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Über das Leiden am Leiden

Reisen und schreiben – beides gehört für Ulla Lenze zusammen. Ihr letzter Roman "Arachnu" (2008) spielte in Indien. Ihren neuen Roman "Der kleine Rest des Todes" hat die 38-jährige Mönchengladbacherin gleich zum Gutteil in Mumbai verfasst.

Von Ulrich Rüdenauer | 04.04.2012
    Nichts bereitet auf den Tod vor. Nichts auf den Verlust eines nahen Angehörigen, auf das Ausgeliefertsein an die Ohnmacht und den Schmerz. Der Tod kommt in Ulla Lenzes neuem Roman plötzlich. Aus heiterem Himmel: Der Vater der Ich-Erzählerin Ariane verliert bei einem Flugzeugabsturz das Leben. Das Unglück ist unerklärlich, die Ursache nicht leicht zu rekonstruieren, die Leiche für die Angehörigen nicht mehr mit dem Vater und Ehemann zu identifizieren. Es entsteht ein Vakuum um diesen Tod, und das wird von den Familienmitgliedern – von Ariane, ihrer Schwester Svenja und der Mutter – auf unterschiedliche Weise gefüllt. Aber natürlich bleibt auch in diesem Vakuum etwas zurück, etwas nicht mehr Formulierbares, etwas Verworrenes, ganz Heilloses. Und es gibt unterschiedliche Formen, damit umzugehen. Ulla Lenze:

    "Der kleine Rest des Todes ist ja eigentlich ein großer Rest des Todes, aber der darf nicht sein, dieser große Rest. Und es geht eben auch um ein Herunterspielen dieser Zumutung des Todes und einer Gegenbewegung, also diesen ganzen Skandal dieses Todes, und die Zumutung auch an sich heranzulassen. Und das widerfährt der Protagonistin des Romans, Ariane, die sich ganz dem ausliefert, dem Schmerz des Verlassenseins, dem Trauerschmerz."

    "Der kleine Rest des Todes", das ist der Titel von Ulla Lenzes drittem Roman, ein poetischer Titel, der auf die Poesie des Schmerzes verweist, die hier zum Vorschein kommt. Das Buch handelt vom Selbstverlust einer jungen Frau, die sich schon vor diesem Ereignis abhanden gekommen ist: Sie war in ein indisches Kloster gereist, um den Anforderungen an sich und ihre Karriere zu entfliehen; eine langjährige Beziehung ist zu Ende gegangen. Und ihre Doktorarbeit über "Negation bei Hegel, Adorno und im Zen-Buddhismus" ist ins Stocken geraten. Die Verfasstheit des Ich, die Selbstauflösung des Ich – das ist genau ihr wissenschaftliches Thema und ihr Problem im Leben. Die Theorie, auch das stellt sie schließlich fest, hilft nicht mehr weiter bei der größten Negation überhaupt: dem Tod.

    "Sie ist ja so entblößt. Und sie ist ja von Kontexten plötzlich befreit, wenn sie durch die Straßen geht der Stadt, dann nimmt sie auf einmal anders wahr. Und dadurch entstehen eben diese Räume, diese poetischen Räume. Ob sie selber in der Lage ist, die ästhetisch zu genießen, bezweifle ich. Ich denke, es geht ihr wirklich nicht gut, während sie dort spazieren geht. Das ist auch das Kuriose am Schreiben, dass es einerseits diese Form bietet, die man selber als Schreibender und eben als Lesender noch mal ganz anders wahrnimmt, mit einem ästhetischen Wohlgefallen oder Genuss, und das, was erzählt wird, eigentlich ganz furchtbar und tragisch ist. Das ist eine interessante Spannung zwischen Form und Inhalt."

    Tatsächlich gibt es die Dialektik von Form und Inhalt in diesem Buch, einen Bruch zwischen der Haltlosigkeit der Figur und der poetischen Gefasstheit. Und es gibt eine Auflösung, etwas, das über beides hinausgeht und vielleicht etwas Atmosphärisches ist, eine Stimmung, die hier entsteht, in der die Figuren auf gewisse Weise aufgehoben sind, auf der sie schweben. Denn was beschrieben wird, ist ein Zwischenzustand. Ein Stillstand auch. Alles muss neu erlernt werden, auch das Sprechen. Eine neue Grammatik ist vonnöten, eine Vergangenheitsform, die plötzlich gefordert wird und noch nicht bereit steht.

    "Der kleine Rest des Todes" handelt beredt vom Zusammenbruch der Kommunikation, von der Zersetzung von Beziehungen: Die schon angelegten Konflikte zwischen Ariane und ihrer Schwester vertiefen sich – die eine versinkt in ihrem Leid, die andere wird zur kühlen Managerin des Todes. Svenja tut, was zu tun ist und bringt wenig Verständnis für Arianes Hilflosigkeit auf. Ihr Ex-Freund Arndt zieht sich mehr und mehr von ihr zurück, und ihr Liebhaber Leander scheint abgestoßen zu werden von Arianes Schwäche.

    "Ich fand eben auch da die Frage interessant: Wie weit sind andere uns etwas schuldig?? Wie weit sind andere für uns verantwortlich, und was darf man ihnen zumuten, und wie weit müssen andere Grenzen setzen, sogar in unserem Interesse? Das ist eine ganz entscheidende Frage, die durch das Buch sich hindurchzieht."

