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Über die Absurdität im Alltag

Benk, die Hauptfigur in neuem, vom 1941 geborenen Autor Gunter Gerlach selbst als Entwicklungsroman bezeichnetem Buch, leidet unter den ständigen Wiederholungen des ewig Gleichen und der Vorausschaubarkeit des Lebens. Schuld daran sind seine hellseherischen Kräfte. Mit seiner Ich-Perspektive und den kurzen Sätze ohne Distanz verdreht Gunter Gerlach dabei dem Leser den Kopf und fährt Achterbahn mit ihm.

Von Detlef Grumbach | 26.06.2006
    "Ja, der Verleger ist davon überzeugt, es handelt sich um einen Krimi. Der ist aber schon vorher, bevor er überhaupt ein Manuskript von mir bekommt, der Überzeugung, ich schreibe Krimis. Egal, was dann tatsächlich herauskommt."

    Gerlach hat sich tatsächlich mit zahlreichen Krimis einen Namen gemacht, vor allem mit der Allergiker-Trilogie "Kortison", "Katzenhaar und Blütenstaub" und "Neurodermitis", aber auch mit seiner absurd-schrägen Figur des Schriftstellers Jakob Vogelwart, der von seinen Büchern nicht leben kann und sich deshalb als Kleinkrimineller durchschlägt. Zuletzt erschien der Roman "Ich bin nicht" – eine rasante Verwechslungsgeschichte, die den Leser nach New Orleans und Arizona entführt.

    "Ich weiß", scheint Gunter Gerlachs Verleger jedoch angesichts eines neuen Manuskripts zu denken, "Ich weiß Bescheid, wer soll mich wohl noch überraschen?" Genauso wie Benk, die Hauptfigur in neuem, vom 1941 geborenen Autor selbst als "Entwicklungsroman" bezeichnetem Buch. Benk leidet unter den ständigen Wiederholungen des ewig Gleichen, an der Langeweile und Vorausschaubarkeit des Lebens, an dem, was anderen erst eine gewisse Gemütlichkeit verschafft. Zunächst hat er seine hellseherischen Kräfte noch ausgenutzt, hat er als Journalist gutes Geld damit verdient, dass er in seinen Artikeln die Zukunft von Politikern vorhersagt. Mittlerweile veröffentlich er den Wortlaut von unter Prominenten vertraulich geführten Gespräche mit einer solchen Treffsicherheit, dass die Betroffenen nach undichten Stellen suchen. "Ich weiß", so lautet der Titel des Romans, und dieses Wissen, was kommt, was im Alltag jeder kennt, was jeder mal fürchtet, mal ausnutzt, nimmt bei Benk extreme Züge an. Benk weiß in jedem Augenblick, was kommt, Begegnungen mit Menschen öden ihn deshalb an, er ist unfähig, sich auf andere einzulassen.

    "Also der Sinn von Literatur ist ja doch, Augen zu öffnen, mit Hilfe eines Autors, der ein paar Stichworte gibt, und der Leser öffnet die Augen seinen eigenen Erinnerungen gegenüber. Aber Literatur ist natürlich sehr viel mehr. Literatur ist auch Kunst, Literatur ist auch Genuss eines Gestaltungswillens, Literatur bedeutet auch, sich an Sätzen, an Worten, an Geschichten zu erfreuen."

    So lautet das Credo des Autors, der mit seinen 65 Jahren auch schon mal als der Senior der jungen Hamburger Literatur bezeichnet wird. Gerlach gehört den Vätern des Hamburger Dogma, mit dem eine Gruppe junger Autoren aus der Poetry-Slam- und Club-Szene frei nach Lars von Trier und Thomas Vinterberg acht Regeln für gute Literatur aufgestellt haben.

    "Wenn ich mir eine Geschichte ausdenke, fällt mir ja zuerst die Person ein, mit ganz bestimmten Eigenschaften. Und diese Eigenschaften erfordern eine bestimmte Geschichte. Mich interessiert natürlich die Absurdität im Alltag, im normalen Alltag. Und dann ist eine Geschichte wie bei diesem Benk natürlich hervorragend geeignet, einen speziellen Aspekt der Absurdität des Alltags, nämlich die Wiederholung oder die Vorausschaubarkeit von Ereignissen dann zu inszenieren in einem Buch."

    Wie das dänischen Film-Dogma bedeuten die Regeln des Hamburger Dogmas eine radiale Beschränkung der künstlerischen Mittel – jedoch nicht, weil das Budget begrenzt ist, sondern um einer ausufernden Beliebigkeit etwas entgegenzusetzen. Also: Erzählt wird im Präsenz und in der ersten Person, in kurzen Sätzen, ohne beschreibende Adjektive und ohne abgegriffene Metaphern. Das Taxi fährt "auf klebrigen Sohlen" durch die Nacht, die "ein kaltes, feuchtes Handtuch ist". "Die Dunkelheit stöhnt und Backsteine krümmen sich vor den vielen Menschen, die an ihre Individualität glauben". Die Art und Weise, wie Gerlach gegen die Worte stemmt, die sich wie von selbst einstellen, hat etwas Besonderes. Und das gilt auch für die raffinierten und sehr sophisticated konstruierten Geschichten.

