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Überhangmandate abschaffen!

"Mein Vorschlag ginge dahin, keine Überhangmandate zuzulassen", sagt Ernst Gottfried Mahrenholz, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. In Bayern werde dies seit 50 Jahren praktiziert: Bei einem Überhangmandat werde der Abgeordnete, der einen Wahlkreis mit dem schwächsten Wahlergebnis errungen habe, nicht zum Parlament zugelassen.

Ernst Gottfried Mahrenholz im Gespräch mit Friedbert Meurer | 31.08.2010
    Friedbert Meurer: Schleswig-Holstein, Bundesland, gelegen zwischen Nord- und Ostsee, es wartet einfach immer mit neuen Überraschungen und Affären auf. In diesem Land herrschen rauere Winde als andernorts.

    O-Ton-Sammlung: "Ich werde von meinem Amt als Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein zurücktreten." – " ... werde ich mein Amt als Ministerpräsident und meine Funktionen in der SPD aufgeben." – "Es war für uns alle, für die SPD Schleswig-Holstein, eine ganz harte und einschneidende Zäsur." – "Ich sehe in dieser Konstellation keine Möglichkeit mehr, das Beste für unser Land zu erreichen." – "Sie sind vollständig gescheitert. Der gerade Weg wäre Ihr Rücktritt gewesen, aber dazu, Herr Ministerpräsident, hat Ihnen leider das Format gefehlt."

    Meurer: Von Uwe Barschels Ehrenwort bis zu Björn Engholms Rücktritt, vom sogenannten Heidemörder bis zu den Kabalen der letzten Jahre. Das Landesverfassungsgericht in Schleswig hat gestern dafür gesorgt, dass es weiter stürmt im Norden. Es erklärte nämlich nur ein Jahr nach der letzten Landtagswahl das Wahlrecht des Landes für verfassungswidrig. Bis spätestens 2012 muss neu gewählt werden.

    Am Telefon begrüße ich nun den früheren Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Ernst Gottfried Mahrenholz. Guten Morgen, Herr Mahrenholz.

    Ernst Gottfried Mahrenholz: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Das Wahlrecht in Schleswig-Holstein verstößt gegen die Verfassung, aber die Sitzverteilung bleibt wie sie ist. Ist das für Sie schlüssig?

    Mahrenholz: Das Gericht hat gesagt, dass die Sitzverteilung ganz vernünftig durch das Wahlgesetz vorgenommen worden ist, aber dieses Wahlgesetz widerspricht der Verfassung, denn es sorgt nicht dafür, dass eine Partei mit vielen Überhangmandaten – es sind elf in Schleswig-Holstein -, dass eine Partei, die mit solchen Überhangmandaten gesegnet ist, dass die ein Gegengewicht erhält durch die Vergrößerung der anderen Parteien, der anderen Fraktionen. Das heißt, es muss das Ergebnis der Landtagswahl, wenn man der CDU etwa 34 oder 35 Prozent zugebilligt hat, muss es so aussehen, dass die anderen in gleicher Weise entsprechend ihrem Wahlergebnis auch Abgeordnetenmandate erhalten, und das ist in Schleswig-Holstein nicht der Fall gewesen.

    Meurer: Diese Entscheidung fiel ja einstimmig. Hätten Sie dafür votiert, dass die Sitzverteilung morgen oder nächste Woche geändert wird, und das würde ja bedeuten, Schwarz-Gelb hätte keine Mehrheit mehr?

    Mahrenholz: Nein, das kann man nicht morgen machen. Für ein neues Wahlrecht muss man sich Zeit nehmen, zumal, wie das ja eben der Fraktionsvorsitzende der CDU auch gesagt hat, die Wahlkreise neu zugeschnitten werden müssen. Das heißt auf Deutsch, man will weniger Wahlkreise haben, damit es auch möglichst wenig Überhangmandate geben kann.

    Meurer: Jetzt ist es ja so, dass vor zwei Jahren das Bundesverfassungsgericht das Wahlrecht für die Bundestagswahlen auch moniert hat, und es muss bis nächstes Jahr, Juni 2011, vom Bundestag geändert werden. Haben Sie gestern irgendwelche Fingerzeige wahrgenommen aus Schleswig, oder kann der Bundestag etwas aus Schleswig lernen?

    Mahrenholz: Ja, der Bundestag könnte aus Schleswig was gelernt haben. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, die nächste Wahl darf noch einmal verfassungswidrig stattfinden. Das ist natürlich ein starkes Stück, denn Artikel 38 sagt gleiche Wahlen und Artikel 39 sagt alle vier Jahre. Da ist das Bundesverfassungsgericht, glaube ich, etwas zu großzügig mit dem bisherigen verfassungswidrigen Wahlrecht umgegangen, und das hat Schleswig-Holstein vermieden.

