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Über den Baum des Bösen

Nach US-amerikanischem Vorbild ist auch in Deutschland der Weg vom Amtssessel auf einen weich gepolsterten Sitz in einem Unternehmen kurz geworden. Jürgen Roth beschreibt in seinem neuen Buch "Der Deutschland-Clan" solche Karrieren und ihre Hintergründe. Der Autor zeichnet ein Sittengemälde außer Kontrolle geratener Eliten. Walter van Rossum hat es sich genauer angesehen.

17.07.2006
    Verfolgen wir nur mal einen Faden aus Jürgen Roths dichtgewebtem Kriminaltableau: Im Herbst 1998 bildete Bundeskanzler Gerhard Schröder seine erste Regierung. Den Posten des Wirtschaftsministers übernahm ein gewisser Werner Müller, dessen aufregendste Eigenschaft darin zu bestehen schien, kein Sozialdemokrat zu sein. Müller war bis dahin in leitender Stelle beim VEBA-Konzern beschäftigt, der bald darauf im neuen Leitgestirn am Energiehimmel aufging: dem E.ON-Konzern. Im Jahre 2002 brachte das Gespann Müller/Schröder eine Großfusion auf den Weg, die auf viele Jahre hinaus den deutschen Energiemarkt prägen wird, nämlich den Zusammenschluss von E.ON und Ruhrgas AG. Das Kartellamt lehnte aus etlichen genau dargestellten Gründen diese Fusion ab. Doch es nützte alles nichts. Mithilfe einer so genannten Ministererlaubnis wurden die zahlreichen Kritiker ausgeschaltet. Die radikaler Systemkritik unverdächtige "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb dazu:

    "Auf der Strecke blieben Teile des Wettbewerbs im Energiemarkt, eine beschädigte Kartellbehörde, das missbrauchte Instrument der Ministerentscheidung und günstige Gaspreise."

    Allerdings bewies Minister Müller die Eleganz, sich selbst wegen seiner früheren Tätigkeit bei der VEBA als befangen zu erklären und so lag formal die "politische Aufsicht" über die Fusion bei Müllers Staatssekretär Alfred Tacke. Nach der Bundestagswahl 2002 erklärte sich Minister Müller für politikmüde und wechselte als Vorstandsvorsitzender zur Ruhrkohle AG, an der wiederum auch E.ON beteiligt ist. Kurz nach Müller wurde auch sein ehemaliger Staatssekretär Alfred Tacke, ein alter Weggefährte Schröders aus niedersächsischen Tagen, amtsmüde und er wechselte in den Vorstand der Steag, einer Tochter der Ruhrkohle AG. Wenig später erwies sich Bundeskanzler Schröder erneut als wegweisender Energiekanzler: Er unterzeichnete in erstaunlicher Eile einen Vertrag über eine russisch-deutsche Gaspipeline. Auch hier wurden politische, ökonomische und ökologische Bedenken nicht lange diskutiert. Dafür hatte Schröder keine Zeit mehr. Denn es war der 8. September 2005, mithin zehn Tage vor der Bundestagswahl, als deren Verlierer Schröder seit langem designiert war. Und so kam es denn auch. Im Dezember vergangenen Jahres wurde schließlich offiziell, was seit Monaten bereits als Gerücht kursierte: Ex-Kanzler Schröder wurde Berater jener deutsch-russischen Pipeline-Gesellschaft, die er kurz zuvor in seiner Eigenschaft als Bundeskanzler gewissermaßen erst ermöglicht hatte.

    Außerdem sollte Schröder in den Aufsichtsrat der Gasprom berufen werden. Denn die North European Gas Pipeline (NEGP) gehörte zu 51 Prozent dem russischen Staatskonzern Gasprom, auf deutscher Seite hält E.ON den größten Aktienanteil – also jene Firma, die Schröder, Müller, Tacke sei sank, den deutschen Energiemarkt beherrscht und so große Summen verdient .und es sich deshalb natürlich auch leisten kann, verdienstvolle Politiker auf allen Ebenen entweder anzustellen oder mit kleineren Aufmerksamkeiten zu beglücken. Bekanntlich laufen zurzeit ein paar dutzend Verfahren gegen den Konzern und gegen Politiker, die die unterschiedlichsten Zuwendungen von E.ON erhalten haben sollen.

