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Über Ruhm, Romane und die Realität

Ein Mann erhält mit seinem neuen Handy auch gleich eine neue Identität, ein Internetblogger möchte eine Romanfigur sein, ein Autor wiederum diskutiert mit seiner Romanfigur über Leben und Tod. In seinem neuen Roman "Ruhm" gelingt Daniel Kehlmann ein raffiniertes Spiel zwischen Realität und Fiktion, elektronischer und realer Welt. Es gehe um das alte Thema der "Diskrepanz von Fremd- und Selbstwahrnehmung", so Kehlmann.

Der Autor Daniel Kehlmann im Gespräch mit Martin Krumpholz | 16.01.2009
    "Ich weiß jetzt gar nicht mehr, wer das war, der gesagt hat, das alles was über 100.000 Mal verkauft wird, ein Missverständnis ist. Insofern hat das ganz sicher auf Missverständnissen beruht, wie alles, was sehr viel verkauft wird, auf Missverständnissen beruht. Ich lasse darüber lieber andere spekulieren.

    Aber ich wüsste gerne einmal, was ein wirklich guter Soziologe dazu sagt. Ich denke, dass da natürlich Faktoren mitgespielt haben, die mit dem Buch als literarischem Werk gar nichts zu tun haben, aber ich bin nicht wirklich kompetent, das zu beantworten. Ich weiß es auch nicht und stehe immer noch verblüfft, erfreut, ein bisschen erschrocken vor diesem Phänomen."

    Klirrende Kälte in Wien. Von der Straße her hört man Pferdegetrappel, denn Daniel Kehlmann wohnt im ersten Bezirk, unweit der Hofburg. In der Nachbarschaft entdeckt der Besucher eine "Detektivakademie". In diesem inspirierenden Milieu, gemischt aus k.u.k.-Herrlichkeit und einer dodererhaften Hinterhofstiegenidyllik, ist also "Die Vermessung der Welt" entstanden, der Überraschungsbestseller des damals 30-jährigen Schriftstellers, der an ein größeres Missverständnis glaubt und nun zeigen will, dass er für weitere Überraschungen gut ist.

    Der Erfolg der Herren Gauß und Humboldt und ihrer teils penibel rekonstruierten, teils virtuos erfundenen Lebenswege hat natürlich allenthalben einen beträchtlichen Erwartungsdruck freigesetzt. Wie geht man bloß mit so etwas um?

    "Man ist verunsichert, weil man weiß, dass so viele Leser gespannt auf was Neues warten, aber gleichzeitig dasselbe gern noch einmal hätten. Das Wissen, dass man naturgemäß, wenn man sich als Künstler weiter entwickeln will, wie man das ja auch möchte, dass man auf die Enttäuschung so vieler Menschen zuarbeitet. Daher kommt die wirkliche Verunsicherung. Nicht daher, dass ich den Erfolg wiederholen oder übertreffen möchte. Da war ich immer sehr gelassen. Weil ich wusste: Der Erfolg ist nicht zu übertreffen und unwiederholbar."

    Kehlmann hat also, sehr selbstbewusst, etwas ganz anderes riskiert. Einen Gegenwartsroman, der gar kein klassischer Roman ist, sondern ein Reigen von neun Erzählungen; dessen vermeintlich triumphaler Titel "Ruhm" etwas Glitzerndes, Glamouröses erwarten lässt, der aber das Gegenteil davon darstellt: ein düsteres, geradezu schopenhauerisch pessimistisches Buch über diffuse, sich auflösende Identitäten. Und doch gibt es einiges zu lachen; bereits in der ersten Geschichte mit dem Titel "Stimmen", in der ein Angestellter einer Computerfirma infolge einer Vertauschung der Handynummern in die Vita eines bekannten Schauspielers "rutscht". Und plötzlich wird sein Leben viel aufregender.

    Das ist das Prinzip dieses Buchs: Figuren rutschen aus ihren Geschichten heraus, in andere hinein, gehen gänzlich verloren oder werden von ihren großmächtigen Autoren erlöst.

    "Es ist ein düsteres Buch geworden und gleichzeitig ein komödiantisches Buch. Ich finde nicht, dass sich das ausschließen muss. Ich finde ja, dass man von düsteren und dunklen Dingen am Besten in kühlem belustigten Ton erzählt. Das ist die große Entdeckung Voltaires."

    Es gibt eine Fülle erheiternder Momente. Etwa wenn Ebling, der Computermann, zögernd die fremde Rolle annimmt und der Leser verblüfft feststellt, wie leicht es ist, bestimmte Kenntnisse vorzutäuschen: Ebling bemerkt über eine Wildfremde aufs Geratewohl, "Katja ist erstaunlich" - das kostet ihn nichts, weil man diesen Satz tatsächlich über jeden Menschen auf der Welt sagen kann.

