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Über Entwurzelungen

In Zeiten der Migration ist die jüdische Diaspora, eine Erfahrung, die zum Kennzeichen der Gegenwart wird. Diese Ansicht vertritt der in Düsseldorf lehrende Germanist Bernd Witte in seinem Buch über "Jüdische Tradition und literarische Moderne".

Von Kersten Knipp | 13.02.2008
    Ein Volk verlässt seinen angestammten Boden, zieht durch die Wüste und empfängt dank göttlicher Offenbarung sein Gesetzeswerk. Wo es leben wird, weiß dieses Volk vorerst noch nicht. Wie es sich aber verhalten, welche Regeln, Riten, Ratschläge es fortan zu befolgen hat, dessen ist es sich dafür umso gründlicher bewusst. Das kann man durchaus als Gnade empfinden: Denn ein Volk, das schon keine äußere Heimat mehr hat, hat zumindest eine innere. Und genau diese Wandlung der territorialen in eine ideelle Heimat lässt die Legende vom Auszug der Juden aus Ägypten und des Empfangs der Gesetzestafel am Berge Sinai bis heute aktuell erscheinen.

    So jedenfalls sieht es der in Düsseldorf lehrende Germanist Bernd Witte, der diesen Wandel in seinem Buch über "Jüdische Tradition und literarische Moderne" als wesentliches Paradigma auch der modernen Erfahrung sieht. In Zeiten der Migration, so Witte, sei die jüdische Diaspora, der Aufbruch aus der Heimat und die Hinwendung zum Wort als einzigem Garanten für die Aufrechterhaltung der Tradition, eine Erfahrung, die zum Kennzeichen der Gegenwart werde.

    "Im Judentum ist die Schrift als 'Urmedium' des kulturellen Gedächtnisses zum Ersatz der irdischen Heimat geworden. Damit ist in seiner Geschichte zum ersten Mal das Phänomen aufgetreten, das heute an einer wachsenden Zahl von Menschen zu beobachten ist, deren Leben durch Migration geprägt ist. Kultur als Heimat in der Fremde kann kein in sich geschlossenes System mehr sein, ist von dauernden Grenzüberschreitungen und Vermischungen geprägt. Sie begründet so die 'kosmopolitischen Mehrfach-Identitäten', die zuerst für die in der Diaspora lebenden Juden charakteristisch wurden und die heute auf einen immer größeren Teil der Menschen zutreffen."

    Dennoch beschränkt sich Witte in seiner Studie auf einen kleinen, sehr kleinen Teil der Menschheit. Ihn interessiert, wie vier jüdische Dichter und Denker der Moderne - Heinrich Heine, Martin Buber, Franz Kafka und Walter Benjamin - die Erfahrung von Disapora und innerer Heimat in ihren Werken aufgenommen und gedeutet haben. Herausgekommen ist eine sehr dichte, eng an den Texten sich orientierende Lektüre, die das Phänomen der Moderne, verstanden als Auflösung aller verbindlichen Orientierungen, gerade in der Auseinandersetzung mit der Tradition zu erfassen sucht. Dies aber wiederum nicht im Sinne letztlich wenig aussagefähiger Verallgemeinerungen, sondern in Form hartnäckiger philologischer Kleinarbeit, die sich von der Frage leiten lässt, was Entfremdungserfahrung und Hinwendung zur Tradition für die einzelnen Autoren persönlich bedeuteten. Gemeinsam ist ihnen dieses: Bei allen bewegt sie sich im Spannungsfeld von Tora und Talmud, also einerseits der göttlichen Offenbarung und andererseits dem gewaltigen Schatz der Kommentare, mit dem die Menschen diese zu begreifen suchten. Doch die Diaspora bedingt, dass die Wahrheit sich verflüchtigt, oder eher, dass sie fortlebt allein in den Kommentaren der Gläubigen, der niemals endenden Auseinandersetzungen mit dem göttlichen Wort. So gilt für alle Autoren, was Witte schon für Moses Mendelssohn als Paradigma religiöser Erkenntnis ausmachte. Mendelssohn, so Witte, rede

    "unter Berufung auf die talmudische Tradition einer radikalen Anthropologisierung der Erkenntnis das Wort. Wahrheit wird nach ihm nicht im System, sondern in der kommentierenden Entfaltung vorgegebener Texte erfahren."

