Freitag, 19. April 2024

Archiv


Überalterung, Kostendruck und fehlendes Gemeinschaftsgefühl

Organisationen der Jugendhilfe oder des Pflegewesens, Kultur- und Bildungsvereine spüren den allgemein angezogenen Leistungsdruck in der Gesellschaft. Zusätzlich vernetzen sich junge Menschen nicht mehr in solchen Organisationen, sondern im Internet, sodass der Nachwuchs fehlt.

Von Barbara Leitner | 30.08.2012
    "Was schon überraschend ist, dass wir festgestellt haben, dass es zwar einerseits diesen Rationalisierungsdruck gibt in diesem Bereich, gerade in den Organisationen gemeinnützige GmbHs, die im Dienstleistungsbereich vor allem tätig sind, dass wir aber dort festgestellt haben, dass es eine hohe Orientierung gibt an so Werten wie Gemeinwohl, durchaus auch Förderung des sozialen Engagements, dass es dort nicht, was wir zum Teil erwartet haben, zu einer Verdrängung von solchen Einstellungen gekommen ist, sondern dass dort beides besteht. "

    Patrick Droß ist Sozialwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und gehört der Projektgruppe Zivilengagement an. Die befragte in einer groß angelegten Studie über 3000 Vereine, gemeinnützige GmbHs, Genossenschaften und Stiftungen. Sie wollten herausfinden, wie sich die Organisationen zwischen den eigenen Ansprüchen und den ökonomischen Herausforderungen in der Gegenwart bewegen. Vor allem für Vereine und gemeinnützige GmbHs fällt zunehmend der Staat als zuverlässiger Finanzierungspartner aus. Statt fester Zuschüsse werden nun Leistungsentgelte bezahlt und nur noch bestimmte Budgets gewährt. Dadurch verlieren Dienstleister im sozialen und Gesundheitsbereich ihren Gestaltungsspielraum.

    "Da geht es um Projekte, geht es um Klienten, um Aufträge und da ist natürlich die große Frage, was hat das für Auswirkungen in den Organisationen. Wir haben relativ viel festgestellt, strukturelle Veränderungen, Rationalisierung, auch eine Professionalisierung der Arbeitsweise. Es werden vermehrt betriebswirtschaftlich Instrumente eingesetzt, auch Qualitätsmanagement, was es früher nicht so viel gab in diesem Bereich. "

    Der sogenannte "dritten Sektor" wirkt für den Zusammenhalt der Gesellschaft und ist vielfältig. Große soziale Unternehmen in der Pflege oder Wohnungsbaugenossenschaften zählen dazu wie Stiftungen, die sich um Kultur und Bildung kümmern, aber auch Heimat- oder Feuerwehrvereine im ländlichen Raum sowie Vereine, die sich für Freizeitangebote oder den Naturschutz engagieren.
    In der Befragung gaben wenigstens ein Drittel der Vereine, Genossenschaften und gemeinnützigen GmbHs an, dass ihnen in den zurückliegenden Jahren staatliche Zuwendungen gestrichen wurden.

    "Wir sind immer noch unter dem Niveau, was 2002 war und daran kann man schon sehen, dass dieser Bereich erheblich unter Druck gesetzt worden ist."

    Gunter Fleischmann ist einer der Geschäftsführer von Jugendwohnen im Kiez, einem großen Jugendhilfeträger in Berlin, einer gemeinnützigen GmbH.

    Stiftungen, die im dritten Sektor tätig sind, haben stabile Erträge durch ihr Stiftungskapital und genießen offensichtlich hohes Prestige in der Gesellschaft. Ihnen gelingt es immer wieder, den Staat als Kofinanzierer für ihre eigenen Vorhaben und Projekte zu gewinnen und hohe Zuwendungen einzuspielen.

