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Über Eliten (2/4)
Verzagte Geister

Im öffentlichen Diskurs über Eliteverdrossenheit dominiert ein Elitebegriff von wenigen Tausend Mächtigen in Wirtschaft und Politik. Dabei gibt es eine ungleich größere Zahl an Menschen, die das gesellschaftliche Klima als Bildungselite maßgeblich beeinflussen können.

Heike Schmoll im Gespräch mit Florian Felix Weyh | 14.05.2017
    Zwei Champagnergläser stehen auf einem Tisch.
    Muss der Elitebegriff neu definiert werden? (picture alliance / ZB - Jens Kalaene)
    Populisten wissen das, denn ihre Angriffe gelten dieser als abgehoben gescholtenen Gesellschaftsschicht ebenso wie Politikern und Managern. Doch statt den Diskurs qua eigener Geisteskraft zu lenken, reagiert die Bildungselite in Wissenschaft und Kultur eher verzagt.
    Schon vor zehn Jahren forderte die Bildungsexpertin und FAZ-Redakteurin Heike Schmoll ein Bekenntnis zu Elitenförderung bei gleichzeitiger Forderung, eine gesellschaftliche Führungsrolle einzunehmen. Bezahlen wir heute den Preis für die jahrzehntelange Verächtlichmachung des Elitegedankens?
    Heike Schmoll, geboren 1962, Germanistin und Theologin und bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) verantwortlich für die Seite "Bildungswelten". Sie gehört zu den profiliertesten Kritikern der deutschen Bildungspolitik. Ihre Monographie "Lob der Elite" erschien 2008.

    Manuskript zur Sendung
    Florian Felix Weyh: Heike Schmoll, vor gut einem Jahrzehnt haben Sie ein Buch geschrieben "Lob der Elite", ein Thema, das für Sie als Bildungsexpertin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ja mehr als nahe lag, damals aber durchaus in ein Vakuum stach, zumal in der Bildungspolitik wollte eigentlich jahrzehntelang niemand über Eliten reden. "Für keine Staatsform sind Eliten unentbehrlicher als für die Demokratie", schrieben Sie. "Dieses Bewusstsein scheint der deutschen Demokratie häufig zu fehlen." Eine Dekade später, heute, im Jahr 2017, sind wir inzwischen aufgewacht oder ist das fehlende Bewusstsein inzwischen in eine Bewusstlosigkeit übergegangen?
    Elitenbegriff hat keine Konjunktur
    Heike Schmoll: Ich würde sagen, Letzteres. Es ist absolute Bewusstlosigkeit. Im Grunde möchte man mit dem Elitenbegriff heute weniger denn je zu tun haben. Das liegt daran, dass der Populismus überall wächst, und all das, was sozusagen aus der homogenen Masse heraussticht, den Populismus nur stört. Das heißt, diejenigen Politiker, die im Augenblick Karriere machen und die Aufmerksamkeit erringen - ich nenne nur den Kanzlerkandidaten Schulz oder Steinmeier -, das sind alles Leute, die sind sozusagen wie du und ich, die haben sich hochgedient und im Grunde tragen sie all das, was möglicherweise Verantwortungselite mal an sich getragen hat, eben nicht mehr an sich.
    Weyh: Verantwortungselite ist ja schon ein schönes Stichwort, ich werde es gleich aufgreifen. Aber Sie haben mir sozusagen den Ball perfekt ins Tor gespielt. Weltweit findet derzeit eine Rebellion statt, schrieb wenige Tage nach dem Wahlsieg von Donald Trump der Finanzmathematiker und Bestsellerautor Nassim Taleb, ein Enfant Terrible der amerikanischen Intellektuellen, durchaus nicht unumstritten. Sie richtet sich gegen jene Klasse überheblicher semiintellektueller Experten mit dem Gütesiegel irgendeiner Ivy League- oder Oxford-Cambridge-Universität. Und Taleb sattelte sogar noch drauf: "Der Intellektuellenidiot" - was für ein Wort – "erklärt andere für krank, weil sie Dinge tun, die er nicht versteht, realisiert aber dabei nie, dass er vielleicht derjenige ist, der nicht ganz durchblickt." Das ist der Antielitismus pur, in Reinkultur.