    In Anlehnung an die Organisation "Ärzte ohne Grenzen", die gelegentlich vorkommt, könnte man diese Texte Geschichten ohne Grenzen nennen: Zwar kann jede für sich stehen, als Short Story mit sacht surrealen Einschlägen, und doch sind die Übergänge zu anderen Texten stets offen, einzelne Figuren tauchen mal als Haupt-, mal als Nebenfiguren auf.

    Der Leser mit dem perfekten Gedächtnis wird das Buch mit dem allergrößten Vergnügen goutieren. Alle anderen sollten es wohl zweimal lesen. Wenn aber dieses Buch mit Fug und Recht ein Roman ist, was heißt das eigentlich für die Definition des Romans?

    "Das Schöne am Roman ist, dass er für so viele Experimente durchlässig ist. Sobald man ihn definieren möchte, sobald man sagen möchte, ein Roman muss nun wirklich in Prosa geschrieben sein, kann zum Beispiel jemand kommen und einen Roman in Versen vorlegen. Und so ist es mit so ziemlich allem, letztlich enden wir wirklich bei der Länge, und dass in irgendeiner Form es mit Narration zu tun haben muss. Mein Experiment bestand darin, eine Sammlung von abgeschlossen Texten nebeneinander zu stellen, zusammen zu schreiben natürlich auch, so dass daraus ein Roman wird. Ein Roman ohne Helden, ohne eine einzelne Hauptfigur. Ein Roman zusammengehalten aus Bezügen und Motiven."

    Da gibt es zum Beispiel den fettleibigen Blogger Mollwitz, der sich in einem sogenannten "Beitrag zur Debatte", in einem unfreiwillig witzigen und eigenwilligen Idiom, den Frust von der Seele schreibt; dessen ganze existentielle Aporie aber mittelbar, durch die Lücken im Text und durch die Spiegelungen in anderen Texten, erfahrbar wird. Die Geschichte bekommt einen doppelten Boden und zugleich eine doppelte Komik.

    "Dieses alte Thema, die Diskrepanz von Fremd- und Selbstwahrnehmung. Und die Frage, inwiefern man sich selbst so sehen kann, wie man wirklich ist. Das ist auch eine Frage, die in ihrer pathetischen und in ihrer ironischen Dimension in dem Titel 'Ruhm' schon ausgedrückt ist. Das Phänomen des Ruhms bedeutet, dass viele Menschen einen Menschen sehen und ihn sehen, wie er glaubt zu sein und all diese Dinge. Aber diese Art der Konfrontation, wie funktioniert Selbstwahrnehmung und so weiter, dem kommt diese Form eines Romans in Geschichten sehr entgegen, weil man noch viel stärker und drastischer, als man das normal kann in einem Roman, die Perspektive ändern kann, das Erzählen immer völlig neu anhebt. Und wenn die gleichen Figuren erneut auftreten, eine völlig neue Perspektive auf sie möglich ist."

    Bleibt die Eröffnungsgeschichte noch relativ harmlos, wird es in der Erzählung über die Krimiautorin, die auf einer Exkursion verlorengeht, bitter ernst. Ihre surreale Temperatur gewinnt die Geschichte aber nicht durch surrealistische Tricks: Alle Vorgänge, alle Zufälle, die sich hier so ungut verhaken, sind durchaus in der Realität vorstellbar.

    Das ist nicht überall so, und es spricht für Kehlmanns Virtuosität und Vielseitigkeit, dass er sein Buch tatsächlich vielfarbig anlegt, auch was den fiktionalen Status der einzelnen Geschichten betrifft. Es gibt eine Figur, einen Schriftsteller namens Leo Richter, die hier eine Schlüsselrolle einnimmt. Als handelnde Figur, als Begleiter seiner Freundin Elisabeth, einer Ärztin, nach Mittelamerika, erscheint Richter hysterisch und weltfremd.

    Beiläufig wird erwähnt, dass er die berühmte Geschichte "Rosalie geht sterben" verfasst habe. Diese Geschichte ist nun natürlich Bestandteil des Buchs, und hier, in der Geschichte über eine krebskranke Frau, zeigt der Schriftsteller Richter seine großzügige Seite: Er "erlöst" Rosalie von ihrem Leiden, als allmächtiger Schöpfergott, und lässt sie gesund nach Hause gehen. Er ruiniert also selbstlos seinen Text, zugunsten der Figur.