    Anders sieht es für die Vereine, gGmbHs und Genossenschaften aus. Gunter Fleischmann führt als Beispiel die ambulanten Hilfen in der Jugendhilfe an, die Jugendwohnen im Kiez als Leistung für die Stadt Berlin erbringt.
    "Noch vor zehn Jahren waren nach Leistungsbeschreibung eine durchschnittliche Wochenstundenzahl pro Familie mit zwölf Stunden ausgelegt. Inzwischen liegen wir bei einer durchschnittlichen Wochenstundenzahl von 4,5 Stunden. Das heißt, es hat sich innerhalb von zehn Jahren die fachliche Perspektive auf 50 Prozent verschoben. Man fragt sich, wie kommt das zustande. Und für die Familien ist das auch schwierig, wenn man nur noch 4,5 Stunden Zeit hat: Da gehen auch noch Dokumentationszeiten ab. Da bleiben vielleicht noch vier Stunden in der Woche übrig, und wenn da erhebliche Problemlagen da sind, kann man sich ausrechnen, dass das nicht ausreicht. Da wird es dann fraglich, ob es überhaupt noch was bringt. Da bewegen wir uns langsam hin."

    Der Jugendhilfeexperte spricht von Familien, in den Eltern in großer ökonomischer oder emotionaler Not leben. Sie schotten sich häufig in ihrer eigenen Welt ab und geben ihren Kindern keine guten Entwicklungsbedingungen. Sozialarbeiter brauchen Zeit, um Vertrauen aufzubauen und die Basis für Veränderungen zu legen. Das wird schwierig bis unmöglich bei knapperen Budgets.

    Dazu kommt, dass auch die Mitarbeiter in den Diensten immer mehr unter unsicheren Arbeitsbedingungen leiden. Patrick Droß.

    "Da ist es schon klassischerweise so, dass in diesem Bereich in sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnissen tätig sind, Teilzeitjobs, Minijobs, befristeten Jobs und was traditionell so ist, dass es einen hohen Frauenanteil in den Bereich gibt. Das heißt, wenn hier weitere Veränderungen stattfinden, trifft es auch weiter Frauen und ein sehr großer Teil der Organisationen hat angegeben, dass sich die Zusammensetzung der Beschäftigung weiter in Richtung verändern wird, dass es weniger Vollzeitstellen gibt, sondern mehr Teilzeit, mehr Minijobs. Insgesamt mehr atypische Beschäftigung."

    Dabei hängt die Wirksamkeit dieser Organisationen nicht nur von den Mitarbeitern ab. Sie leben immer auch durch die Mitglieder in den Vereinen, die ehrenamtlich Tätigen sowie die Geschäftsführungen und Vorstände, die auch oft ehrenamtlich arbeiten. Gelingt es den Organisationen dafür Nachwuchs zu gewinnen und damit auch die Zukunft des jeweiligen Verbandes zu sichern, fragten die Wissenschaftler:
    "Man sieht zum Beispiel das junge Menschen unter den Mitgliedern nicht in den gleichen Maße vertreten sind wie Ältere. Man kann auch sehen, dass junge Menschen in den Vorständen, in den ehrenamtlichen Leitungsfunktionen und Gremien weniger repräsentiert sind."

    Die Soziologin Mareike Alscher, auch vom WZB. Nach der Studie haben 60 Prozent der Vereine nur wenig Mitglieder und Engagierte zwischen 14 und 30 Jahren. Einem Fünftel der Vereine gehören überhaupt keine jungen Mitglieder an. Nur bei Sportvereinen sei erkennbar, dass sie sich um die Heranwachsende bemühen. Doch in den Bereichen Politik, soziale Dienste, Gesundheit, Freizeit und Geselligkeit treten Jugendliche kaum Organisationen bei. Das ist auffällig, geht doch das Engagement der Jugend ansonsten nicht zurück. Weiterhin etwa ein Drittel der Jugendlichen ist aktiv. Das das sind sie kaum als Mitglieder oder Ehrenamtliche in einer Organisation. Daria Czarlinska ist Anfang 30 und zog sich aus Vereinen für politische Bildung und Umwelt zurück.

