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Üben, üben, üben

Katastrophenschutz. - Japan ist wegen seiner Lage entlang des Pazifischen Feuerrings besonders von Erdbeben bedroht. Ein schweres Beben im Ballungsraum Tokio kann direkt Zehntausende Opfer kosten und Schäden in Billionen Höhe verursachen. Die Japaner haben deswegen 2006 ein Frühwarnsystem entwickelt, das von der Industrie und inzwischen auch von der Bevölkerung genutzt werden kann.

Von Jenny von Sperber | 21.01.2011
    Vorhersagen kann man Erdbeben nicht. Trotzdem können die Japaner heute in vielen Fällen rechtzeitig gefährliche Industrien abschalten. Sie halten Aufzüge an oder bringen Schnellzüge zum stehen, bevor die zerstörerischen Stöße eintreffen. Dahinter steckt ein raffiniertes System, das die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Stoßwellen nutzt, die ein Erdbeben auslöst. Die schnelleren P-Wellen werden von Seismometern überall im Land registriert und so kann innerhalb von vier Sekunden vor den gefährlichen S-Wellen gewarnt werden, die folgen. Je nachdem wie weit entfernt ein Ort vom Epizentrum liegt, kann die Warnung drei Sekunden oder auch 40 Sekunden vor dem Beben eintreffen. Für das automatische Abschalten von industriellen Anlagen genügend Zeit. Aber können so wenige Sekunden auch der Bevölkerung helfen?

    "Die größte Sorge war, dass Leute die Bedeutung des Frühwarnsystems nicht richtig verstehen und deshalb nicht wissen, wie sie reagieren sollen, wenn sie diese Warnung bekommen. Möglicherweise geraten sie in Panik. Es besteht die Gefahr, dass dann größere Schäden entstehen als entstanden wären, wenn diese Informationen nicht verbreitet worden wären."

    Kimiro Meguro, Ingenieur und Professor für städtischen Katastrophenschutz an der Universität Tokio, hat sich trotzdem dafür eingesetzt, dass auch die allgemeine Bevölkerung die Warnungen bekommt. Über Handy, Radio, Fernsehen oder mit einem speziellen Warngerät daheim. Damit traut er den Menschen seines Landes viel zu, denn jeder muss ganz genau wissen, wie er die verbleibenden Sekunden vor einem Beben am besten nutzt. Zum Überlegen ist es dann zu spät. Die Menschen müssen sich also langfristig vorbereiten; Ihre Häuser und Möbel sichern, Fluchtpunkte ausmachen und üben. Das wichtigste dabei sei Phantasie, erklärt Meguro:

    "Wir nennen das Katastrophen-Imagination. Wenn ein Erdbeben kommt, ändern sich die Dinge, die um einen herum passieren, und die Dinge, die man tun muss, je nach Aufenthaltsort und Rolle, die man gerade einnimmt. Auch die eigene Kleidung ist entscheidend. Hat man etwas an, bei dem die Schultern frei sind? Trägt man Turnschuhe oder hohe Absätze? Die Bedingungen sind immer anders. Man muss diese Dinge genau beachten und dann überlegen, was im Katastrophenfall um einen herum passieren würde. Wenn man es sich nicht konkret vorstellen kann, kann man sich auch nicht darauf vorbereiten."

    Doch die Vorstellungskraft der Menschen läßt zu wünschen übrig, bemängelt der Professor. Viele Menschen verdrängen die tödliche Gefahr oder suchen nach einem Masterplan, dem sie blind folgen können. Auch fehle bisher eine öffentliche Diskussion auf dieser Ebene. Solange nur Seismologen und Politiker auf Konferenzen für Katastrophenschutz diskutieren sei den Menschen noch lange nicht geholfen. Meguro möchte die Bewohner Tokios ermutigen, sich ihre ganz persönlichen Situationen im Falle eines Erdbebens vorzustellen. Deswegen hat er ein Computerprogramm entwickelt, das alle 23 Stadtbezirke und 5070 Gebiete Tokios in einer Datenbank erfasst. Der Nutzer kann nun virtuell durch diese Gebiete laufen oder darüber hinweg fliegen. Dann kann er die Gebiete auf drei Faktoren prüfen: Wie groß ist die Einsturzgefahr der Gebäude? Wie leicht breiten sich Brände aus? Und wie weit entfernt ist mein Evakuierungspunkt? Meguro:

    "Das ist ein Programm, anhand dessen die Leute einschätzen können, wie gefährdet ihr Gebiet im Falle eines Erdbebens ist. In diesem System kann man einzelne Häuser erkennen. Die Anwohner können also sagen: 'Das ist mein zu Hause.' Das erleichtert die Vorstellung."

    Außerdem kann der Nutzer sein eigenes Zimmer virtuell nachbauen und es anschließend von einem Erdbeben erschüttern lassen. Gegenstände fliegen aus den Schränken, Möbel fallen um, Fenster bersten. So wird jedem Menschen deutlich, welchen Schaden ein größeres Erdbeben bei ihm anrichten würde und wo er sich möglichst nicht aufhalten sollte, sobald eine Warnung eintrifft. Solange die Menschen das Frühwarnsystem zum Anlass nehmen, sich langfristig auf Erdbeben vorzubereiten, ist es auch für die allgemeine Bevölkerung ein großer Gewinn erklärt der Professor, während er im Regen ein gefährdetes Stadtviertel inspiziert:

    "Es ist nicht das Erdbeben, das die Menschen tötet. Es sind die einstürzenden Gebäude und umfallenden Möbel, die Menschen töten. Deswegen sollten Sie sich zunächst darum kümmern, dass Sie gut vorbereitet sind, damit Sie das Erdbebenfrühwarnsystem effektiv nutzen können."

    Denn erst wenn sie Häuser und Möbel bestmöglich gesichert haben und in allen möglichen Situationen ein Beben-Szenario durchgespielt haben, wissen die Menschen, was sie in den wenigen Sekunden nach der Warnung tun sollen.

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