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Über die Ost-West-Klischees

22 Jahre nach der Wiedervereinigung haben sechs Frauen ihre ganz privaten Schubladen aufgemacht und diese in einem Stück verarbeitet. Wenke Seemann, eine der ostsozialisierten Performerinnen, findet, dass die Ost-West-Klischees mittlerweile verwischen.

Wenke Seemann im Gespräch mit Doris Simon | 04.10.2012
    Doris Simon: Jeder Mensch hat seine ganz private Schublade im Kopf oder im Schrank. Da liegen dann Erinnerungen und Erinnerungsstücke drin, da können Momente aufgehoben werden, Gerüche, Geräusche, Melodien. 22 Jahre nach der Wiedervereinigung haben sechs Frauen ihre ganz privaten Schubladen aufgemacht und sich zusammengesetzt in einer Performance mit drei Tischen, die läuft seit dem Frühjahr: hier drei Frauen des Ensembles She She Pop mit Westhintergrund und da drei Frauen mit Ostbiografien. Was ist Ost und was ist West? Die Sechs befragen sich, ihre Poesiealben und Briefe, sie singen, erzählen, imitieren auf dem Bürostuhl die Pirouetten der Eiskunstläuferin Kati Witt.

    - Mit dabei die Sozialwissenschaftlerin und Fotografin Wenke Seemann. Sie ist eine der ostsozialisierten Performerinnen, jetzt am Telefon. Guten Morgen!

    Wenke Seemann: Guten Morgen!

    Simon: Frau Seemann, 22 Jahre nach der Wiedervereinigung – beim Kramen in den Schubladen, was ist denn bei Ihnen da herausgekommen?

    Seemann: Ich war zwölf am Tag der deutschen Einheit vor 22 Jahren. Da ist entsprechend sehr viel herausgekommen, was mit meiner Schulzeit zu tun hat, mit meiner Grundschulzeit. Und mit der Geschichte meiner Eltern und meiner Familie vor allem. Und natürlich Erinnerungen, die mit dieser Zeit verbunden sind. Aber natürlich auch Erinnerungen und Bilder, die was mit der Wendezeit zu tun haben, die sehr stark durch Veränderung geprägt war.

    Simon: Sie sind ja in der Performance zusammengespannt mit jemandem aus dem Westen. Holt die Westfrau, holt der Ostmensch da Unterschiedliches heraus aus seinen Schubladen?

    Seemann: Na ja, ich denke, der Konflikt mit Autoritäten ist ein Protest, ein aktiver Protest gewesen bei den Frauen von She She Pop ...

    Simon: Aus dem Westen!

    Seemann: ... aus dem Westen, die einen positiven aktiven Zugang dazu hatten, durch ihre Eltern, die häufig halt 68er geprägt waren. Bei mir persönlich gab es den bis zur Wende nicht. Das lag auch an meinem Alter natürlich. Aber das ist ein anderer Umgang, glaube ich. Es ist nicht so ein selbstverständlicher Aktivismus sozusagen, der sich gegen den Staat oder Repressionen gewendet hat. Da ist die Wendephase vielleicht eine Ausnahme, aber das, was man erlebt im Umgang mit Autoritäten, ist dann doch was anderes.

    Simon: Wie steht es denn um die alten Klischees, ums Schubladendenken Ost-West?