    "Einmal war es die Hierarchie und oft war es auch ein Frauen-Männer-Thema, dass die Männer mehr Bewusstsein für Macht hatten oder gerne Geschäftsführer war. Da hab ich die Erfahrung gemacht, dass es immer schwierig war, als Frau Gehör zu finden oder seine Position behaupten zu können."

    Mareike Alscher:

    "Ganz im praktischen Bereich kann man sagen, dass die Werbung für Mitglieder als auch Engagierte sehr auf traditionellen Wegen stattfindet. Ein Mensch in der Leitungsfunktion fragt, hast du nicht Lust oder ein Mitglied sagt, hei, ich bin da Mitglied, möchtest Du nicht auch. Und das sind sicher Wege, mit denen bestimmte Erfolge zu erzielen sind. Man muss aber gleichzeitig im Blick haben, dass die junge Generation heute auch auf bestimmte andere Reize reagiert und da spielen Medien eine ganz wichtige Rolle."

    Junge Leute vernetzen sich heute über das Internet. Die Organisationen allerdings nutzen soziale Netzwerke und Blogs bisher kaum, um auch jugendliche Interessierte anzusprechen. Außerdem bieten sie selten zeitweilige, projektbezogene Mitgliedschaften an.

    "Man kann darüber hinaus sehen, dass wenn man die Organisationen fragt, was beabsichtigen sie denn mit der Einbeziehung junger Menschen, dass viele Organisationen Wert darauf legen, das Verantwortungsbewusstsein junger Menschen zu stärken, bestimmte Werte wie Solidarität zu vermitteln und letztendlich nur knapp ein Drittel sagt, dass wir Leitungs- und Führungskompetenz ausbilden bei den Ehrenamtlichen für die eigenen Organisationen."

    Gerade hierin sehen die Wissenschaftler für die Organisationen und ihre künftige Präsenz und Wirksamkeit in der Zivilgesellschaft ernst zunehmende Probleme. Mit ihrer Studie liefern sie erstmals differenzierte Einschätzungen, welche Trends sich für die einzelnen Organisationen gegenwärtig abzeichnen.

    Für Vereine sehen sie zu der Überalterung vor allem ein schwindendes Gemeinschaftsgefühl. Sie müssen neue Kooperationen finden, um sich unter den veränderten Rahmenbedingungen zu positionieren. Genossenschaften und gemeinnützige GmbHs leiden bereits jetzt unter der Not, mit vergleichsweise schlechten Verträgen, auch gute Fachkräfte zu finden. Sie werden weiter nach Möglichkeiten der Flexibilisierung und gemeinsamen Projekten suchen müssen, um angesichts der Unwägbarkeiten auf dem Markt bestehen zu können.
    "Die Frage ist immer, gibt es einen Punkt, wo es kippen kann. "

    Fasst Patrick Droß die Ergebnisse der Studie zusammen.

    "Zum einen denke ich, steht da durchaus etwas auf dem Spiel, das zivilgesellschaftliche Moment, was da auch zum Tragen kommt in solchen Organisationen. Und die Frage ist natürlich, wenn es mehr um Effizienz und Leistung und Wettbewerb geht, ob so eine Bereich demnächst in ihren Defiziten sich selbst überlassen bleiben."

    Gunter Fleischmann mit seiner gemeinnützigen Jugendhilfe GmbH musste inzwischen mitunter sagen: nein, diesen Auftrag lehnen wir ab. Wir können dieses Jugendprojekt zu diesen Konditionen nicht betreuen. Daria Czarlinska gründet einen kleinen, lokal vernetzten Verein, der sich Sinnergie nennt und Sinnergien zwischen verschieden Interessierten schaffen will.

    "Ich möchte relativ offenbleiben. Klar haben wir eine Satzung, wir haben unsere Themen, dass wir sagen, die Sinne schärfen, die Schnittstelle zwischen Außen und Innen bewusster wahrnehmen und Menschen mit Behinderung aufnehmen und ich denke, das ist für uns realisierbar, diese Themen aufrecht zu erhalten. Aber was die Projekte anbelangt, da arbeite ich lieber offen und bin offen gegenüber den Menschen, die hierher kommen."