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Über Bilder und Beobachter

Was sind Bilder? Was vermitteln sie? Und wie wirken Bilder auf den Betrachter? Die Aufsätze des amerikanischen Anglisten und Kunsthistorikers Tom Mitchell befassen sich mit diesen Fragen und gelten als Klassiker der bildwissenschaftlichen Forschung. Jetzt hat der Suhrkamp Verlag eine Sammlung von Mitchells verstreuten Aufsätze unter dem Titel "Bildtheorie" zusammengefasst.

Von Thomas Kleinspehn | 25.09.2008
    Zwei ältere und erfahrene Wissenschaftler treffen zum ersten Mal 2005 auf einem Kongress in Wien zusammen. Beiden geht um die Rolle der Bilder in unserer Kultur und deren Verhältnis zur Sprache. Auf den ersten Blick markieren ihre unterschiedlichen Positionen entscheidende Differenzen. Der eine, der Kunstwissenschaftler Gottfried Boehm, spricht von "iconic turn", der andere, der Anglist und Kunsthistoriker Tom Mitchell, spricht von "pictural turn". Diese Unterschiede dürften sich jedoch letztlich nur einem akademischen Publikum erschließen.

    Für den normalen Beobachter, der sich in einer Flut von Bildern orientieren muss, bleiben sie eher marginal. Bisher waren in Deutschland die Arbeiten des in Basel lehrenden Bildwissenschaftlers Boehm und nur kleinere Arbeiten von Mitchell bekannt. Jetzt hat der Suhrkamp Verlag eine Sammlung von Mitchells verstreuten Aufsätze unter dem Titel "Bildtheorie" zusammengefasst. Ein etwas irreführender Titel, gibt es doch in den USA schon seit 1994 einen Band "Picture Theory", der aber keineswegs identisch ist mit dem jetzt auf Deutsch vorgelegten Buch. Und das umschreibt bereits das Ärgernis, das dieser Band auch darstellt. Denn den Leser erwartet ein Sammelsurium von Mitchells Arbeiten, deren Zusammenstellung auch der Herausgeber Gustav Frank nicht vermittelt und deren Inhalte sich über die gut 450 Seiten häufiger wiederholen.

    Dabei ist Mitchell durchaus ein wichtiger Autor, der schon seit den 80er Jahren einige Anstöße für die Diskussion um die visuelle Kultur gegeben hat. Er war es, der den Perspektivwechsel von der linguistischen zur visuellen Wende eingeleitet hat. Waren Wissenschaftler bis dahin noch weitgehend davon überzeugt, dass unsere Kultur vor allem von der Sprache bestimmt wird, so stellte Mitchell jetzt unsere von Bildern überflutete Welt in den Vordergrund. So wurde er zu einem der Begründer einer Theorie der visuellen Kultur. Wobei diese Theorie und die Realität des Visuellen bei Mitchell nicht selten schwer zu trennen sind. An vielen Stellen fragt man sich, ob es eigentlich um die Wirklichkeit geht oder doch nur um theoretische Finessen. Das liegt aber in seinem theoretischen Ansatz und in seinem Argumentationsstil selbst begründet.

    Zunächst wollte ich nicht behaupten, das moderne Zeitalter sei in einzigartiger Weise besessen vom Sehen und der visuellen Repräsentation. Vielmehr wollte ich die Vorstellung einer "Wendung zum Visuellen" oder zum Bild als einen Gemeinplatz anerkennen, als etwas, das salopp und gedankenlos über unsere Zeit gesagt und sowohl von denen, die diese Vorstellung bejahen, als auch von denen, die sie ablehnen, gewöhnlich mit unreflektierter Zustimmung akzeptiert wird.

    Mitchell versucht nun den Spagat, gegen den Mythos einer "Visuellen Kultur" anzugehen, und sie dennoch gleichzeitig als Hauptfokus neu festzuhalten. Für ihn ist das Visuelle keine neue Erscheinung der Moderne.

    "Der Pictorial oder Visual Turn beschränkt sich also nicht auf unsere Zeit. Es handelt sich um eine wiederholt auftretende Figur, die in unserer Zeit eine sehr spezifische Form annimmt, aber als Schema anscheinend in einer unübersehbaren Vielfalt von Umständen auftreten kann. Ein kritischer und historischer Gebrauch dieser Figuren bestünde darin, sie als diagnostisches Instrument für die Analyse jener spezifischen Momente einzusetzen, da ein neues Medium, eine technische Erfindung oder eine kulturelle Praxis Symptome von Panik oder Euphorie in bezug auf "das Visuelle" hervorruft."

    Aus der Sicht von Mitchell geht es nicht darum, sich ausschließlich auf einzelne Medien oder einzelne Praktiken zu kaprizieren und sie isoliert zu betrachten. Vielmehr will er sie in die Gesamtheit der visuellen Kultur einordnen, die es nicht nur im Westen seit Jahrhunderten gegeben habe.

    Interessant seien die einzelnen Verlagerungen und Verschiebungen und nicht die neuen Erfindungen von Fotografie, Film oder Computer. Nur in diesem Sinne interessiert es ihn, nach der Bedeutung visueller Medien zu fragen.