    Wissenschaftsfeindlichkeit geht Hand in Hand mit Antielitismus
    Schmoll: Absolut. Gebe ich Ihnen völlig recht. Im Grunde muss man sagen, dass auch Trumps Wissenschaftsfeindlichkeit, die man im Übrigen auch in Ungarn und in anderen Ländern beobachten kann, natürlich Hand in Hand geht mit diesem Antielitismus. Man will letzten Endes mit unbequemen Forschungsergebnissen nichts zu tun haben. Ich nenne nur als Beispiel die Klimaforschung. Das hängt eindeutig mit dem Wissenschaftsbild zusammen, was sozusagen eben unbequeme Wahrheiten fördert. Und deshalb ist Wissenschaft gerade in Zeiten des Populismus so wahnsinnig wichtig, wenn sie denn den Mut hat, wirklich ihren eigenen Prinzipien verpflichtet zu bleiben, und wenn sie nicht gleichgeschaltet wird wie zum Beispiel in der Türkei.
    Weyh: Wie kommt es, dass jemand wie Nassim Taleb, der selbst ein Intellektueller ist, zu solchen Ausbrüchen neigt? Haben wir Parallelen hier? Gibt es hier auch solche Intellektuelle, die sozusagen als Nestbeschmutzer sich gegen die akademische Zunft wenden?
    Schmoll: Man muss ja schon sagen, dass es eigentlich ein merkwürdiges Phänomen ist, dass es opportun geworden ist im Augenblick, dass höchste Politiker - ich nenne nur den sonst sehr differenzierten Joachim Gauck, der neulich gesagt hat, man darf Europa nicht den Eliten in Brüssel überlassen. Oder die allgemeine Hetze von Journalisten, die eigentlich ihrer Ausbildung nach durchaus auch zu der Elite gehören könnten, dass offensichtlich unter denen allen das Elite-Bashing sehr populär geworden ist. Und das ist für mich äußerst beunruhigend, weil Elite eigentlich das, was es früher schon mal war als Wort, wieder geworden ist, nämlich ein Kampfbegriff immer gegen die anderen. Man selbst zählt nicht dazu, sondern im Grunde sind es immer diejenigen, die man gar nicht genau zuordnen kann.
    Gauck hätte auch sagen können, man darf Europa nicht den Funktionären in Brüssel überlassen. Das wäre viel neutraler gewesen. Aber es kommt gut bei der Bevölkerung, wenn man sagt, das sind diese Eliten. Besonders witzig ist das natürlich bei Schulz, der sozusagen selbst zu dieser Kaste gehört hat, und zwar wie kaum ein anderer Privilegien genossen hat und jetzt genau auf diese Eliten schimpft. Aber diesen Widerspruch scheint man nicht zu spüren, sondern der kommt sehr gut an.
    "Es gibt ein großes Unbehagen bei der Zuordnung von Eliten"
    Weyh: Ich wäre ja geschmeichelt, wenn Sie mir jetzt als FAZ-Bildungsexpertin sagen würden, Sie als Deutschlandfunk-Moderator und -Autor gehören der Elite an. Das würde mir schmeicheln. Wer ist denn überhaupt noch, wenn wir es jetzt mal eingrenzen in den schmaleren Begriff der Bildungselite, wer ist das denn noch in Deutschland. Ist ein Professor in Konstanz, in Saarbrücken, in Marburg, ist er Elite in Greifswald? Ist ein Journalist bei einem Qualitätsmedium, ist der Elite?
    Schmoll: Wenn man den schematischen Elitebegriff benutzt, den die Soziologen benutzen, dann sind Sie natürlich jetzt, unabhängig von Ihrer Person, gehören Sie natürlich zur Elite als Moderator beim Deutschlandfunk. Und natürlich gehören dann potenziell alle Professoren dazu. Ich würde mich dagegen wehren, mit dem Elitebegriff so zu verfahren. Dass es da ein großes Unbehagen gibt bei der Zuordnung von Eliten, haben Sie ja schon gemerkt bei den ganzen Wortzusammensetzungen, von denen ich eine selbst benutzt habe. Im Grunde sind das ja alles Abschwächungen des Elitebegriffs. Da gibt es die kulturelle Elite, die Verantwortungselite, die Leistungselite und so weiter und so fort. Wir haben ja offensichtlich nicht klare Kriterien dafür, wer eigentlich zur Elite gehört. Ich würde immer sagen, es müsste zusammenkommen eine außerordentliche Leistung, aber auch ein außerordentlicher Verdienst, zum Beispiel für die Allgemeinheit. Und das ist für mich nicht an irgendwelche akademischen Abschlüsse gebunden, sondern das kann auch ein sehr guter Handwerker sein, der sich zum Beispiel in einem bestimmten Projekt sozial engagiert, der sich sozusagen für die Gesellschaft stark macht und seine Fähigkeiten an einem besonders geeigneten Ort an die Gesellschaft zurückgibt. Wie gesagt, es ist nicht gebunden an Bildungsvoraussetzungen, zumal das auch ganz idiotisch wäre. So leicht, wie Sie heute ein Abitur und einen Hochschulabschluss bekommen qua Notendumping, wäre das völlig unzureichend.