    Es ist die Angst vor dem Verlassensein, die Verlassenwerden provoziert. Ariane gerät an einen existenziellen Nullpunkt, wie Ulla Lenze sagt, sie stürzt ab, vollzieht den Absturz des Vaters nach. Sie fühlt sich aus allen Zusammenhängen gerissen, und ihre Hilfeschreie verhallen mehr oder minder ungehört – zumindest kann sie mit den Antworten, die ihr entgegengerufen werden, nicht viel anfangen.

    "Ich bin nicht ganz bei den Dingen, die Dinge sind nicht bei mir, eine Unruhe schiebt mich über sie hinaus. Der Eindruck, im gleich nächsten Moment zu straucheln, zu fallen, wenn ich nicht achtgebe. Dann gehe ich meistens schlafen, am hellichten Tag."

    Das Ankommen am Nullpunkt aber birgt zugleich neue Möglichkeiten, die Regression erzwingt eine gewisse Radikalität: Ariane muss kämpfen, und sie reibt sich an ihrer Umgebung, nicht nur an ihrer Schwester, auch an den beiden Männern ihres Lebens. Indem alles in Frage gestellt wird, können sich neue Wege auftun. Tatsächlich findet am Ende über die räumliche Annäherung an den Todesort des Vaters auch eine Annäherung an die Schwester statt. Die Widerstände zwischen den beiden brechen auf, behutsam zunächst, aber vielleicht auf Dauer. Für diesen Prozess eines Selbstverlusts und eines Wiederfindens hat Ulla Lenze eine gelungene, eindringliche Form geschaffen. Ungeheuer dicht wirkt dieses Buch, stark verdichtet jeder Satz, ein Destillat aus Erfahrungen, die von großer Intensität zeugen, eine schmerzvolle Konfrontation und Konzentration.

    "Dieses Buch ist durch mehrere Stadien gelaufen. Es hat auch einen autobiographischen Hintergrund, also ich hab auch meinen Vater durch einen Unfalltod verloren und hab dann gemerkt, dass ich mich schreibend diesem Ereignis nähern möchte und stand dann lange vor dieser Wahl, mache ich einen Bericht oder mache ich einen Roman, also behandele ich es fiktional. Und ich hab mich fürs letztere, also für die künstlerische Bearbeitung entschieden."

    "Ich kann mir vorstellen, dass die Welt hier endet, mit meinem Gesicht und dem Papier, das den abschließenden Himmel bildet, dass das alles ist, nur meine Gesichtshaut als Erde und das Papier als Himmelszelt, dazwischen einige Millimeter Luft, ein wenig Leben, eine kleine Dosis Leben; so könnte es gehen."

    "Ich denke eben auch, das Arbeiten selber war wichtig und eben dieses Scheitern, was sich immer wieder einstellte, dass ich merkte, der Text entscheidet sich noch gar nicht, der lässt sich selbst noch nicht los, dass ich merkte, das ist noch nicht das, was ich eigentlich für einen literarischen Text halte. Und das dauerte eine ganze Weile, bis diese Distanz kam. Und was immer dann möglicherweise heilsam war an diesem Text, war für mich das künstlerische Tun selber. Das heißt, ich hätte eigentlich auch mit einem ganz anderen Stoff das erleben können, weil das künstlerische Tun selber für mich was sehr Heilsames ist."

    Die künstlerische Arbeit braucht Abstand – in diesem Fall auch räumlichen. In Ulla Lenzes früheren Büchern spielte Indien eine große Rolle; bereits seit ihrem 16. Lebensjahr bereist sie das Land, verbringt dort seither immer wieder Wochen und Monate. In "Der kleine Rest des Todes" taucht Indien nur am Rande auf, als Fluchtort der Protagonistin. Die Autorin selbst aber hat einen großen Teil des Buches in Mumbai geschrieben.

    "Ich glaube, was an Indien für mich immer so produktiv ist, ist einfach, dass Indien so in jeder Hinsicht Grenzen sprengt und invasiv ist und belästigend und belustigend, dass man so völlig aus den Koordinaten gekippt wird, in denen man hier in der deutschen Wirklichkeit ist, und das hat immer etwas Beflügelndes. Und ich habe tatsächlich in den neun Monaten, die ich vor zwei Jahren in Indien, in Mumbai gelebt habe, sehr sehr gut schreiben können. Auch an diesem Manuskript. Obwohl es ja überhaupt nichts mit Mumbai zu tun hat und mit Indien, wirklich, das lässt sich auf eine halbe Seite kürzen insgesamt. Und doch war es einfach diese Atmosphäre, diese Entfesselung, also eine indische Großstadt, wo um jeden Quadratmeter gekämpft wird, wo von überall Gerüche kommen, Geräusche, Hitze, Staub. Man ist eigentlich nie wirklich für sich, und dadurch muss man auch ganz tief nach innen fliehen. Und das ist eine komische Technik, aber ich habe tatsächlich gerade in diesem Lärm immer wieder so einen inneren Punkt finden können, von dem aus ich dann habe schreiben können."

    Diesen Rückzug ins Innere merkt man Ulla Lenzes lebensgesättigtem, gleichwohl lyrischem Roman an. Ein Roman über das Leiden und über "das Leiden am Leiden". Er dringt in jene Räume vor, die zu betreten am schwersten sind. Dort nämlich kann man etwas entdecken, was ungeheuer fragil, instabil, unfassbar, transzendent ist: das eigene Ich.


    Ulla Lenze: Der kleine Rest des Todes
    Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 2012. 160 Seiten. 18,90 Euro