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Über die Niederlagen im Leben

Martin Page ist ein stilistischer Routinier, sein neuer Roman "An Weltuntergänge gewöhnt man sich" ist angenehm weitmaschig gestrickt, die Geschichte liest sich schnell und ist unterhaltend. Doch die Schwäche des Inhalts trübt den Lesegenuss: Pages Wahrheiten sind zu einfach.

Von Brigitte Neumann | 12.07.2006
    Dieser Schriftsteller bleibt seinem Thema treu - dem scheinbar unlösbaren Konflikt Individualität oder Integration. Er will wissen: Hat der Mensch die Freiheit, sich gegen Anpassung zu entscheiden? Wie hoch ist der Preis für Eigensinn? Ist ein Rollenwechsel möglich – mal Teamchampion, mal Outlaw?

    Martin Pages erster erfolgreicher Roman "Antoine oder die Idiotie" kreiste darum. "Die Libelle des achten Jahres", seine dann folgende, etwas weniger beachtete Ganovengeschichte, spielte in diesen gegensätzlichen Welten. Und sein aktuelles Buch "An Weltuntergänge gewöhnt man sich" tut es ebenfalls. Hatte er mit Antoine einen 25-jährigen Philosophen, ohne Job, ohne Geld und ohne Feinde erfunden, der sich nach einer banal-durchschnittlichen Existenz sehnt, so lässt er den Helden seines aktuellen Romans, den 28-jährigen Elias Carnel, den umgekehrten Weg gehen: Der preisgekrönte Filmproduzent und Liebling des Chefs von Studio Galaxie in Paris, der größten europäischen Filmproduktionsfirma, wandelt wie ein Traumtänzer von Erfolg zu Erfolg, bis er merkt, dass seine Beziehungen sind wie die Filme, die er dreht: Mittel zum Zwecke einer wohlkalkulierten Lebensvermeidung. "Kino ist eine Lüge, die einem erlaubt, etwas zu erleben!", lässt Martin Page seinen Helden erklären:

    "Ich denke, dass der Beruf, die Familie - man kann sich schon sehr schnell ein System aufbauen, in dem Zweifel nicht mehr vorkommen: Was will ich eigentlich? Wovon bin ich abhängig? Bin ich der geworden, der ich sein wollte? Und ich denke, mein Held, hat sich so ein System aufgebaut, dass ihm die Sicherheit verlieh, sich nicht mehr fragen zu müssen, ein System, das es ihm erlaubt, sich nur von den Wünschen anderer leiten zu lassen. Er kümmert sich um die Geschichten und die Leidenschaften anderer. Denn er ist ein Filmproduzent. Seine Freundin ist alkoholabhängig. Er kümmert sich auch um sie. Er hat Freunde in prekären Lebenslagen. Denen hilft er auch. Und auch in der Firma ist er der stets funktionierende Kollege, auf den man sich verlassen kann. Er spielt eine Rolle, die ihm erlaubt, sein Begehren, seine Individualität, seine Einzigartigkeit zu verbergen."

    Was Elias Carnel ins Leben zurückholt, ist eine Anhäufung kleiner Weltuntergänge, die sich schließlich zu einer großen Privatapokalypse ballen: Die Alkoholikerin, mit der er seit sechs Jahren zusammenlebt, hört auf zu trinken, denn sie hat einen anderen Mann fürs Leben gefunden. Sein Freund Victor bootet ihn beruflich aus. Und der Chef von Studio Galaxie lädt ihn zu sich nach Hause ein, nur um ihn zu fragen, wer er eigentlich sei und ihn anschließend krankenhausreif zu schlagen.