    Das Bekenntnis zum immer nur vorläufigen Wahrheitscharakter verschärft sich noch im Werk Heinrich Heines. In seiner Erzählung "Der Rabbi von Bacharach" konfrontiert er das europäische Judentum mit der tödlichen Gefahr des Antisemitismus. Das Paschafest am Rhein endet in der Flucht vor dem drohenden Pogrom. Damit nimmt Heine die Erfahrung des erzwungenen Aufbruchs wieder auf, der Flucht in eine ungewisse Zukunft, ebenso die Ankunft in der politisch hoch bedrängten Wirklichkeit. Und wie die Familie durchläuft auch der Text eine Reise aus dem geweihten in den profanen Raum. Dadurch, so Witte, spiegele Heine die Fluchtbewegung der Protagonisten auch formal.

    "[Die Erzählung] konstituiert sich als Auszug aus dem kanonischen Text der Heiligen Schrift in die fiktionale Schrift der Literatur, wobei allerdings die Funktion die gleiche bleibt. Im literarischen Text soll - wie im kanonischen - das kulturelle Gedächtnis des eigenen Volkes bewahrt werden. Er wird zum haggadischen, erzählerischen Kommentar einer heiligen Ursprungsschrift, die als solche ihres eigentlichen Inhalts verlustig gegangen ist, die nur noch als Zitat gegenwärtig gehalten werden kann. In doppelter Weise, inhaltlich und formal, stellt sich Heines Erzählung damit als Schrift im Exil dar."

    Wie aber hält sich der Geist im Angesicht der Bedrohung? Er weicht zurück, er löst sich auf. Allein im osteuropäischen Judentum, meinte zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Philosoph und Theologe Martin Buber, hat sich die jüdische Tradition in ihrer ursprünglichen Lebendigkeit erhalten. Doch Buber, zeigt Witte, pflegte ein allzu pathetisches Bild des Judentums, sein Wort vom Blut als "Substanz" des Judentums kam nicht mehr an beim jüdischen Bürgertum, blieb allein mit seiner Erdenschwere, dem starren Blick auf den Schatz einer längst brüchig gewordenen Tradition. Ungleich angemessener brachte das skeptische Lebensgefühl der Moderne ein jüngerer Dichter, Franz Kafka, zum Ausdruck. "Etwas zähes Judentum ist noch in mir", notierte er im Februar 1915 in seinem Tagebuch. Doch die Erfahrungen mit Vertretern des Chassidismus, über die Kafka dann berichtet, verlief enttäuschend. Die jüdische Tradition, umreißt Witte die Erfahrung des Dichters, ist an ihr Ende gekommen.

    "Eine tiefere Enttäuschung als die Kafkas bei seiner Begegnung mit den ostjüdischen Repräsentanten des Chassidismus ist schwer vorstellbar. Hier hatte sich eine Lebensform, deren Heiligkeit und Reinheit ihm von seinen Freunden als vorbildlich gepriesen worden war, als Scharaltanerie erwiesen. So mag man einige Gedichtzeilen, die er am 19. Juli 1916, ... , ins Tagebuch notiert, nicht nur auf die irregeführten Anhänger des Chassidismus beziehen, sondern vor allem auch auf ihn selbst und die kulturzionistischen Intellektuellen, die in den Zaddikim das Idealbild des vollkommenen Menschen gefunden zu haben glaubten: "Träume und weine, armes Geschlecht / findest den Weg nicht, hast ihn verloren / Wehe! Ist Dein Gruß am Abend, Wehe! am Morgen."

    Noch mehr hat sich die jüdische Tradition für Walter Benjamin aufgelöst, den Witte darum auch nur bedingt als dezidiert jüdischen Intellektuellen porträtiert. Insgesamt kann man Wittes Buch als Chronik einer zwischen Tradition und Aufbruch schwankenden Identitätssuche verstehen. Nach den Verbrechen des Nationalsozialismus ist diese Suche längst nicht an ihr Ende gekommen. Anders als lange Zeit zuvor aber kann sie nun als Paradigma einer immer mehr Menschen betreffenden Entwurzelungserfahrung gelten.


    Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine - Buber - Kafka - Benjamin
    Hanser, 2007
    271 Seiten, 24,90 Euro