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Über den Wissenstransfers zwischen Antike, Orient und Okzident

John Freely lehrt in Istanbul an der Bosporus-Universität Wissenschaftsgeschichte. In seinem neuen Buch geht es, um den Wissensaustausch zwischen Europa und Nordafrika und zwischen Antike, islamischer Renaissance und früher europäischer Neuzeit geht.

Von Thomas Palzer | 10.09.2012
    "Im Jahr 1900 ankerte ein griechisches Schwammfischerboot vor der nördlichen Küste des abgelegenen Inselchens Antikythera, um dort einen Sturm abzuwarten. Als sich der Sturm gelegt hatte, tauchte ein Fischer namens Elias Stadiatos auf der Suche nach Schwämmen hinab und fand auf dem Meeresboden ein Schiffswrack. Verblüfft und aufgeregt erzählte er, dass er eine Menge toter nackter Frauen gesehen habe, die sich, nachdem man sie an die Oberfläche gebracht hatte, als griechisch-römische Bronzestatuen erwiesen. Außerdem fand man in dem Wrack Schmuck, Bronze, Keramik, Möbel und mit Wein gefüllte Amphoren. Das Schiff stammte aus dem 1. Jahrhundert vor Christus und war vermutlich von Rhodos nach Italien unterwegs gewesen."

    Manchmal navigiert man im Raum und muss zur eigenen Verblüffung feststellen, dass man dabei unversehens auch in die Tiefen der Zeit navigiert ist. So mag es dem griechischen Fischer vor über 100 Jahren ergangen sein. Er fuhr aufs Meer hinaus und kam in einer 2000 Jahre von ihm entfernten Vergangenheit an. Reisen durch Zeit und Raum unternimmt auch das kulturelle Wissen. Es verbreitet sich nicht nur geografisch, sondern auch über die Jahrhunderte hinweg. Eine Geschichte dieser doppelten Bewegung erzählt uns John Freely, Professor für Wissenschaftsgeschichte in Istanbul, einer Stadt, die als Byzanz und Konstantinopel selbst eine nicht unwesentliche Rolle in eben dieser Geschichte spielt, in der es um den Wissenstransfer zwischen Europa und Nordafrika und zwischen Antike, islamischer Renaissance und früher europäischer Neuzeit geht. Titel des Werks: "Platon in Bagdad. Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam." Eleganter und anspielungsreicher lautet der Titel im Amerikanischen: "Aladdin’s Lamp."
    Doch zurück zu unserem griechischen Fischer. Die Entdeckung des 2000 Jahre alten Schiffs barg noch eine weitere Überraschung:

    "Fast übersehen hätte man unter den aus dem Wrack geborgenen Dingen einen Holzkasten etwa in der Größe eines Buches. Als man ihn öffnete, kam ein zu formlosen Klumpen grünen Metalls erodierter Mechanismus aus Bronzezeigern und -rädern zum Vorschein ... Der sogenannte Mechanismus oder Computer von Antikythera erwies sich als ausgeklügeltes Räderwerk, ein astronomischer Apparat, der ... die Bewegungen der Sonne, des Mondes und der sichtbaren Planeten abbildete."

    Der Fund von Antikythera war eine für das 20. Jahrhundert dramatische Wiederentdeckung verlorenen Wissens, denn er offenbart, dass die antike Wissenschaft über deutlich mehr Fähigkeiten verfügt hat, als man ihr jahrhundertelang zugestand. Auch die Griechen kannten den Computer, die Maschine, die fähig ist, bestimmte Aufgaben algorithmisch, also in einem sich wiederholenden Verfahren, zu lösen.

    Das Planetarium, das in dem 2000 Jahre alten Wrack entdeckt wurde, beruht unter anderem auf den Erkenntnissen des Archimedes, etwa seiner "Methodenlehre", die ebenfalls 2000 Jahre alt ist und als verloren galt. Sie wurde 1906, sechs Jahre nach der Entdeckung des antiken Schiffs, in einem Istanbuler Kloster wiederentdeckt und kann das Abendland nur über Byzanz und den Islam erreicht haben. Denn das Schriftstück erwies sich als Palimpsest und mit Gebeten überschrieben – und mit einer Inschrift aus dem 16. Jahrhundert, die besagte, dass es dem alten Kloster St. Savas in Palästina gehörte, auf Arabisch Mar Saba genannt, das im Jahr 483 nur wenige Kilometer von Bethlehem entfernt am Westufer des Jordans gegründet worden war.

