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Überleben mit innerer Kälte

Bettina Bàlakas Roman "Eisflüstern" beginnt wie ein Kriminalroman und endet auch entsprechend mit einem Showdown und der Aufklärung eines dreifachen Mordes. Doch eigentlich wird etwas anderes erzählt: die Geschichte des ehemaligen Kriminalinspektors Beck, der nach Krieg und Gefangenschaft versucht, ins normale Leben zurückzufinden.

Von Jan Koneffke | 06.02.2007
    Bettina Balàkas neuer Roman "Eisflüstern" hebt seltsam an: Jemand hat die Gebeine eines Rittmeisters, der sich im Kampf gegen die Bosnischen Aufständischen bewährt hat, aus seiner Gruft am Wiener Zentralfriedhof entführt und im Hinterhof eines Mietshauses wieder zum Skelett zusammengelegt. Erst später wird den Polizeibeamten klar, dass in diesem Haus die Familie des ehemaligen Kriminalinspektors Beck wohnt, der in diesen Tagen aus langer Kriegsgefangenschaft in Russland heimgekehrt ist. Seiner beschwerlichen Rückkehr ins Zivilleben widmen sich die folgenden Kapitel, was den Leser zunächst irritieren mag, hat er doch nach dem Lektüreeinstieg zunächst einen Kriminalroman erwartet - und einen historischen dazu, denn wir schreiben das Jahr 1922.

    In der Tat lässt sich Balàkas Buch schwerlich einem Genre zuordnen, was bereits ein Indiz seiner Qualität ist. Wir haben es auf den folgenden 387 Seiten zwar durchaus mit einem Kriminalroman zu tun, mit "wirklichen" und grausamen Verbrechen. Doch gegenüber den Erinnerungen Becks an das erlebte Kriegsmorden wirken diese Verbrechen regelrecht harmlos. So mag einem der Verdacht kommen, dass die Autorin ihren Roman in eine Kriminalgeschichte eingebettet hat, um das, was er sonst verhandelt: die Gräuel des modernen Krieges, Beschädigungen an Leib und Seele, nicht zuletzt die Wiener Gesellschaft nach dem Untergang des k.u.k.-Reiches, erzähl- und lesbar zu machen. Denn paradoxerweise bieten die Kriminalfälle, die ja landläufig Spannung versprechen, gegenüber den verstörenden Erinnerungen Becks an seine Kriegs- und Kriegsgefangenschafterfahrungen eher einen Ruhe- und Entspannungspunkt. Auch historisch war das so, wie die Autorin zu berichten weiß:

    " Ich bin bei den Recherchen drauf gekommen, dass gerade in dieser Zeit, während des 1. Weltkriegs, das Schreiben und Lesen von Kriminalromane ganz massiv in Mode gekommen ist ... Es wird auch von mir in einem Kapitel thematisiert, das Lesen von Kriminalromanen, dass genau die Menschen unter diesem Eindruck des Chaos, des massenhaften Todes, das Bedürfnis hatten, diese strukturierten Kriminalgeschichten zu lesen, wo die Mörder dinghaft gemacht werden, weil man in diesem gewaltigen Massensterben, wo behauptet wurde, das sei das Schicksal, dass das verursacht hat, ja nicht mehr feststellen konnte, wer ist jetzt eigentlich schuld. "

    Hochreflektiert und komplex leidet Balàkas Buch doch nie an der Schwere eines Metawissens, das kunstvoll in Handlung, Dialoge und Psychogramme der Figuren integriert ist. Die Autorin hat ihren Stoff gewissenhaft recherchiert, was sich auf der Oberfläche detailreich und bis in sprachliche Wendungen hinein niederschlägt, ohne den Lesefluss anzuhalten. Aber Balàkas Recherche dient nicht der Kulissenschieberei, sondern rekonstruiert die Um- und Dingwelt beschädigter Kriegsseelen. Die Beschreibung der Verstörungen des Kriminalinspektors Beck gelingen ihr überzeugend, auch deshalb, weil sie ihren Helden, der nur in einer "inneren Eiswelt" überleben konnte, nicht einfach als Wrack vorführt, sondern ihm einen anrührenden Rest von Humanität zugesteht, der es ihm am Ende ermöglicht, wieder mit Frau und Tochter zusammenzuleben.

