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Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie

Wer kennt das nicht: ein Geräusch, ein Geruch, eine Geste oder nur ein einziges Wort schon aus dem Munde eines Anderen - und schlagartig sind die Weichen gestellt, ist unwiderruflich entschieden über unsere Zuneigung, meist aber über unsere tiefe Abneigung. Idiosynkrasie, ist das ursprünglich aus dem Griechischen stammende Wort für diese dem Menschen wohl so eigene Empfindlichkeit. Warum aber, wie und wann schlägt dieser idiosynkratische Blitz ein? Dieser Frage, bzw. den so verschiedenen Erscheinungsformen dieser "eigentümlichen Mischung", als die die Idiosynkrasie im Deutschen gilt, geht Silvia Bovenschen in ihrem Buch "Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie" auf den Grund. Entstanden ist daraus - das sei vorweg gesagt - eine nicht nur äußerst materialkundige und faktenreiche Spurensuche quer durch Alltagsphänomene und Lektürepfade. Allem voran nämlich ist ihre Schrift nichts weniger als eine leidenschaftliche Apotheose dieser verborgen in uns waltenden Macht, der blinden Eigenwilligkeit unserer Reaktionen, die unser Verhältnis zur Außenwelt umgreifend prägt.

Claudia Kramatschek | 22.05.2001
    So umgreifend, dass es schwer zu sein scheint, des Phänomens wirklich habhaft zu werden, es begrifflich exakt umreißen zu können. Davon zeugt schon seine Ideengeschichte, auf die Bovenschen in ihrer eher kaleidoskopartig strukturierten Annäherung u.a. auch zu sprechen kommt: Aus der ptolemäischen Naturphilosophie stammend, so Bovenschen, verwandelte sich die Idiosynkrasie mal der Medizin, mal der Psychologie, dann wieder der Philosophie an. Wer Idiosynkrasie sagte, meinte je nach Epoche zugleich auch Antipathie, Allergie, Atopie oder Phobie, Hysterie oder Melancholie... Ein grenzüberschreitendes Wortchamäleon demnach, bekennt auch Bovenschen, wie mit einem leisen Seufzer in der Stimme:

    Idiosynkrasie - die Arbeit an und mit ihr weist ins Uferlose. Sie führt schließlich dazu, dass sich die Idiosynkrasie im Fortgang der Beschreibungsbemühungen zunehmend in die Struktur jeder Reaktion, in die Gestalt jedes Phänomens, in die Figurationen jeder Lektüre einzuschreiben droht.

    Vor der Uferlosigkeit besagten Gestaltwandels ist, das muß leider kritisch angemerkt werden, auch Bovenschens Schrift nicht ganz gefeit. Denn nicht alle der von ihr in Betracht gezogenen 'Spielformen der Idiosynkrasie' überzeugen als eben solche: Das Vergessen z.B. als idiosynkratischen Streik des Hirns zu postulieren, bewegt sich ebenso zwischen Bemühtheit und Beliebigkeit wie auch ihr Nachsinnen darüber, ob über Kunst jenseits von Idiosynkrasie überhaupt gesprochen werden kann.

    Die Stärke ihres Buches dagegen erweist sich dort, wo Bovenschen das Phänomen der Idiosynkrasie in seinem populärsten und damit auch substantiellen Sinne zu erfassen sucht: als ein einzigartiger Ausdruck eines einzelnen Individuums, in dem sich körperliche und sprachliche Reaktion auf unwiederholbare Weise miteinander vermengen. Es ist genau diese Einzigartigkeit, die Bovenschen am idiosynkratischen Widerwillen fasziniert, sieht sie doch in solcher Unverwechselbarkeit einen der noch wenigen und zugleich ursprünglichen Momente des Individuums, in dem es sich als genau solches vergegenwärtigen kann - ja, mehr noch: sich als Individuum überhaupt erst verwirklichen wird: Idiosynkrasie bezeichnet demnach nichts weniger als, so Bovenschen: das Moment, in dem der Betroffene in der diffusen Kombinatorik eigentümlicher Reaktionen sich seiner selbst gewahr wird (..). Das, was wir Individualität nennen, läge demzufolge im Koordinatensystem unserer Zu- und Abneigungen.

    Doch Bovenschen spürt im weiteren auch die mögliche gesellschaftliche Brisanz solch einer strukturellen Macht des Idiosynkratischen auf und führt dafür - neben anderen theoretisch gewichtigen Gewährsmännern wie Kant, Richard Rorty oder auch Paul Valéry - u.a. auch Adornos Begriff der Idiosynkrasie an. Dieser hatte in der "Dialektik der Aufklärung" von der Idiosynkrasie als Antwort gesprochen, auf die sich die Antisemiten berufen. Und tatsächlich wirft einen die Idiosynkrasie, so sehr man sich darin auch als Individuum zu verwirklichen mag, zugleich auch stets zurück auf die Existenz eines in jedem Sinne Anderen, auf die Soziabilität, der man ebenso unterliegt. Immer nämlich ist sie Re-Aktion, Reaktion gegen ein Etwas, meist aber auf ein menschliches Gegenüber. Wobei man in diesem Fall die Erklärung des Widerwillens, so Bovenschen, gerne in das Gewand der Physiognomie kleidet, sprich: aus äußeren Merkmalen die scheinbare Berechtigung ableitet, diesen Andern abzuurteilen. Das traurige Gespenst der Rassentheorie und die neuerstarkte Fremdenfeindlichkeit kommen dem Leser dabei ebenso rasch in den Sinn, wie Bovenschen die Frage aufwirft, was wäre, wenn der Mensch als idiosynkratisch verfasstes Wesen gar nicht anders könnte? Denn definiert ihn die Erfahrung der Differenz, so das Bovensche Planspiel, muss er zugleich negieren, was ihn diese Differenz erfahren lässt. In einem ganz allzumenschlichen-unmenschlichen Sinne wäre die Idiosynkrasie dann, so Bovenschen: "der Moment des Schreckens in der Begegnung mit dem Anderen (...), das Idiosynkratische ein Strukturelement (..) auch außerästhetischer Erfahrung"

    Die Hass-Kultur, von der vor kurzem auch die Journalistin Ina Hartwig in Bezug auf den deutschen Neofaschismus sprach, würde hier zumindest ein argumentatives Raster finden. Doch trotz solcher auch warnenden Töne ist Bovenschen eine dezidierte Verfechterin des Idiosynkratischen, dieser Empfindungsmembrane, die uns wie eine zweite Haut schützt und verletzbar zugleich macht, in der wir ganz wir und doch völlig außer uns sind. Diese Paradoxie der Empfindung teilt sie im Übrigen mit der des Schmerzes - und es wird kein Zufall sein, dass Bovenschen diese thematische Paarung zum Abschluss ihres Buches bedenkt. Es ist der leidenschaftlichste Teil, auch stilistisch von einer Verve, die manch anderen, mal rhetorisch, mal mit Nominalstil überladenen Passagen leider oftmals fehlt. Hier aber ist es, als kämen die Idiosynkrasie und die Autorin ganz zu sich selbst, als nähme hier alles seinen Anfang. Tatsächlich lässt sich ihre lustvolle Streitschrift auch lesen als eine Schule der Wahrnehmung: eine Aisthesis des täglichen Lebens, das sich gerade in solcher Empfindsamkeit zu leben lohne:

    "Solange wir idiosynkratisch reagieren", so Bovenschen, " sind wir noch ganz in der Welt, wollen wir etwas von ihr."