    Von der Scheu, wenig opportune Wissenschaftsgebiete zu erforschen
    Weyh: Da klingt schon was Streitbares durch. Sie haben unlängst einen Artikel veröffentlicht, ausgerechnet am 1. April in der "FAZ", war aber kein Aprilscherz, wo Sie den mangelnden Mut des deutschen Professors, sich zu positionieren und zu bekennen - professio, Professor, also das Bekenntnis -, anprangern. Darauf gab es auch einige heftige Leserbriefe dann. Was ist der deutsche Professor? Ein zurückgezogen in Institutionen lebendes und sich verkriechendes Subjekt, das nicht mehr gesellschaftlich relevant ist?
    Schmoll: Es gibt einige Ausnahmen, bei denen man das überhaupt nicht sagen kann. Aber es gibt eben auch denjenigen, den Sie eben umrisshaft beschrieben haben. Es gibt innerhalb der Hochschulen einen enormen Druck. Der hängt zum einen damit zusammen, dass Leistungszahlen qua Absolventenquote, qua Promovendenquote erhoben werden. Das heißt also, die Fakultät bekommt dann eben mehr Geld, wenn sie entsprechend viele Absolventen und Doktoranden hervorbringen. Wie gut die sind, interessiert keinen mehr. Es gibt ein Bundesland, das das abgeschafft hat als Leistungskriterium. Und es gibt eben noch ganz viele andere Zwänge, von denen manche Professoren meinen, sie müssten sich denen beugen. Es gibt zum Beispiel eine Scheu, besonders wenig opportune Wissenschaftsgebiete zu erforschen. Alles, was mit Tierversuchen zusammenhängt, ist absolut nicht gesellschaftsfähig. Da müssen Sie damit rechnen, dass Ihre Reifen aufgestochen werden, dass Sie an der Universität als Tierquäler angeprangert werden, dass die Lobbyisten von außen Ihnen Druck machen, dass Sie in Zeitungsartikeln diffamiert werden. All das müssen Sie dann hinnehmen, wenn Sie ein Forschungsgebiet haben, was eben nicht opportun ist. Und das überlegen Sie sich dann zweimal. Denn je mehr Sie als Enfant Terrible in der Zunft gelten, desto weniger haben Sie Chancen auf Drittmittel, die Sie dringend brauchen, weil die Universitäten so unterfinanziert sind. Und es hängt auch häufig damit zusammen, dass der deutsche Professor eher sagt, mich interessiert meine Forschung, und ich möchte meine Ruhe haben. Ich möchte möglichst wenig Konflikte, auch nicht mit meinen Kollegen in der Fakultät. Eigentlich ist das so ein bisschen der Zustand, jeder macht sein Ding. Ich würde nicht mal sagen, Elfenbeinturm. Das stimmt nicht mehr.
    Es ist eigentlich viel zu angepasst auch an politische Themen, an Themen, die die Studenten möchten. Man darf nicht vergessen, dass jeder Professor von den Studenten bewertet wird, auch davor Angst hat, zum Beispiel Angst hat davor, zu schlechte Noten zu geben, weil dann eben die Bewertungen entsprechend schlecht ausfallen. Es gibt zum Glück eben immer noch Ausnahmen, die den Mund aufmachen, zum Teil aber eben ganz üble Diffamierungen dafür hinnehmen müssen. Hier in Berlin nenne ich nur Münckler, Baberowski, Koopmans an der Humboldt-Universität, die wirklich im Grunde Diffamierungskampagnen jahrelang ausgesetzt sind, weil sie unbequeme Wahrheiten öffentlich sagen.
    "Zu wenig Agenda-Setting von der Wissenschaft für die Gesellschaft"
    Weyh: Aber das ist doch die Aufgabe der Universität.
