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Überlebensstrategien gegen den Familienhorror

Eine sowjetrussische Familiengeschichte mit tragikomischen Elementen erzählt der Autor Pawel Sanajew in seinem neuen Roman: Der kleine, kränkliche Sascha geht am Streit zwischen seiner herrischen Großmutter und seiner labilen Mutter zugrunde. Doch am Ende leuchtet ein Hoffnungsschimmer auf.

Von Karla Hielscher | 24.08.2007
    ""Mein Name ist Sascha Saweljew. Ich gehe in die zweite Klasse und wohne bei meinen Großeltern. Meine Mutter hat mich gegen einen Giftzwerg und Erbschleicher eingetauscht und meiner Großmutter aufgehalst, für die ich ein schweres Kreuz bin. So, als Kreuz auf Großmutters Schultern, lebe ich seit meinem vierten Lebensjahr.""

    So beginnt der erste Roman des jungen Moskauer Schriftstellers und Drehbuchautors Pawel Sanajew "Begrabt mich hinter der Fußleiste", mit dem sich eine neue originelle Stimme in der russischen Gegenwartsliteratur zu Wort meldet. Das Buch erzählt die berührende Geschichte eines kleinen Jungen in einer Moskauer Familie der späten Sowjetzeit mit in höchstem Maße psychopathischen Strukturen.

    Der zarte, kränkliche kleine "Kümmerling" Sascha schläft mit seiner Großmutter im Doppelbett, geht wegen seiner ständigen Krankheiten nur selten zur Schule, muss immer wollene Pullunder und Strumpfhosen und nachts ein mit einer Sicherheitsnadel befestigtes Nachthäubchen tragen, sechsmal am Tag die abgezählten Kügelchen homöopathischer Medikamente einnehmen, darf Eis nur manchmal mit Schlucken heißen Tees dazwischen essen, und glaubt schließlich selbst, "dass ein verdammtes Miststück wie ich allein und aus eigener Kraft überhaupt nichts" kann.

    Die Großmutter ist eine schwerst gestörte, offenkundig psychisch kranke Frau, die den Jungen ständig unflätig beschimpft, verflucht und sein baldiges Sterben prophezeit. Dabei merkt man schnell, dass der Kleine ihr Ein und Alles ist, ja, ihren einzigen Lebensinhalt darstellt, und sie ihn auf unnormal quälende Art liebt. Auch ihrem Mann, einem alternden Schauspieler, macht die aggressive, zwanghafte Frau das Leben zur Hölle.

    Vor Jahren haben die beiden ihrer Tochter, die sich - von diesen Eltern erzogen - natürlich auch nicht zu einer selbstbewussten und unabhängigen Persönlichkeit entwickeln konnte, den kleinen Sascha weggenommen, da sie ihr die Erziehung des Kindes nicht zutrauen und ihren neuen Lebensgefährten für einen verbrecherischer Betrüger halten, dem es nur um die Moskauer Eigentumswohnung und sein Wohnrecht in der Hauptstadt geht.

    Der große Reiz des Textes besteht darin, dass die Handlung aus der subjektiven und d.h. völlig verzerrten und entstellten Perspektive der Beteiligten erzählt wird. Dem Leser stellt sich die Aufgabe, das objektive Geschehen aus der Sicht des seine Situation natürlich nicht wirklich verstehenden kleinen Jungen, aus den Schimpftiraden und wort- und tränenreichen Klagen der paranoiden Großmutter über ihr verpfuschtes Leben wie des sich seiner herrschsüchtigen kranken Frau widerstandslos unterordnenden Großvaters Schritt für Schritt zu erschließen.