    Das Schleswiger Landesverfassungsgericht sagt, ihr müsst im Laufe dieser Wahlperiode, aber so schnell wie möglich, spätestens bis 2012 euer Wahlrecht geändert haben, nach den Grundsätzen, die wir euch vorgeben, die wir euch vorgegeben haben, und dann muss neu gewählt werden. Das heißt, die Wahlperiode kann die gegenwärtige Regierung nicht ausschöpfen, und das halte ich für richtig.

    Meurer: Warum, glauben Sie, sind diese beiden Gerichte, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgericht, hier in dieser Frage, Frist für Neuwahlen, zu ganz anderen Ergebnissen gekommen?

    Mahrenholz: Das hat einmal damit zu tun, dass für die Landtagswahlperiode noch vier Jahre zur Verfügung stehen. Beim Bundesverfassungsgericht war es nur noch ein Jahr. Aber dieses eine Jahr hätte gereicht, zumal ja die Wahlkreise nicht neu zugeschnitten werden mussten. Ich sage mal, da hätte man einfach nur einen ganz vernünftigen Umrechnungsmodus finden können, der ja auch auf der Hand gelegen hätte, und dann hätte man in die Wahl gehen können mit einem Wahlrecht, das wirklich die Gleichheit der Wählerstimmen verwirklicht.

    Meurer: An dieser Stelle beginnt es jetzt kompliziert zu werden. Der Bundestag hat noch zehn Monate etwa Zeit, das Wahlrecht zu verändern. Wie würde Ihr Vorschlag aussehen, wie das Wahlrecht für die Bundestagswahl aussehen soll?

    Mahrenholz: Mein Vorschlag ginge dahin, keine Überhangmandate zuzulassen. Es gibt ein Wahlrecht, das bayerische, das genau so verfährt. In Bayern ist es so: wenn es ein Überhangmandat gibt, oder zwei, oder drei, dann wird derjenige Abgeordnete, der einen Wahlkreis errungen hat mit dem schwächsten Wahlergebnis, nicht zum Parlament zugelassen. Wenn ich also nur 100 Stimmen mehr habe und aus diesem Grunde der andere Kandidat nicht gesiegt hat, dann wird ein solcher Abgeordneter in das Parlament nicht einziehen, wenn es für diese Partei Überhangmandate gegeben hat.

    Meurer: Das heißt, ein Abgeordneter würde nicht einziehen ins Parlament, obwohl er ein Direktmandat gewonnen hat?

    Mahrenholz: So ist es, weil das Direktmandat ja im Grunde dasselbe Mandat ist wie ein Listenmandat und weil man ja in erster Linie darauf achten muss, so sagt es das schleswig-holsteinische, das bayerische und das Bundeswahlrecht, dass der Verhältniswahlgrundsatz gewahrt wird. Nun kann dieser gewahrt werden, wenn man keine Überhangmandate zulässt, oder wenn man sie ausgleicht.

    Meurer: Aber mal abgesehen davon, dass der betreffende Kandidat es als ungerecht empfindet, dann hätte ja der Wahlkreis keinen Direktkandidaten im Bundestag?

    Mahrenholz: Das ist das Typische an dem gegenwärtigen Wahlrecht, dass im Grunde jeder Abgeordnete, der dort kandidiert hat, sich als in seinem Wahlkreis befindlich betrachtet. Ich erlebe das in meinem Wahlkreis auch. Natürlich sagen alle Vertreter der Parteien, die überhaupt dort kandidiert haben, in meinem Wahlkreis geschieht dies oder das. Vertreten sind sie durch alle Parteien, die in diesem Wahlkreis einen Wahlkreiskandidaten hatten und der durch die Listenwahl in das Parlament gekommen ist.

    Meurer: Könnte man dann nicht die Erststimme gleich abschaffen und nur noch die Zweitstimme, die Listenstimme einführen?

    Mahrenholz: Das sagen viele. Das hat aber einen großen Nachteil. Das hat den Nachteil, dass der Abgeordnete den persönlichen Bezug zu einem bestimmten, regional abgegrenzten Gebiet verliert, und das ist das Entscheidende, das ist das Entscheidende auch bei der englischen Wahl. Es ist immer ein Abgeordneter wirklich für einen Wahlkreis verantwortlich. Hier bei uns ist es nicht einer, sondern es sind alle diejenigen, die in diesem Wahlkreis wohnen und kandidiert haben. Das ist der Vorteil der Kombination von Verhältniswahl und Mehrheitswahl, und darum lässt es sich - in Bayern ist das immerhin 50 Jahre schon so – vertreten, dass diejenigen Abgeordneten, die mit dem schwächsten Wahlergebnis ein direktes Wahlmandat errungen haben, gar nicht zum Parlament zugelassen werden.

    Meurer: Überhangmandate abschaffen, sagt der frühere stellvertretende Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Gottfried Mahrenholz, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Herr Mahrenholz, schönen Dank und auf Wiederhören.

    Mahrenholz: Bitte sehr. Auf Wiederhören!

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