    Schmoll: Absolut. Wenn die Universität sozusagen sich durch eine Selbstzensur in ihrer ureigensten Aufgabe beschneidet, dann kann man im Grunde davon nicht mehr viel erwarten. Das ist das eigentlich Schlimme. Und das in Zeiten des Populismus, wo wir sozusagen eine rein wahrheits- und wissenschaftsbasierte Weltsicht dringender bräuchten denn je. Also wenn die Universitäten sozusagen zu feige sind, Professoren zu feige sind - das gilt übrigens auch für Rektoren, Rektoren sind auch die ersten, die sozusagen einknicken, weil sie Angst haben, sie werden nicht mehr gewählt -, dann gibt es keinen Widerpart mehr gegen den Populismus. Und dann muss man sagen, dann bestätigt man selbst, was der Populismus eigentlich dieser Wissenschaft vorwirft, nämlich Lügenwissenschaft zu sein.
    "Wir brauchen dringend eine unbequeme Wissenschaft"
    Weyh: Nun lief ja vor Kurzem in der ARD ein Sechsteiler, eine Fernsehserie über die Charité. Das war das Bild des 19. Jahrhunderts, wie also im Kaiserreich, einem eher autoritären System, die Freiheit der Wissenschaft hineingewirkt hat, mit Leuten, die dann wenige Jahre später alle Nobelpreise bekommen haben. Agenda Setting betrieben hat Rudolf Virchow, der große Demokrat, der auch noch in der Politik dann für Liberalismus gesorgt hat. Was Sie jetzt schildern, ist genau das Gegenteil. Es gibt kein Agenda-Setting mehr von der Wissenschaft für die Gesellschaft.
    Schmoll: Jedenfalls herzlich wenig. Man muss sagen, am ehesten macht das noch die Leopoldina. Aber man kann nicht sagen, dass es einzelne Fakultäten oder Universitäten wären. Letzten Endes sind sie dabei, sich aus dem gesellschaftlichen Disput zurückzuziehen. Und das halte ich wirklich für fatal, weil wir jetzt gerade, eben aus diesen politischen Gründen, solch eine unbequeme Wissenschaft dringend bräuchten. Zugleich muss man aber sagen, die Politik hat natürlich auch selbst dafür gesorgt durch bestimmte Förderformate, auch durch die Exzellenzinitiative, in der eben bestimmte Antragsformate vorgegeben sind, die man möglichst gut erfüllen will, dass diese Wissenschaft, wie wir sie vielleicht mit den Exzentrikern, mit den Käuzen, mit den wunderlichen Professoren, die aber einfach sehr originelle Ideen hatten, dass es die immer weniger gibt.
    Weyh: Über die Exzellenzinitiative reden wir gleich noch mal. Aber der wichtige Unterschied ist ja, wenn wir über Elite reden, reden wir in meinem Verständnis über Personen, über Persönlichkeiten. Das, was Sie jetzt schildern, ist ja ein institutionelles Phänomen. Das heißt, wir reden über elitäre Institutionen. Da klafft es ja ganz gewaltig.
    Schmoll: Ja. Wobei ich mich gegen das Wort "elitäre Institutionen" wehren würde, weil elitär immer pejorativ eigentlich ist. Natürlich ist eine Universität immer nur dann Elite, weil bestimmte Forscher Elite sind. Sie ist ja sozusagen nie qua Institution Elite.
    Exzellenzinitiative: wer hat, dem wird gegeben
    Weyh: Aber das ist der Gedanke dieses Exzellenzprogramms, dieser Initiative von 2005 gewesen. Wir geben Geld ‘rein, indem wir die Institution so ausstatten. Dann gießen wir das, und es kommt ein Paradiesgarten an Intellektualität.
    Schmoll: Im Grunde hat man gedacht, man könne auf diese Weise in der amerikanischen Ivy League mitspielen, und das kann man natürlich nicht. Erstens mal sind es lachhafte Summen im Vergleich zu einer amerikanischen Spitzenuniversität wie Harvard. Das sind Bruchteile von deren Jahresbudget. Und außerdem hat man auch inzwischen eingesehen, dass es sinnvoller ist, tatsächlich die Fakultäten auszuzeichnen, an denen sich eben Exzellenz versammelt. Und man merkt eben, dass letzten Endes die Universitäten und die Fakultäten erfolgreich sind, die schon vorher überdurchschnittliche Forschungsergebnisse aufzuweisen hatten. Was dann dazu führt, und das wurde ja auch der Exzellenzinitiative vorgeworfen, dass eigentlich das Ganze nach dem Prinzip verfährt, wer hat, dem wird gegeben.
    Weyh: Nun haben Sie in ihrem Buch von 2008 einen schönen Satz von Arnold Gehlen zitiert: "Institutionen können Eliten nicht nur hervorbringen, sondern auch konsumieren." Das ist so zu verstehen, wenn die Institution zu stark und repressiv wird, dann passt sich die Elite auch an.