    Nach dem Absturz folgt der Ausstieg. Elias kündigt - und zwar seiner kompletten Vergangenheit. Eine Schriftstellerin mit Hang zum Selbstmord und dem biblischen Nachnamen Lazarus versüßt ihm den Neuanfang. Martin Page:

    "Ja, ich denke, es ist manchmal interessanter zu verlieren, denn Niederlagen bescheren einen größeren Reichtum als die Erfolge. Fürchterlich, wenn einer am laufenden Band nur Erfolge hat, wenn es nichts gibt, was ihn in Frage stellt. Wenn er nie sein Leben überdenken muss. In meinen Augen ist es überhaupt nicht erstaunlich, dass der größte französische Schriftsteller Marcel Proust ständig krank war. Gut, er war auch ein Hypochonder. Aber er hatte tatsächlich Asthma, eine empfindliche Haut, ein Problem mit der Verdauung. Krankheit macht unsicher im Verhältnis zur Welt. Und allein weil es weh tut, fängt man an, sich Fragen zu stellen."

    Martin Page kennt beides: Niederlagen und Erfolge. Er schrieb acht Romane für die Schublade, bevor einer gedruckt wurde. Die langen Jahre der verlegerischen Zurückweisungen hat sich der heute 30-jährige Martin Page mit Studieren vertrieben: bisschen Jura, Anthropologie, Philosophie, Psychologie, Ethnologie - immer darauf aus, Nützliches für seine Geschichten zu finden. Denn nie hatte er ernsthafte Ambitionen auf etwas anderes außer Schreiben.

    "Ich hatte keine Wahl, denn es war halt das einzige, was ich machen wollte: Bücher schreiben und davon leben. Außerdem: Ich konnte nicht mehr der Typ mit gutem Abschluss und großartigen Aussichten werden. Diese Möglichkeiten hatte ich schon verbrannt. Es ist wie mit den Piraten. Wenn die sich daranmachten, ein Schiff zu erobern, dann zielten sie zum Schluss mit einer Kanone auf das eigene Boot. Blieb ihnen also nichts anderes mehr übrig, als den Kampf zu gewinnen. Und das ist genau das, was ich auch gemacht habe. Ich hatte keine andere Wahl als die, Erfolg zu haben. "

    Das was die Kritiker bisher in ihm sahen, eine Art Rächer der Enterbten und literarischen Vorkämpfer für ATTAC – der Anti-Globalisierungsbewegung, hat Martin Page ein wenig enttäuscht. Er möchte, dass seine Sprache im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, die Bilder, die er benutzt. Nun gut.

    Page ist ein stilistischer Routinier, sein neuer Roman ist angenehm weitmaschig gestrickt, die Geschichte liest sich schnell und ist unterhaltend. Dutzende von Lebensweisheiten sowie Pages Vorliebe fürs Bonmot wenden allerdings seine freundlich-kritische Erzählhaltung manchmal ins grotesk Altkluge. Seine Figuren sind originell, aber es sind allesamt Typen - eindimensionale Typen, die ihren Beitrag zum Programm dieses Romans leisten. Und da Page dieses Mal kein Märchen geschrieben hat, fällt der Abstand seiner Figuren zu den Menschen im wahren Leben ziemlich auf: Die gibt es nämlich nur als Mischform und in der Endfarbe Grau.

    Page lässt also zwar seine Puppen tanzen, hält für die Tanzpausen auch humorvolle oder besinnliche Dialoge bereit, scheint aber insgesamt darauf zu achten, dass bei all der Bewegung nicht zu viel Verwirrung, sprich Komplexität, entsteht.

    Nun doch noch was zum Inhalt: Denn dessen Schwäche ist es, die das ganze Projekt ein wenig nach unten zieht. Pages Wahrheiten sind zu einfach: Die Lüge schleicht sich ins Leben, weil man es bequem haben will. Darauf folgt in der Regel Unglück, dann, wenn es gut geht, die läuternde Katastrophe sowie Ausstieg, Neuanfang, Riesenchance.

    Sagen wir es so: Martin Pages "An Weltuntergänge gewöhnt man sich" hat einen Fehler: Es bemüht sich, ein sehr, sehr sympathisches Buch zu sein.