    Damit ist aber für Jürgen Roth die Geschichte noch lange nicht zu Ende. Die Spuren weisen nach Russland. Da begegnen wir an vielen, eher dunklen Orten Wladimir Putin, dem russischen Staatspräsidenten. Bundeskanzler Schröder pflegte ihn seinerzeit, allen bekannten Tatsachen zum Trotz, zum "lupenreinen Demokraten" zu adeln. Jürgen Roth zeichnet hingegen eher das Porträt eines Mannes, der es als einer der ehemaligen Chefs des sowjetischen Geheimdienstes KGB zum Leiter eines Großreichs namens Russland gebracht habe, in dem, in frühkapitalistischer Manier, jenseits von Recht und Gesetz, riesige Vermögen gescheffelt werden. Damit verlassen wir die Hauptkampfzone des Deutschland-Clans und geraten in die Untiefen einer globalisierten Welt, wo wir unter anderem fiesen usbekischen Diktatoren mitten im Treiben um Gas und Öl begegnen. So sieht die Welt aus, die Jürgen Roth uns in seinem jüngsten Buch zeigt. Selbst den Abgebrühtesten wird diese Darstellung der Zustände nicht unberührt lassen. Und es gibt leider wenig Grund, an den Fakten dieses Buches zu zweifeln. Trotzdem: Nach einer Weile beginnt man bei der Lektüre zu ermatten. Wo bleiben die Guten? Was will Jürgen Roth eigentlich beweisen? Dass die Erde ein Jammertal sei? In seiner Einleitung schreibt er:

    "Die Rede ist vom Deutschland-Clan. Ihn verbindet keine schriftliche Vereinbarung, es gibt keine beschwörenden Formeln, die mit Blut besiegelt werden wie bei der italienischen Cosa Nostra. Besiegelt werden die Bündnisse im Geiste, nonverbal. Den Deutschland-Clan vereint vielmehr das neoliberale Gedankenkonstrukt, in dem Gemeinsinn durch puren Egoismus und Moral durch die Anhäufung von möglichst viel Kapital, durch blanke Geldgier ersetzt wurden. Soziale und gesellschaftliche Verantwortung spielt für die Mitglieder des Deutschland-Clans keine Rolle mehr."

    Es handelt sich bei Roths Buch also um ein Sittengemälde unserer außer Kontrolle geratenen Eliten. Doch obwohl die meisten Geschichten, die Roth erzählt, jüngeren Datums sind und nicht unbedingt allgemein bekannt, hat man den Eindruck, dies alles hat man schon mal gehört oder gelesen. Das Problem in Roths Buch sind nicht die Fakten, sondern ist die Rhetorik, die die Skandale der Gegenwart in einen zeitlosen Mythos verwandelt. Und so sehen wir eben genau das nicht, was der Titel verspricht: den Deutschland-Clan.

    "Beim Deutschland-Clan geht es zwangsläufig nicht um bedauerliche Einzelfälle mafioser Strukturen in Teilen der deutschen Politik, Wirtschaft und Justiz. (..) Verbunden sind sie (...) durch ein zentrales Bindeglied – die soziale und gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit."

    Unterstellt wird dabei: es sei alles einmal ganz anders gewesen. In Wahrheit kann sich aber wohl niemand an ein Paradies sozialer und gesellschaftlicher Verantwortung erinnern. Intuitiv möchte man Roth zustimmen: Der Neoliberalismus bringt eigene, neue Qualitäten gesellschaftlicher Verwahrlosung mit sich. Doch Roth gelingt es gerade nicht, diese zu veranschaulichen. Atemlos spult er Epen und Episoden des Unrechts ab. Doch steht das Beispiel Schröder wirklich für eine neue Zeit? Und handelt es sich dabei um ein juristisches, sogar strafrechtliches, um ein politisches, ein sittliches oder strukturelles Problem?

    Für Roth macht das keinen Unterschied. Ein durchgeknallter Oberstaatsanwalt in Mecklenburg-Vorpommern, ein heimtückischer Sparkassendirektor in Rostock, Politiker, die sich in die eigenen Taschen wirtschaften oder turkmenische Tyrannen, die in die Menge schießen lassen - für Roth sind das alles unterschiedlich große Früchte vom nämlichen Baum des Bösen. Das ist aber schlicht und einfach falsch. Und das führt auf die Dauer dazu, dass sich die zweifelsohne berechtigte aufklärerische Absicht des Autors in ein düsteres Sittengemälde verkehrt, in dem die Welt im unbegreiflichen Dunkel versinkt. Wer sich jedoch vor diesem Fehlschluss zu schützen vermag, für den liefert Jürgen Roths Buch einen schier unerschöpflichen und hochinteressanten Steinbruch, um sich ein eigenes Bild von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen zu machen.

    Jürgen Roth: Der Deutschland-Clan. Das skrupellose Netzwerk aus Politikern, Top-Managern und Justiz
    Eichborn Verlag, Frankfurt, 2006
    256 Seiten
    19,90 Euro