    Schmoll: Ja. Wenn die Elite sozusagen keine Möglichkeit mehr hat, als Individuum überhaupt zu erscheinen, dann ist das so. Und wenn die Institution womöglich auch noch Anpassungsdruck an der falschen Stelle ausübt, dann kann so ein Professor eben nicht mehr so exzentrisch sein, wie er eigentlich sein müsste, um wirklich originelle Forschung hervorzubringen.
    Weyh: Ich habe mir ein paar dieser Eliteuniversitäten jetzt nach dem neuen - es heißt jetzt anders, nicht?
    Schmoll: Es heißt jetzt vorsichtshalber Exzellenzuniversitäten. Daran merkt man aber schon, dass just das Jahr 2008, in dem auch mehrere Bücher zum Elitebegriff erschienen sind, eine sehr günstige Phase war. Das war sozusagen eine Renaissance des Elitebegriffs. Und zehn Jahre später, muss man sagen, nein, diese Renaissance war von kurzer Dauer, und letzten Endes ist es dann wieder der alte pejorative Kampfbegriff geworden, den wir jetzt haben. Und weil das so ist, hat man eben auch nicht mehr von Eliteuniversitäten, sondern vorsichtshalber von Exzellenzuniversitäten gesprochen.
    Weyh: Eine dieser Exzellenzuniversitäten ist Bremen, und die haben einen Slogan, und der nennt sich "ambitioniert und agil". Und wenn ich so einen Slogan für das Exzellenzprogramm lese, dann denke ich mir, das könnte auch eine Tankstellenmarke sein oder so.
    Schmoll: Ja, das ist natürlich ein Problem, wenn jetzt jeder Rektor seine eigene Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit und Marketing, wie das heißt, hat. Nun ist eine Universität eben kein Wirtschaftsunternehmen, was sich irgendwie promoten ließe. Und dann kommen solche Slogans dabei heraus. Ich möchte jetzt der Universität Bremen nicht zu nahe treten und auch nicht behaupten, dass die nicht ordentliche Forschung machten. Das werden sie sicher tun. Aber das Ergebnis des letzten Exzellenzwettbewerbs ist schon auch einem politischen Kalkül geschuldet, was dann einfach einen gewissen Proporz im Norden und im Westen und auch im Osten im Auge hatte, damit nicht immer nur sozusagen der Süden absahnt, also Baden‑Württemberg und Bayern, die da eben nun mal ganz vorne sind.
    "Elitenhass konzentriert sich auf alles, was Homogenität stört"
    Weyh: "Der neue Elitenhass ist im Kern vorpolitisch, er ist Zivilisationshass" hat Jens Jessen in der "ZEIT" geschrieben vor ein paar Wochen. Das ist ein sehr bitterer und sehr harter Satz. Würden Sie dem zustimmen?
    Schmoll: Ich würde ihm partiell zustimmen. Ich glaube, dass es nicht Zivilisationshass ist, aber es ist Hass auf all das, was Homogenität stört. Ich würde es ein bisschen konkreter fassen. Das kann man im Grunde vom Kindergarten und der Schule an beobachten. Obwohl man eigentlich weiß, dass so ein System wie Schule vom ersten Tag an Differenz erzeugt, wird nichts anderes versucht, als gleichzumachen, von Anfang an. Und wer aus der Rolle fällt, ist entweder verhaltensgestört oder schwer erziehbar. Aber dass das vielleicht auch einfach jemand sein könnte, der unterfordert ist und der seine eigene Art hat zu denken, mit dem man nur entsprechend umgehen müsste, auf diese Idee kommen die Wenigsten. Zweifelsohne haben Lehrer heute eine viel schwierigere Aufgabe, weil die Klassen so ungeheuer heterogen sind. Aber der Ansatz, erst mal gleichzumachen, das finde ich schon fatal. Letzten Endes kommen Abiturienten schon mit einer Gesinnung an die Universität, die es ihnen schwer macht, zum Beispiel auf exzentrische oder außerhalb des Mainstreams liegende Forschungsthemen zu kommen.
    Weyh: Heike Schmoll, auch dazu haben Sie eine sehr interessante Reportage gehabt, kurz vor Weihnachten sind Sie nach Sachsen gefahren und haben sich da um die Begabtenförderung gekümmert, haben sich das angesehen. "Hauptsache, es erfährt niemand im Dorf", sagt die Mutter eines überdurchschnittlich begabten Kindes vom sächsischen Land. Das sagt ja eigentlich alles. Man darf nicht irgendwie schlau sein.
