezogen ist: "Drei Jahre lang war ich immer hin- und hergeworfen: Wenn man in Ramallah ist, hört man die Geschichten der Palästinenser, und in Tel Aviv oder in Jerusalem hört man die Geschichten der Israelis. Irgendwann will man diese Geschichten gar nicht mehr hören. Ich musste aber trotzdem irgendwann eine Haltung dazu finden, die nicht parteiisch ist. Die Wunden, die diese beiden Gesellschaften geschlagen haben, kann man eben nicht wegdiskutieren und muss man erst mal so stehenlassen."
    Fast wäre das Projekt gescheitert
    24 Stunden Berlin war eher ein Blick auf die Oberfläche einer pulsierenden Stadt, in Jerusalem ist hingegen alles verbunden mit Geschichte und Politik. Und der politische Konflikt hätte das Projekt fast scheitern lassen. Die Palästinenser haben kurz vor dem Drehtag zum Boykott aller palästinensischen Teams aufgerufen, mit Drohungen. Begründung: Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, sie hätten sich arrangiert mit der Besetzung der Stadt.
    Produzent Kufus musste alles absagen und neu beginnen, ohne israelische und palästinensische Produzenten, das heißt auch ohne deren Co-Finanzierungen. Es sei sein größter Fehler gewesen, so Thomas Kufus, sich nicht die Erfahrungen großer internationaler Organisationen zu nutze gemacht zu haben: "Da dachten mit unseren Partnern, die wir dort hatten, geht das, weil die ja Bescheid wissen. Das muss man in Zukunft anders machen. Und um den Boykott dann zu durchbrechen, funktioniert das, was für mich in meinem Berufsleben immer wichtig war: der persönliche Kontakt. Man muss da bleiben und den Leuten das Gefühl geben, dass man wirklich etwas will - auch wenn an bestimmten Tagen nicht viel passiert (...)."
    Ein Kunstwerk des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
    Schließlich haben Heise und Kufus es doch noch geschafft. Im April 2013 haben sie gedreht, seit 12. April 2014 läuft 24 Stunden Jerusalem.
    Wer es irgend einrichten kann, sollte so lang wie möglich eintauchen. 24 Stunden Jerusalem ist ein Kunstwerk auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das Gesamtbudget von 2,6 Millionen entspricht übrigens den Kosten einer etwas aufwändigeren "Wetten Dass"-Ausgabe.