    Vorherrschend ist dabei die Perspektive des malträtierten, von Ängsten geplagten und von der großmütterlichen Fürsorge erdrückten Sascha. Dieser erweist sich jedoch als phantasievolles, gewitztes Kerlchen, der sich auch zu wehren weiß und verschiedene Überlebensstrategien gegen den alltäglichen Familienhorror gefunden hat. Dabei ergeben sich Szenen von umwerfender Komik, wenn Sascha während des Baderituals die Strumpfhose an der Heizsonne verkokelt, beim verbotenen Spielen im Hof in eine Grube mit Mörtel fällt oder auf der Reise ins Kinderkurheim auf der Zugtoilette, deren Tür er aus Angst vor Infektionen umständlich mit dem Ellbogen geöffnet hat, Rachefantasien an seinen Ärzten ausspielt:

    ""’Der glänzende Deckel öffnete sich nach unten, durch das runde Loch auf dem Grund der Kloschüssel waren die vorbeifliegenden Schienen zu sehen, der Raum füllte sich mit Getöse. Hielt ich das Pedal längere Zeit gedrückt schwoll der Lärm immer weiter an, betätigte ich es in kurzen Abständen, kam das Getöse zerhackt an und hörte sich an wie kurze verzweifelte Aufschreie (…) Ich riss stückweise Toilettenpapier ab, zerknüllte es und warf es in die Öffnung, wobei ich mir vorstellte, das seien die Ärzte, die ich für die mir zugeschriebenen Krankheiten hinrichtete.’ ‚Aber nicht doch, warte, du hast einen Staphylococcus aureus!’, jammerte und schrie der Arzt. ‚Ach, so ist das, ich habe einen Staphylococcus!’ antwortete ich erbost, knüllte den Arzt noch fester in meiner Hand zusammen und warf ihn in die Kloschüssel. ‚Lass mich! Du hast eine Nebenhöhlenentzündung! Nur ich kann sie heilen!’ ‚Heilen? Du wirst niemand mehr heilen.’ ‚A-a!’, schrie der Arzt, während er unter die Räder des Zuges flog.""

    Es ist jedoch die bittere, absurde Tragikomik einer erschreckend kaputten, absolut zerstörerischen Familienkonstellation. Der kleine Sascha wird in der vergifteten Beziehung zwischen Mutter und Tochter fast zerrissen zwischen der Mutter, die ihn ab und zu besucht, und der Großmutter, mit der er seinen Alltag leben und sich also irgendwie arrangieren muss:

    ""Flittchen nannten Großmutter und ich meine Mutter. Ich wusste nicht, was das Wort bedeutete, aber es hatte etwas von einer guten Fee mit Flügeln und passte deshalb sehr gut zu meiner Mutter (…) Ich liebte Flittchen, ich liebte nur sie und sonst niemanden auf der Welt (…) Fast alles, was ich an Kostbarkeiten besaß, hatte ich von meiner Mutter bekommen. Aber ich liebte sie nicht wegen dieser Geschenke, ich liebte die Geschenke, weil sie von ihr waren (…) In den Kleinigkeiten wie der Glaskugel, die Flittchen einst unten im Hof aus der Handtasche hervorgekramt und mir in die Hand gedrückt hatte, sah ich meine Mutter und nur meine Mutter.""

    Die so ganz private Familiengeschichte ist jedoch in vielen Details geprägt vom sowjetischen Alltag: der ständig mit Konserven und Pralinenschachteln zum Bestechen der Ärzte gefüllte Kühlschrank; das Einkaufen von Obst und Gemüse nur auf dem Privatmarkt, nicht im "Komsomolec"; die Ferienschecks der Gewerkschaft für das Kinderkurheim usw.

    Und im Schicksal der Großmutter werden auch die krankmachenden Lebensbedingungen der Sowjetzeit erkennbar, der eine ganze Generation ausgesetzt war: jahrelanges Hausen in einer Kommunalwohnung, Krieg, Evakuierung, Hunger und Unbehaustheit, Tod des ersten Kindes, der Ausbruch ihrer Paranoia-Krankheit aus Angst vor Verhaftung Anfang der politisch besonders repressiven 50er Jahre.

    Der Roman zeigt in seiner originellen Verschmelzung von Komik und Tragik und phantasievoll grotesken Sprache die Psychopathologie der Familie als Zerrspiegel einer kranken Gesellschaft. In dem tröstlichen Ende des dramatischen Ringens um das Kind im Roman scheint die Hoffnung auf ein besseres, normaleres Leben auf.

    Pawel Sanajew: Begrabt mich hinter der Fussleiste
    Roman. Aus dem Russischen von Natascha Wodin, Verlag Antje Kunstmann, 240 Seiten, 17,90 Euro.