    Schmoll: Nein, man darf nicht schlau sein, vor allem, wenn sozusagen die Eltern eben keine Akademiker sind und keine Universitätsprofessoren, sondern einfach ganz einfache Leute vom Dorf. Die Mutter hat einfach Angst, dass sie aufgrund dieses hochbegabten Sohnes aus der Dorfgemeinschaft hinauskatapultiert wird. Und das ist genau dieser Druck - also im Grunde ist Gemeinschaft an die Stelle, und zwar eine erzwungene Gemeinschaft und eigentlich ein im Grunde voller terroristischem Druck belasteter Gemeinschaftsbegriff an die Stelle von Gesellschaft getreten. Und das, finde ich, ist wirklich problematisch. Das spiegelt diese Mutter sehr genau, und das spiegeln auch diese ganzen hochbegabten Kinder. Wenn man mit denen redet, dann ist man schon erschüttert, weil manche von ihnen ihr ganzes Leben ein Trauma mit sich tragen, dass sie in dieser Weise ausgeschlossen und ausgegrenzt wurden, dass man sie auf dem Pausenhof stehen lässt, dass man sie von Informationen abschneidet und dann irgendwie entsetzt ist, dass sie trotzdem immer noch überdurchschnittliche Leistungen bringen. Also es ist letzten Endes die Sehnsucht der anderen Klassenkameraden, die nicht so begabt sind, die sozusagen ‘runterzudimmen, gleichzumachen mit sich.
    Frankreich betreibt eine meritokratische Elitenförderung
    Weyh: Gibt es Gegenbeispiele in der Geschichte oder jetzt in der Gegenwart in anderen Ländern, wo das anders und differenzierter funktioniert? Oder ist der Mensch einfach so schlecht?
    Schmoll: Nein, das glaube ich nicht. Frankreich hat ein deutlich anderes Elitenförderungssystem. Nun muss man sagen, dass es ein rein meritokratisches System, und letzten Endes ist das französische System, was ja auch von Pierre Bourdieu ziemlich genau beschrieben wurde bis hin zur Etikettierung und zu den gleichen Umgangsformen, die dann später in der Wirtschaft eine Rolle spielen. Das französische System ist schon ein sehr klassengeleitetes System. Man hat große Probleme als Kind aus einem Vorort, in dem der Ausländeranteil bei 100 Prozent liegt, tatsächlich an das Elitegymnasium Henri IV in Paris zu kommen und dort in eine Classe Préparatoire zu kommen, die wiederum die Voraussetzung ist, um an eine Grande École, also an die Elitehochschulen, zu kommen in Frankreich. Daran hat auch nicht viel geändert, dass die Bildungspolitik da so eine Zone d'Éducation prioritaire, also eine sozusagen prioritär zu behandelnde Zone geschaffen hat, um gerade diese Kinder aus Migrantenschichten, aus ärmeren Schichten zu fördern. Letzten Endes ist es eine Meritokratie, aber eine, die sehr gut funktioniert. Im Grunde waren alle Regierungen und alle Regierungschefs weitgehend Absolventen der Grande École oder der ENA, der École Nationale d'Administration, bei der man im Grunde seine politische Karriere in der Tasche hatte. Das Problem dieses Systems kann man in Frankreich auch studieren, unter anderem an Fillon: Es ist sehr korruptionsanfällig.
    Weyh: Popper hat mal gesagt, dass man die Elite von Seilschaften und Cliquen kaum unterscheiden kann. Das scheint da ja so ein bisschen über Jahrhunderte gewachsen zu sein.
    Schmoll: Das ist so. Das würde ich auch sagen, dass das so ist. Natürlich bestätigen da auch Ausnahmen immer die Regel, aber es ist ein anfälliges System. Trotzdem finde ich die Unvoreingenommenheit der Franzosen, mit begabten Kindern auch entsprechend umzugehen und denen entsprechende Wege zu ermöglichen, irgendwie bewundernswert, weil ich hier doch immer deutlicher sehe, dass hochbegabte Kinder, überdurchschnittliche Studenten ihre Probleme haben in dem normalen System. Und das finde ich bedauerlich, weil dieses System dringend auf sie angewiesen wäre.