    Ich verstehe den Gebrauch dieses Ausdrucks als ein Kürzel, um auf den Unterschied (etwa) zwischen Photographien und phonographischen Aufzeichnungen hinzuweisen, aber die selbstgewisse Behauptung, "die" visuellen Medien seien wirklich eine besondere Klasse von Dingen oder es gebe etwas wie ein ausschließliches, rein visuelles Medium, weise ich zurück. Ich schlage vor, als Gegenaxiom den Gedanken zu erproben, dass alle Medien komposite Medien sind, und zu sehen, wo dieser Gedanke uns hinführt.

    Mitchell führt er dazu, darüber nachzudenken, welche Praktiken der Rezeption sich im Zusammenhang mit einem bestimmten Medium entwickeln, welche Zeichen oder Codes spezifische Produktionen und Konsumtionen hervorrufen. Dieser Befreiungsakt von einer strengen Wirkungstheorie, die sich letztlich nur vorstellen kann, Bilder und Symbole transportierten lediglich eine bestimmte Aussage, unabhängig davon, auf welchen kulturellen oder individuellen Kontext sie treffen, ermöglicht es Mitchell, das Visuelle in den gesamten kulturellen Kontext zu stellen.

    Diese Annäherung würde visuelle Kultur und visuelle Bilder als "Vermittler" in sozialen Transaktionen behandeln. Visuelle Kultur würde ihre primäre Bühne dann in dem finden, was Emmanuel Lévinas das Gesicht des Anderen nennt der Begegnung von Angesicht zu Angesicht, der eindeutigen und festen Disposition, die Augen eines anderen Organismus zu erkennen. Als vermittelnde oder "subalterne" Entitäten sind diese Bilder die Filter, durch die wir andere Leute erkennen und natürlich auch verkennen. Und das bedeutet, dass die "soziale Konstruktion des visuellen Feldes" ständig neu inszeniert werden muss als die "visuelle Konstruktion des sozialen Feldes", als unsichtbarer Schirm oder als ein Gitterwerk aus scheinbar unvermittelten Figuren, das die Effekte der vermittelten Bilder möglich macht.

    Solchermaßen als Prozess verstanden, sieht man leichter, dass sich Bilder ständig wandeln können und ihre Bedeutung ändern. Eine Puppe oder ein Teddybär kann für ein Kind zum Beispiel ein fast lebendiger Freund oder Begleiter sein oder auch nur eine nüchterne Staffage innerhalb eines Raums. Das gilt analog für alle Bilder. Eine derartige Erweiterung des Bildbegriffs, wie sie Mitchell vornimmt, führt zu einem umfassenden Verständnis des Visuellen, wie sie schon in den zwanziger und dreißiger Jahren von Panofsky oder Warburg begonnen wurden. Sie überlässt Bilder nicht allein der Kunst- oder neuerdings der Medienwissenschaft, sondern begreift sie als Teil einer größeren kulturellen Praxis.

    Die Debatte um "iconic turn" und "pictural turn" führt deshalb implizit auch zur Kontroverse zwischen Elitekultur und Alltagskultur. Mitchell will beides verbinden, fühlt sich jedoch deutlich in der Defensive, wenn er immer wieder meint, seinen Ansatz methodisch und theoretisch begründen zu müssen. Das mag einen Sinn machen, wenn er sich in verschiedenen Medien oder in Diskussionen äußert. In einem Buch zusammengebunden, wirkt manches doch eher redundant, vor allem dann, wenn sich die Formulierungen in den einzelnen Kapiteln gelegentlich auch wiederholen. Vielleicht geht es auch nicht wirklich darum, einen neuen "turn" zu propagieren, sondern die durchaus wichtigen Problematisierungen des amerikanischen Kulturtheoretikers ernst zu nehmen und sie in konkrete Analysen zu überführen. Arbeiten von Hans Belting oder Horst Bredekamp in Deutschland, von Georges Didi-Hubermann, Jean-Claude Schmitt oder auch Bruno Latour und Jonathan Crary weisen in diese Richtung.

    Die im Suhrkamp Verlag veröffentlichte "Bildtheorie" von Mitchell lässt jedoch nur einiges davon erahnen, etwa in dem Kapitel über "Metabilder" oder in dem spannenden Gespräch über den "Schrecken der Bilder" mit dem inzwischen verstorbenen palästinensischen Kulturtheoretiker Edward W. Said. Ansonsten hat der Verlag dem Pionier einer interdisziplinären Bildwissenschaft und seinen deutschen Lesern mit diesem schwerfälligen und umfangreichen Band keinen Gefallen getan. Man hätte ihn auf die Hälfte zusammenkürzen können. So kann man nur auf "What do pictures want" warten, eine weitaus konkretere Studie Mitchells, die in diesem Herbst im Beck Verlag erscheinen soll.

    W. J. T. Mitchell: Bildtheorie
    Suhrkamp, Frankfurt 2008, Euro 32,80