Samstag, 20. April 2024

Archiv


Über das Immergleiche und die Veränderung

Philosophische Reflexionen nicht in kruder Wissenschaftssprache, sondern verpackt in kleine Beobachtungen sind Cees Nootebooms Stärke. Diese "leichten Erzählungen" enthält "Roter Regen".

Von Simone Hamm | 04.02.2008
    Roter Regen fällt auf Menorca, der Wind trägt den Sand aus der Sahara übers Meer. "Roter Regen - Leichte Erzählungen" heißt das neue Buch von Cees Nooteboom.

    Die ersten Erzählungen spielen auf Menorca, der Insel, auf der Nooteboom seit vielen Jahren den Sommer verbringt. Ein verwilderter Garten wartet auf ihn. Und er wird zum Gärtner, jätet, harkt, fegt, gießt, schneidet. Die streunende Katze findet sich wieder ein. Die Bäume sind ein wenig gewachsen, das Brombeergestrüpp noch mehr. Sonst ist alles wie im vorhergehenden Jahr und wie im vorvorhergehenden. Wir begegnen alten Bekannten aus Nootebooms Essayband über Menorca und Spanien "Die Insel, das Land": der herrenlosen Katze, dem lautlosen, spindeldürren, uralten Briefträger, der die Insel, über die er jeden Tag viele Kilometer läuft, nie verlassen hat.

    Nooteboom sinnt nach über das Immergleiche, Immerwiederkehrende. Und auch über Veränderung. Vor allem seine eigene Veränderung, darüber also, wie er sich auf der Insel verändert. Bei Rimbaud war das Ich prinzipiell ein anderer, bei Nooteboom wird das Ich auf Menorca ein anderes.

    Überhaupt ist Nooteboom auf jeder Reise ein anderer geworden. Seine Seelenwanderung findet zu Lebzeiten statt. Reisen ist also Begegnung mit sich selbst als anderem. Und natürlich auch profaner, die Begegnung mit dem Anderen, Unbekannten, Neuen - eine Begegnung, nach der man süchtig werden kann. Nooteboom nennt das seine Reisesucht. Das begann, als Nooteboom als Schüler von Holland nach Belgien radelte:

    "Während jener ersten Reise erlebte ich, wie auch immer eine erste Konfrontation mit dem anderen, eine Konfrontation, die ich für den Rest meines Lebens unaufhörlich weiter suchen sollte."

    Heimliches Ziel allen Reisens könnte es sein, in einem anderen Land zwischen all den anderen zu verschwinden.

    Nootebooms Reflexionen über Veränderungen, seine philosophischen Betrachtungen übers Reisen, übers Heimkommen, über Zeit und Raum und übers Älterwerden - auch das eine lange, endliche Reise - lesen sich tatsächlich wunderbar leicht und sind doch tiefgründig.

    "Die Illusion besteht daraus, dass man an all diesen Orten, die man erstmals aufsucht oder zu denen man zurückkehrt, noch ein zweites Leben hat, das zeitgleich mit dem anderen verläuft. Reisen ist im besten Fall auch eine Form des Meditierens, und das geht ... in Venedig genauso gut wie ... am Rand der Sahara. Im Gegensatz zu dem, was ständig behauptet wird, ist die Welt nach wie vor unermesslich groß für den, der mit sich selbst auf Reisen geht."

    Das ist Nootebooms Stärke: Philosophische Reflexionen nicht in kruder Wissenschaftssprache, sondern verpackt in kleine Beobachtungen. Denn, so schreibt er, auch das Geringste sei der Mühe des Aufschreibens wert. So sind kurze "leichte" Geschichten entstanden. Die gelegentlich wie Essays wirken.

    Nooteboom fragt sich, warum er sich an dieses erinnere und an jenes nicht. Ist sein Gedächtnis zu voll geworden? Er kommt zu dem Schluss, dass man die Vergangenheit wie die Zukunft erschaffen müsse. Wo sind die Personen geblieben, an die er sich nicht mehr erinnert? Sind sie es, die manchmal in den Träumen vorkommen? Haben sie Spuren hinterlassen, winzige Partikel, verborgene Assoziationen? Wo sind die Mädchen, in die er sich einmal verliebt hatte? Er sucht sie in der Gestalt alter Damen. Und findet sie doch nur in seiner Erinnerung.

    Bei Nooteboom gibt es keinen schalen Altherrensex, da verjüngen sich nicht alte Kerle mit Hilfe junger Mädchen.

    "Ich bin jetzt 74 ... Das erste Mal, als mir das schlagartig bewusst wurde, war der Moment, als ein attraktives Mädchen vor mir in der Straßenbahn aufstand. Ich verstand nicht, was sie wollte und als ich es verstanden hatte, setzte ich mich, um ihr den Gefallen zu tun, aber glücklich war ich nicht ... Mich traf die Tatsache, dass sie bereits festgestellt hatte, dass ich alt war, als mir das noch gar nicht in den Sinn gekommen war."

    "Roter Regen" enthält viel Biografisches: Nootebooms Liebe zu Pflanzen und Katzen, sein Rückenleiden, die erste Haschischpfeife, die erste Schiffsreise, die ersten Tagebücher. Er beschreibt seine Nachbarn auf Menorca und in der Provence, seine Reisebegleiter, seine Freunde. Die Frauen, die er liebte und um die er litt, lernen wir nicht kennen. Da belässt er es bei dezenten Andeutungen.

    "In meinem Privatleben war etwas in die Brüche gegangen, was mich sehr mitgenommen hatte. Genau die Umstände also, sie einen dazu bringen, sich auf Reisen zu begeben, "um alles hinter sich zu lassen", was natürlich Unsinn ist. Man lässt nichts zurück, sondern nimmt es im Gegenteil mit."

    Denn jeder, der verschwunden ist, wohin auch immer, bleibt gleichzeitig da. So wie der Leser: Denn am Ende hat auch er eine Reise unternommen, ohne sich fortzubegeben. Eine Reise über Kontinente, eine Reise zu essenziellen Fragen - auch an sich selbst. In jedem Fall eine Reise auf Cees Nootebooms Spuren.


    Cees Nooteboom: Roter Regen. Leichte Geschichten
    Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Mit Zeichnungen von Jan Vanriet.
    Suhrkamp, 244 Seiten, 19,80 Euro