    Weyh: Das ist ja aber sozusagen ein Problem des Überbaus, der Grundideologie einer Gesellschaft. Ich habe bei Ihnen gelernt, in Ihrem Buch von 2008, dass es in Frankreich sozusagen zwei gleichrangige Ansprüche gibt, nämlich das Gesetz der Gleichheit aus der Französischen Revolution, und dass der Intelligenz an sich ein Rechtsanspruch aus Intelligenz erwächst, nämlich gefördert zu werden. Das kennen wir ja gar nicht.
    Schmoll: Nein, das kennen wir nicht. Nun muss man auch sagen, dass die Intellektuellen in Frankreich doch immerhin noch eine Stimme haben. Das vermisst man ja hier auch. Es ist ganz schwierig, außer den üblichen Verdächtigen wie Hans Magnus Enzensberger, der nun auch ein alter Mann geworden ist, und anderen, hier sozusagen Intellektuelle auszumachen, die sich in der Öffentlichkeit äußern und einfach auch angriffige Thesen äußern.
    Weyh: Außer Sloterdijk ist da eigentlich kaum noch jemand da.
    Schmoll: Richtig. Und der ist inzwischen sozusagen auch in seinem eigenen Spinnennetz der Gedanken eingewoben. Das ist auch schwierig, sozusagen auch mit dem überhaupt noch einen Dialog zu führen. Der ist eben monoerratisch und sicherlich unterhaltsam und erkenntnisreich, aber das Ganze müsste dann irgendwie auch sozusagen transportierbar sein. Das ist ja auch ein Anspruch an Wissenschaft von der Gesellschaft, die dafür jede Menge Geld ausgibt, irgendwie muss das gesellschaftlich schon relevant sein, nur darf das nicht die Voraussetzung für Forschung sein.
    Weyh: Einer dieser Großen, der allerdings wirklich sehr selten sich äußert, und schon gar nicht in persona in der Öffentlichkeit, ist Botho Strauß. Der hat vor 20 Jahren was geschrieben, ich glaube, das ist in einem Interview gewesen: "Man sucht die Besten aus als die Nützlichsten. Besser wäre es, den Dummen eine Chance zu geben, sich nützlich zu machen. Es ist kein Kunststück, aus jeder Masse Eliten zu züchten, wohl aber ist es eins, die Verblödung in der Breitenausdehnung zu begrenzen." Wenn ich das 2017, 20 Jahre später, lese, denke ich mir, eigentlich ist beides nicht passiert, weder die Verblödung eingegrenzt noch die Elite gezüchtet, wie er gesagt hat.
    "Begabtenförderung mit der Fixierung auf die Schwachen ist komplett misslungen"
    Schmoll: Ja. Man hat alles mögliche versucht, um die Verblödung einzugrenzen, oder sagen wir besser, Schwächere zu fördern. Das war nicht so übermäßig erfolgreich, weil man es immer nach demselben Muster gemacht hat: Man hat immer gedacht, es geht mit integrativen Systemen am besten, also alle in einer Klasse, möglichst alle mit den gleichen Anforderungen. Das Fatale ist, diejenigen, die am wenigsten gelernt haben, waren ausgerechnet die Schwachen. Und das ist im Grunde -
    Weyh: Wie kommt das? Gibt es da eine Erklärung für?
    Schmoll: Ja. Die Erklärung ist, dass die Schüler, die mittelbegabt sind oder überdurchschnittlich begabt sind, in jedem System irgendwie mitkommen. Aber die Schwachen brauchen wirklich Extra-Zuwendung. Die brauchen auch mal geschützte Räume. Das heißt, im Grunde müsste es eine äußere Differenzierung geben, so nennt man das in der Schule, das heißt, sie müssten dann auch mal die Möglichkeit haben, in einen separaten Klassenraum zu gehen und bestimmte Dinge, die sie einfach nicht verstanden haben, in einem geschützten Raum erst mal für sich zu begreifen und dann wieder den Anschluss an die Klasse zu finden. Das alles ist nicht mehr opportun. Im Gegenteil, man glaubt wirklich, dass sozusagen die Inklusion aller, auch Behinderter und Hochbegabter in ein und derselben Klasse, möglichst noch mit 28 Schülern, allen am gerechtesten würde. Und das ist eben nicht der Fall. Und die große Lebenslüge ist eben, die Schwachen ziehen den Kürzesten dabei.