    "Zum Kloster gehörte ein Skriptorium, dessen Sammlung über 1000 Werke umfasste. Als das griechisch-orthodoxe Patriarchat von Jerusalem Mar Saba im Jahr 1625 kaufte, bestand es nur noch aus Ruinen, bevor man 1688 mit der Restaurierung begann. Es wird vermutet, dass das Palimpsest und andere antike Handschriften von Mar Saba Anfang des 19. Jahrhunderts nach Istanbul ausgelagert wurden."

    Aus dem Palimpsest lässt sich schließen, dass Archimedes der erste Autor auf einem Gebiet der Mathematik war, das wir jetzt als Kombinatorik bezeichnen. Im 3. Jahrhundert vor Christus geschrieben, wurde die Methodenlehre vor 1000 Jahren in Konstantinopel von Schreibern kopiert. Die Kopie wurde dann im Kloster Mar Saba in Palästina aufbewahrt.

    "Newton und seine europäischen Vorgänger wussten, was sie Archimedes verdankten – Galilei erwähnt ihn über 100 Mal – denn sein rigoros mathematischer Ansatz zur Erforschung der Natur diente als Vorbild für die neuen Naturwissenschaften, die den ausstrebenden Aristotelismus ablösten."

    In "Platon in Bagdad" erzählt John Freely knapp und manchmal fast lexikalisch jene faszinierende Geschichte, die im 7. Jahrhundert vor Christus von Mesopotamien ins kleinasiatische Milet führt, von dort nach Athen, Alexandria, Rom, Byzanz, Bagdad und Kairo und wieder zurück nach Europa. Und er schildet damit nebenbei, wie die Muslime das antike Wissen, das im Europa zu Beginn des Mittelalters verloren gegangen ist, aufbewahrt haben, um es im Zuge des islamischen Expansion Europa über Andalusien zurückzugeben und damit die europäische Neuzeit überhaupt erst möglich gemacht haben.

    Ein Brückenkopf bei diesem gewaltigen Wissenstransfer bildete Alexandria, die zweitgrößte Stadt der Antike, die in ihrer legendären Bibliothek das gesamte naturwissenschaftliche, technische und medizinische Wissen der Griechen aufbewahrte – neben den Schriften der hellenischen Philosophen, aber auch anderer Weltanschauungen und orientalischer Kulte. Aelius Festus Aphthonius schreibt um 391:

    "... auf der Innenseite der Kolonnade waren Räume gebaut, von denen einige als Buchmagazine dienten und denjenigen offen standen, die ihr Leben der Gelehrsamkeit widmeten. Es waren diese Studienräume, die die Stadt zur ersten in der Philosophie machten. Einige andere Räume waren für die Verehrung der alten Götter hergerichtet."

    Den anderen Brückenkopf für den Wissenstransfer bildete das abbasidische Bagdad bzw. das Haus des Wissens – Bait al Hikma -, in dem große Teile der griechischen Philosophie und Naturwissenschaft systematisch ins Arabische übertragen wurden. Angestoßen wurde das Übersetzerprogramm, weil die abbasidische Verwaltung Sekretäre brauchte, die ausgebildet werden mussten, unter anderem in Arithmetik, Landvermessung, Maß- und Gewichtskunde und Bauingenieurwesen. Die erforderlichen Lehrbücher dazu hielt die griechische Wissenschaft bereit. Die gezielte Übersetzung der griechischen Werke löste in Damaskus und Kairo, in Toledo, Palermo und Byzanz eine Wissensexplosion aus, war zur islamischen Renaissance im 6. und 7. Jahrhundert führte. Bis Mitte des 11. Jahrhunderts setzte man das Übersetzerprogramm fort, im Orient wie auch im muslimischen Spanien. Das griechische Wissen verbreitete sich explosionsartig – bis dann das Echo Paris und Oxford erreichte, nachdem man begonnen hatte, die arabischen Texte ins Lateinische zu übersetzen. Das führte am Ende zur europäische Renaissance.

    In 18 Kapitel gelingt es John Freely, die Komplexität des Wissenstransfers zwischen Antike, Orient und Okzident nachvollziehbar darzustellen. Zugleich ist sein Buch ein Lexikon der Denker, Gelehrten, Sterndeuter und Naturwissenschaftler von den Anfängen bis zur Renaissance. Die Globalisierung des Wissens über das Internet gießt neues Öl in Aladins Wunderlampe.

    John Freely: "Platon in Bagdad. Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam", Stuttgart 2012,Klett-Cotta, aus dem Englischen von Ina Pfitzner. 388 Seiten mit zwei Karten