    Kehlmann seinerseits hat damit seinen Text - den nämlichen - auf eine andere Ebene katapultiert, auf die Ebene der Metafiktionalität, auf der die Tatsache, dass es sich um Literatur handelt, zugleich reflektiert wird. Wieder anders sieht es am Schluss aus, in einem geradezu schroffen Epilog, in dem sich fiktionale und metafiktionale Ebene fast ununterscheidbar vermischen.

    "Das ist ein Thema, das mich immer wieder fasziniert hat, wenn Identität etwas nicht so festgefügtes ist. Im Konzept der Identität liegt die Bedrohung der Identität. Die Vorstellung, das wir so etwas Festes und Unveränderliches und Ewiges sind, das durch äußeren Einfluss nicht berührt oder verändert werden kann, dass es einen unberührbaren seelischen Kern in uns gibt, ist etwas, das man in Asien ja nie so sehr hatte. Eine typisch abendländische Vorstellung, die mir tatsächlich immer zweifelhaft war. Oder anders gesagt: Die Tatsache, dass das was ist, zweifelhaft ist, daraus kann ich als Künstler etwas machen."

    In dem Autor Leo Richter, den wir in der Erzählung "In Gefahr" kennenlernen, könnte man fast ein selbstironisches Kehlmannporträt sehen. Bei seinem ersten Auftritt kündigt Richter ein Projekt an, das dem ähnelt, das wir hier lesen. Und es heißt über ihn, er sei ein "Autor vertrackter Kurzgeschichten voller Spiegelungen und unerwartbarer Volten", was haargenau auf "Ruhm" zutrifft; dann aber kommt eine recht boshafte Wendung, nämlich: diese Storys seien "von einer leicht sterilen Brillanz".

    "Diese Formulierung mit der leicht sterilen Brillanz ist natürlich auch wiederum gesehen durch die Perspektive von Leos Geliebter Elisabeth, die auch eine gewisse Ambivalenz ihm gegenüber hat, als Mensch und als Künstler. Aber ich bin ganz sicher, wir können schon eine Wette abschließen, dass der ein oder andere, der was Böses über mein Buch sagen will, und die gibt es ja naturgemäß immer, der Versuchung nicht wird widerstehen können, diese Stelle zu zitieren. Es ist nicht unbedingt die Absicht, warum es dasteht. Aber es wird auch als Falle funktionieren."

    Ehrenwort: "Ruhm" ist ein ganz und gar lebendiges Buch! Auch wenn es, was akademisch klingen mag, nicht zuletzt ein Buch über Fiktionalität ist, über den Autor als Schöpfer, als zweiten Gott.

    In der Euthanasie-Geschichte "Rosalie geht sterben" zeigt der Schriftsteller Leo Richter sich von einer sehr großzügigen Seite - die allerdings zugleich auch mit der Problematik der Willkürherrschaft eines Autors über seine Kreationen zu tun hat: Richter lässt Rosalie aufgrund einer unheilbaren Erkrankung zu einem Sterbehilfe-Institut nach Zürich reisen, alle Formalien sind erledigt. Dann aber fängt Rosalie an, mit ihrem Autor zu hadern, es gehe doch nicht nur um die Plausibilität der Story, sondern um ihre ganze Existenz, meint sie, und tatsächlich: Richter taucht plötzlich leibhaftig in seiner Geschichte auf, "erlöst" Rosalie von ihrer Krebserkrankung, begnadigt sie gewissermaßen und schickt sie nach Hause. Das ist generös.

    "Wie Proust so schön gesagt hat, sind die Bücher, die wir schreiben, das Produkt eines anderen Ich, als das, das das Gesellschaftsleben, das gesellige Leben bestreitet. Und diese Geschichte ist natürlich in der Logik des Leo Richter und weist ihn auch als Künstler aus. Ich hatte das Gefühl, man darf nicht nur einen Künstler erfinden und behaupten, das sei ein Künstler, in diesem Fall kann man wirklich überprüfen, was für eine Art von Schriftsteller Leo Richter ist. Er sagt, dass 'Rosalie' seine beste, berühmteste und wichtigste Geschichte ist. Es ist tatsächlich eine kühne Tat von mir. Auf die Gefahr, mich lächerlich zu machen.