    " Es hat sich etwas Interessantes ergeben, dass besonders dort, wo die Soldaten selbst Gräueltaten begangen haben, diese stärker traumatisiert waren, je furchtbarer ihre Taten, desto schwerer ihre eigene Traumatisierung ... zum Beispiel nach dem Vietnamkrieg war die Traumatisierungsrate besonders hoch, weil dort die Enthumanisierung der Soldaten selbst so stark fortgeschritten ist, dass sie es viel schwerer hatten in den Alltag wieder zurückzufinden, als beispielsweise im 2. Weltkrieg die amerikanischen Soldaten, wo es verhältnismäßig wenig Traumatisierung gab, weil dieser humanitäre Anspruch immer präsent war, um sich abzugrenzen vom Naziregime ... "

    Um im Zivilleben wieder Fuß zu fassen, bemüht sich Balàkas Protagonist Beck um seinen alten Arbeitsplatz bei der Kriminalpolizei und wird mit einer Verbrechensserie konfrontiert, die immer deutlicher auf ihn selber zielt, seine Kollegen aber im Verdacht bestärkt, es könnte sich bei ihm um den Täter handeln. Dieser Fährte folgt vor allem sein Gegenspieler, der jüngere Inspektor Ritschl, der dem Kriegsdienst um ein Haar entgangen ist und nationalsozialistische Vorstellungen vertritt. Fast beiläufig wird Balàkas historischer Kriminalroman hier auch zu einer spannenden Ideen- und Ideologiegeschichte.

    " Ideologie funktioniert ja über Sprache, und das hat mich eben interessiert, die rhetorischen Techniken herauszufinden, mit denen man alles rechtfertigen kann, drum hab ich das Zitat, es ist für eine "gute Sache", und man fragt dann immer, eine "gute Sache" ist ja dann unter Umständen auch, Frauen und Kinder umzubringen, weil mit diesen schönen Worten wird die Tat ja umgedeutet. Das andere, was mir auffiel in dieser Zeit, ist eine brachiale Rhetorik, die allgemein üblich war ..."

    Balàkas Roman endet, wie ein Kriminalroman enden muss. Es kommt zu einem Showdown, und wir erfahren, wer der Mörder war. Aber nur in diesem Punkt hält die Autorin die Spielregeln des Genres ein. Entlastend wirkt der Schluss nämlich gar nicht und das Ende bleibt recht eigentlich offen. Denn wenn der eigentlich Schuldige an den drei Morden zwar nicht irgendein ominöses "Schicksal" ist, so ist es doch der vergangene Krieg.

    Und auch das Happy end für Becks Familie bleibt äußerst prekär. Denn am Horizont droht bereits das nächste historische Unglück, das die jüdische Frau und die - nach Naziermessen - halb-jüdische Tochter des Kriminalinspektors vermutlich in den Abgrund reißen wird. Der Leser kann sich jedenfalls nicht von dem Märchen beruhigen lassen, dass Vater Beck seinem Kind erzählt: Es habe sich bei der dramatischen Überführung des Mörders um eine Theatervorstellung gehandelt und das geflossene Blut sei "Bühnenblut" gewesen.

    " Dass man mit diesem Täuschen, Verleugnen und Vertuschen natürlich die Leichen nicht unter die Erde bringt, wissen wir mittlerweile auch, und das ist jetzt nicht nur bezogen auf das individuelle Schicksal dieser Familie ... sondern auch auf die gesellschaftliche Geschichte. "

    Bettina Balàka: Eisflüstern
    Roman. Literaturverlag Droschl Graz - Wien 2006
    387 Seiten.