    Also das, was man wirklich im Grunde versucht hat, die Begabtenförderung mit der Fixierung auf die Schwachen ist komplett misslungen. Man hat stattdessen auch noch die Förderung der Starken außer Acht gelassen. Und das schlägt den Politikern, gerade den Bildungspolitikern jetzt ziemlich um die Ohren, wobei man sagen muss, bisher sind das alles Lippenbekenntnisse. Alle sagen, ja, das geht natürlich nicht, dass unsere Spitzengruppe bei jeder PISA-Studie noch kleiner wird - und das ist so -, aber sie tun auch nicht wirklich was. Die Sachsen sind vorangegangen, haben dafür viel Prügel eingesteckt. Und man wird auch sagen müssen, auch in Sachsen stehen nicht ganze Kollegien dahinter, sondern da gibt es immer ein paar Lehrer, die sagen, wir ziehen da nicht mit, machen wir nicht, finden wir nicht gut. Aber es hat sich doch im Grunde ein gutes Begabtenförderungssystem etabliert, aber andere Länder sind da noch weit weit davon entfernt.
    Weyh: Da gibt es aber doch auch historische Wurzeln. Also gerade diese beiden Landesschulen, Schulpforta und Sankt Afra, haben ja eine lange elitäre Tradition. Das gibt es ja nicht unbedingt in allen anderen Bundesländern.
    Schmoll: Wenn Sie lange genug suchen, würden Sie in Baden-Württemberg durchaus auch so was finden. Dann würden Sie wahrscheinlich den Birklehof und Salem nennen.
    Weyh: Aber das sind Privatschulen, oder?
    Schmoll: Das sind Privatschulen, das ist richtig. Das ist sozusagen ein Sonderstatut in Sachsen, dass es diese Hochbegabtenschulen gibt. Was aus Schulpforta wird, wissen wir im Augenblick noch nicht. Sankt Afra läuft gut, das ist keine Frage. Aber letzten Endes müssen Sie dann immer auch sehen, auch Schüler in Sankt Afra, da gibt es eben so und so viele, die dann auch Sankt Afra nicht schaffen, einfach deshalb, weil sie dann plötzlich merken, ich habe das Lernen nie gelernt. Das ist das Problem der Hochbegabten. Denen ist immer alles zugeflogen und sie können nicht lernen. Und dann sind sie in so einer Schule, in der das Niveau natürlich deutlich höher ist als in den Zusammenhängen, in denen sie vorher waren. Und oft können sie dann nicht mithalten. Und mit diesem Scheitern, was noch sozusagen auf die ganzen Ausgrenzungserfahrungen drauf kommt, können sie dann nicht mehr umgehen.
    Angst vor Pluralität
    Weyh: Nun komme ich in diesem Gespräch eigentlich immer wieder auf denselben Punkt zurück, Sie hatten ihn vorhin in dem Vergleich zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, nämlich, dass es uns eigentlich an Differenzierung mangelt. Das ist der Rückfall ins Gemeinschaftliche, was eine egalitäre Geschichte sein soll. Haben wir Angst vor Differenzierung?
    Schmoll: Ja, wir haben Angst vor Differenzierung, wir haben Angst vor Pluralität, und wir fühlen uns im Grunde, glaube ich, überfordert von Moderne, die gerade daraus besteht, dass sie eben in unterschiedlich konkurrierenden Systemen - so muss man ja auch Eliten, gesellschaftliche, denken -, dass es unterschiedliche Segmente gibt, die miteinander konkurrieren, die aber auch immer wieder, zumindest, wenn sie klug sind, neue aufnehmen, also sozusagen Elitenaustausch betreiben. Aber das ist anstrengend. Es erfordert ständige Entscheidungen, es erfordert Selbstdenken. Das möchten nicht alle von morgens bis abends. Am liebsten möchten sie doch irgendeinem nachlaufen, der ihnen irgendetwas vorgibt. Das ist nun mal leider so geworden und das halte ich für hochgradig gefährlich.
    Weyh: "Elitenpluralismus ist freiheitssichernd", haben Sie damals geschrieben.
    Schmoll: Ja, da bin ich auch fest der Meinung, denn Eliten sind dann, wenn sie sozusagen als wachsame Beobachter von politischen Entwicklungen in bestimmten Situationen, wo man zum Beispiel merkt, ein demokratisches System kippt, da versucht jemand, autokratisch zu viel Macht an sich zu reißen, dann müssten sie eingreifen, nur nicht den Fehler machen, zu glauben, sie müssten dann selbst die Herrschaft übernehmen, sondern versuchen, dieses System so zu beeinflussen, dass eben es doch eine Demokratie bleibt, und sich dann wieder zurückziehen. So was wäre die Idealvorstellung, und deshalb glaube ich auch nach wie vor, dass ein funktionierendes, konkurrierendes Nebeneinander von Eliten durchaus demokratiesichernd sein kann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.