    Es wird auch an anderen Stellen als wichtige Geschichte ausgewiesen; das ist vielleicht das Selbstmörderisch-Kühnste, was ich als Schriftsteller je getan habe. Besser jetzt nicht mehr darüber nachdenken! Es ist zwar die Geschichte, die metatextuell am weitesten geht, aber es ist auch die existenziell ernsteste Geschichte, die wirklich die Frage aufwirft: Wenn es irgendeine Instanz gibt, die auf uns herabsieht, wenn es eine Art göttliche Instanz gibt, warum hilft sie uns nicht aus dem Leid. Die Geschichte spielt damit auf eine ernste Art. Es ist das gleiche Verhältnis, das wir zu Romanfiguren haben, wir erfinden sie auch, um sie leiden zu lassen, und weil das Ganze einen dramaturgischen Zweck hat. Rosalie will das ebensowenig hinnehmen wie ein revoltierender meuternder Mensch in seinem Schicksal das hinnehmen will.

    Das war eine ganz wichtig Frage, dass das eine Geschichte sein musste, die über dem metatextuellen Spiel, das Gespräch mit dem Autor, ihre existenzielle Dimension nicht aufgibt; und am Schluss entscheidet sich Leo der Autor und dadurch auch ich als Autor, schließlich bin ich der Autor, ich kann es nicht leugnen, der Figur diesen Schluss zu ermöglichen. Letztlich entscheidet sich der Autor tatsächlich, seine Geschichte zu "verderben" und für den Schluss ihr das Leben zu schenken. Denn er kann es ja. Nur nützt ihr das schließlich auch nichts, denn die Geschichte endet ja. Also die Frage, warum der Autor ihr nicht beispringt, wird letztlich nicht beantwortet, aber dadurch ad acta gelegt, dass sie sowieso aufhört zu existieren, nur auf die viel friedlichere Art, dass man die Seite umblättert. Und sie damit schon nicht mehr existiert."

    Miguel Auristos Blancos, der brasilianische Esoterikautor, schreibt in seiner sarkastischen "Antwort an die Äbtissin", die gern gewusst hätte, warum Gott so gut ist und die Menschen so liebt, davon könne keine Rede sein - im Gegenteil, die Schöpfung sei misslungen, Gott überhaupt nicht zu rechtfertigen. Damit katapultiert er urplötzlich die ideelle Basis seines fulminanten Erfolgs aus der Welt.

    "Die Frage der Rechtfertigung Gottes spielt natürlich auch in der Rosalie-Geschichte eine große Rolle. Da ist die Rechtfertigung des Erzähler-Gottes gegenüber dem Leiden seiner Figur, und dadurch stellt sich auch die Frage eines wirklichen Gottes und seiner Rechtfertigung gegenüber unseren Leiden.

    Ich glaube tatsächlich, dass der Punkt, wo religiöse Welterklärungen moralisch scheitern, die sogenannte Theodizee ist, also das Leiden der Kreatur, das Leiden der Menschen. Gauß sagt einmal in der 'Vermessung der Welt', er glaubt nicht, dass ein jüngstes Gericht stattfinden wird, weil: Vor Gericht kann man sich auch verteidigen und man könnte für Gott sehr unangenehme Gegenfragen stellen bei diesem jüngsten Gericht. Und das ist tatsächlich eine Überzeugung, die ich habe. Und dieses freundliche, warme Weltbild, in dem man das Leiden der Kreatur gegenüber Gott rechtfertigen möchte, gegenüber einer Gottesvorstellung, es hat schon alles seinen Zweck, es ist schon alles nötig, das ist letztlich unmoralisch; dazu hat niemand das Recht, das Leiden anderer Menschen zu rechtfertigen. Niemand hat das Recht das Leiden anderer Menschen für irgendeinen großen Plan für akzeptabel zu erklären.

    Das ist auch meine Aggression gegenüber diesem erfundenen Esoterik-Autor mit seinem freundlichen Weltbild der Versöhnung, wo man den Leuten auch immer wieder sagt, dass sie an ihrem eigenen Leiden letztlich schuld sind, sie müssten nur etwas an ihrer Einstellung ändern, dann wäre alles gut: Das ist letztlich auch etwas Unmoralisches - etwas, das einen empören kann."

    Dabei hat Daniel Kehlmann in Wien ein von Jesuiten geleitetes Gymnasium besucht. Markiert der Roman "Ruhm" die definitive Abkehr der dort vermittelten transzendentalen Werte? Schließlich heißt es über die starken Worte des Brasilianers ausdrücklich, sie seien nicht einfach seine "Meinung" - sie seien "bloß wahr".

    "Ja, die Jesuiten: Einige davon wären die Ersten gewesen, die mir hier zustimmen würden. Voltaire, der größte Feind den die katholische Kirche je hatte, unterhielt Zeit seines Lebens die freundlichsten Beziehungen zu seinen ehemaligen jesuitischen Lehrern. Das hat eine schöne Tradition."

    Daniel Kehlmann: Ruhm
    Ein Roman in neun Geschichten
    Rowohlt Verlag, 205 Seiten, 18,90 Euro