    Gerlach reizt die Beschränkung auf nur eine Perspektive aus, indem er seinen Figuren mit so etwas wie einem Tunnelblick ausstattet. Den so wahrgenommenen Ausschnitt halten sie für die ganze Wirklichkeit. Auch hier übertreibt er nur ein kleines bisschen, denn dass die Vorstellungen von der Realität im eigenen Kopf oft mächtiger sind als diese selbst – auch das kennt fast ein jeder. Vogelwart, Gerlachs Held in zahlreichen Krimis, verhakt sich an einer Kleinigkeit. Aus ihr zieht er seine Schlüsse, die sich im Kopf verselbstständigen. Er interpretiert, reagiert, handelt in einer für ihn völlig realen Situation, die es in Wirklichkeit aber so gar nicht gibt. Bis er es bemerkt und das Spiel noch einmal von vorne beginnt. Benk, der Held des neuen Buchs, unterscheidet sich von ihm:

    "Vogelwart stolpert da rein. Aber es ist auch etwas in ihm angelegt, was ihn sich diese Sachen anziehen lässt. Benk ist von vornherein in einer ganz bestimmten Welt gefangen, die er für wirklich hält – für überwirklich. Der hat ja ein Wirklichkeitsbild, das ganz stark gefiltert ist. Der Konflikt, der entsteht, ist ja angelegt in seinen Charaktereigenschaften, in seiner Fähigkeit, alles vorauszusehen. Damit muss er hereingelegt werden. Er hält sich ja für eine Art Gott schon fast. Da muss etwas geschehen, was ihn aus der Bahn wirft. "

    Für Benk ist nur wirklich, was er voraussieht: "Manchmal denke ich, alles zu wissen macht blind." Genau das ist längst passiert. Bis ihn etwas aus dem Tritt bringt. Wieder begegnet er einem Menschen, dem er sein ganzes Leben voraussagen könnte. Er tut es nicht, aber durch ihn wird er auf die "Privat Life GmbH", aufmerksam. Dieses Institut gibt dem Leben seiner Klienten eine neue Richtung, in dem es überraschende Ereignisse für sie inszeniert. Nie erfährt der Klient jedoch, ob so ein Ereignis nicht doch wie von selbst über ihn kam oder ob tatsächlich die "Privat Life" dahinter steckt. Das fordert Benk heraus. Einerseits glaubt er an das Institut, andererseits glaubt er an sich. Wie einen Teufelspakt schließt er einen Vertrag mit dem Institut ab und wettet mit dem Chef, dass er jede Aktion des Instituts schon im Vorfeld erkennt, dass es für ihn ganz bestimmt keine Überraschungen gibt.

    "Benk denkt, Regie führt dieses Institut oder dieser Institutsleiter, mit dem er eine Wette eingegangen ist. Er verlässt das Institut, und sofort ist sein Blick auf seine Umwelt anders. "

    : Alles, was "Privat Life" auch nur an Überraschungen für ihn bereithalten könnte, muss er von vornherein unterlaufen. Beispielsweise könnte "Privat Life" eine Begegnung mit einer Frau organisieren, also organisiert er sich selbst eine. Plötzlich konstruiert er Lügengeschichten um seine Identität, erfindet einen Vater, der einen Weinberg besitzt, gibt an, selbst eine Fischhandlung zu betreiben, alles Lügen, die andere in die Irre führen sollen, die aber Teil seiner Wirklichkeit werden. Eine große Verwirrung entsteht, eine slapstickartige Komik, der atemberaubende Kampf gegen ein Phantom.

    "Er glaubt, er hätte alles in der Hand, er könnte jede Situation managen, alles gestalten. Wie man dann weiß, ist genau das nicht der Fall, sondern er gestaltet eigentlich ins Leere. Er will vorauseilend etwas inszenieren, damit man nichts mit ihm inszenieren kann, und das führt natürlich zu völlig absurden Szenen, weil für ihn gar niemand etwas inszeniert. Das ist eine Luftnummer. "

    Benk ist hereingefallen. Die "Privat Life" gibt es gar nicht. Seine allwissenden, jede Eventualität berücksichtigenden Pläne sind auf Sand gebaut. Wie diese Geschichte, die durch die Schreibschule des Hamburger Dogmas, das Präsenz, die Ich-Perspektive und die kurzen Sätze, ohne Distanz, schnell und authentisch erzählt ist, am Ende ausgeht? Wie Benk sich wieder fängt und was für neue Perspektiven sich seinem Leben öffnen? Das können wir hier nicht verraten. Aber eines ist gewiss: Gunter Gerlach verdreht dem Leser den Kopf und fährt Achterbahn mit ihm, und je gründlicher er Sinn und Verstand durcheinander wirbelt, desto deutlicher spürt man, wie viel dieser Benk, nicht ganz so extrem, mit dem eigenen Leben zu tun hat. Dem Autor gelingt es mit spürbarer Lust, aus alltäglichen Erfahrungen die absurdesten Geschichten zu spinnen und dabei ein intelligentes hintergründiges und sogar vielleicht tröstliches Lehrstück zu fabulieren.

    "Es spielt sich alles nur im Kopf ab. Auch dieser Blick auf die scheinbare Ödnis des Menschenlebens – die spielt sich ja auch nur in seinem Kopf ab. Er ist ja, und das vermutet er ja ab und zu auch, möglicherweise der einzige, der das so sieht. "