    Seemann: Ich glaube, dass sich das mittlerweile gerade in der Generation, die da auch auf der Bühne zu finden ist, natürlich auch verwischt. Die meisten oder fast alle leben in Berlin, eine Westmutter sozusagen hat ihre Kinder in einer originär ostdeutschen Kita mit entsprechend auch noch ostdeutschem Personal. Und es gibt natürlich bestimmte Sachen, die sich überlagern mit der Zeit. Natürlich gibt es diese Klischees, aber das ist, glaube ich, mittlerweile viel milieuspezifischer geworden, vor allem in Berlin, als man das so auf Ost und West zurückführen kann, obwohl das natürlich eine Sache ist, wo man ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der ich davon ausgehe, dass ich arbeite, dass Frauen arbeiten, dass Mütter arbeiten. Und das nicht nur Teilzeit, ist sicherlich eine andere und vielleicht auch gerade in Bezug darauf, wie man damit selber umgeht: Kriegt man ein schlechtes Gewissen zum Beispiel, weil man arbeitet. Man findet das gut, findet das vielleicht auch wichtig, als Mutter erwerbstätig zu sein, aber wie ist es - das ist was, was ich von den Westkolleginnen gehört habe -, dass es dann doch ein Problem ist, dass man mit einem anderen Selbstverständnis aufgewachsen ist, nämlich, dass Mütter zuhause bleiben und dass das für die Kinder wichtig ist, dass die die ersten Jahre bei der Mutter verbringen.

    Simon: Hat Ihnen eigentlich diese Arbeit in der Performance über das gegenseitige Kramen, über neue Dinge, die Sie vielleicht erfahren haben, auch persönlich irgendwas gebracht?

    Seemann: Na ja, inhaltlich ist es natürlich eine Art des strukturierten Kennenlernens auf eine ganz andere Weise. Was ich interessant fand, ist, dass die Westkolleginnen geäußert haben, dass sie sich oft nicht trauen, zu fragen, ob jemand aus dem Osten oder aus dem Westen ist. Das fand ich eine interessante Überlegung, auf die ich selber zum Beispiel gar nicht gekommen wäre. Ich glaube, für mich hat das eher weniger mit dem Inhalt zu tun als mit der Arbeitsweise, was für mich daran unglaublich spannend war. Die Vorgehensweise einer Performanceinszenierung, einer Dramaturgieerstellung, wie man mit dem Material umgeht, das sind Dinge, die für mich da wahnsinnig spannend waren. Und natürlich auch immer wieder so kleine Schnipsel von Geschichten, die man einfach so nicht kennt, weil die von anderen Geschichten überschrieben sind, eben gerade auch von Klischees.

    Simon: Wie würden Sie eigentlich sagen, Frau Seemann, wenn Sie zurückschauen auf die Arbeit und das, was Sie bis jetzt erfahren haben in dieser Performance, 22 Jahre nach dem 3. Oktober, wie wiedervereinigt sind wir wirklich in Deutschland?

    Seemann: Ich glaube, das ist eine Empfindensfrage. In Berlin kommt man sich sehr wiedervereinigt, weiß ich nicht, ist ein komisches Wort, vor. Die Unterschiede bestehen und ich glaube, sie sind einfach nicht mehr so sichtbar. Sie werden durch andere Dinge überschrieben und ich denke, dass sich das über die Generationen verwischt, wie sich das jetzt auch schon verwischt bei den heute, weiß ich nicht, 18-Jährigen oder so, die nach der Wende geboren sind. Aber ich denke, dass trotzdem auch das immer noch eine Frage von regionaler Herkunft ist, ob bestimmte Dinge wirken oder nicht. Diesen Eindruck habe ich, wenn ich mit Studenten zusammenarbeite, die aus der ostdeutschen Provinz kommen. Ich würde behaupten, man merkt das noch. Das ist ein anderer Habitus, ist ein anderer Umgang mit, weiß ich nicht, Krise, Autorität, Strukturen. Anderes Anpassungsvermögen oder vielleicht auch nicht nur positiv ausgedrückt in Form von man nimmt es hin. Das hat damit was zu tun, wie sehr man überhaupt damit konfrontiert ist. Und strukturell ist das eine Frage wahrscheinlich, die ein sehr weites Feld ist, würde ich sagen.

    Simon: "Wir im Osten, ihr im Westen" – sechs Frauen öffnen 22 Jahre danach ihre ganz persönlichen Schubladen auf der Bühne. Das war ein Gespräch mit der Performerin Wenke Seemann.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.