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Überraschend düster

Leicht hat es Blue van Meer nicht. Schon ihr Name ist Quelle des Verdrusses – kann es doch passieren, dass ein Lehrer sie Blues oder – noch schlimmer – Green nennt. So oft wechselt sie die Schule, dass kein Lehrer die Chance hat, Blue und ihren Namen wirklich kennen zu lernen. Seit dem Tod ihrer Mutter vor elf Jahren zieht die inzwischen Sechzehnjährige mit ihrem ruhelosen Vater durch die USA.

Von Constanze Baumgart | 23.07.2007
    Leicht hat es Blue van Meer nicht. Schon ihr Name ist Quelle des Verdrusses – kann es doch passieren, dass ein Lehrer sie Blues oder – noch schlimmer – Green nennt. So oft wechselt sie die Schule, dass kein Lehrer die Chance hat, Blue und ihren Namen wirklich kennen zu lernen. Seit dem Tod ihrer Mutter vor elf Jahren zieht die inzwischen Sechzehnjährige mit ihrem ruhelosen Vater durch die USA. Der Politologieprofessor mit dem Schwerpunkt territoriale Konflikte und Freiheitsbewegungen in der Dritten Welt ist ein brillanter Kopf, attraktiv, egozentrisch und von überbordender intellektueller Arroganz.

    "'Lebe immer mit deiner Biographie im Sinn’, sagte Dad gern. "Natürlich wird sie nicht veröffentlicht, es sei denn, du hast einen fabelhaften Grund, aber auf jeden Fall wirst Du ein großartiges Leben leben.’ Es war deutlich zu spüren, dass Dad hoffte, seine posthume Biographie würde nicht an Kissinger – der Mensch (Jones, 1982) oder sogar Dr. Rythm: das Leben mit Bing (Grant, 1981) erinnern, sondern eher an etwas auf dem Niveau des Neuen Testaments oder des Qur’ans."

    Zwingende Voraussetzung für das "großartige Leben" ist nach Gareth van Meers Meinung das Studium in Harvard. Damit seine geliebte Blue sich im letzten Highschool-Jahr darauf in Ruhe vorbereiten kann, wird ihr Vater – der bis dahin die Colleges, an denen er lehrte, wechselte wie andere das T-Shirt – nun vorübergehend sesshaft. An ihrer neuen Schule St. Gallway lernt Blue die zwischen depressiv und geheimnisvoll changierende schöne Lehrerin Hannah Schneider und ihren coolen kleinen Zirkel von Schülern kennen. Zu ihrem großen Erstaunen wird Blue in diesen Kreis aufgenommen. Zwar bleibt sie auch hier eine Außenseiterin, doch beginnt sich ihr Leben dramatisch zu verändern – erst recht, als die bewunderte Hannah auf mysteriöse Weise zu Tode kommt.

    Der Debütroman der amerikanischen Autorin Marisha Pessl "Die alltägliche Physik des Unglücks" ist eine Kombination aus Road-Movie, College-Roman und Thriller.

    Wie in einem Mikrokosmos, zu dem niemand Zutritt hat, lebt und reist die Ich-Erzählerin Blue mit ihrem Vater. Seine Erziehung hat sie zu einem altklugen, alles fressenden Bücherjunkie gemacht. Und so schützt sie sich gegen die Zumutungen des wirklichen Lebens mit ihrem enzyklopädischen Bücher- und Filmwissen. Ereignisse, Situationen, menschliche Verhaltensweisen, alles unterfüttert und erläutert Blue mit Zitaten oder Literaturverweisen.

    Als sie ihr letztes Schuljahr beginnt, bricht der Vater-Tochter-Kokon auf, das Panorama weitet sich. Der College-Alltag, die Clique um Hannah Schneider schieben sich vor den überlebensgroßen Vater. Mit dem Tod von Hannah nimmt der Roman an Fahrt auf und wird zum Krimi: Eine Mischung aus Mystery und Whodunnit mit einem überbegabten Teenager als Amateurdetektivin. Das Ende wird hier selbstverständlich nicht verraten, doch soviel sei gesagt: Es ist überraschend düster und lässt einige Fragen offen.

    Drei Jahre hat Marisha Pessl an ihrem Buch gearbeitet. Bei seinem Erscheinen in den USA war sie 27 Jahre alt. Dem 600 Seiten starken Werk merkt man an, wie ambitioniert seine Schöpferin ist. Von Homer bis Hitchcock, vom Zoologielexikon bis zum Haushaltsratgeber – der zunächst geneigte dann ermüdende Leser wird bombardiert mit echten wie erfundenen literarischen und cineastischen Verweisen. Pessls Heldin leidet unter Zitat-Diarrhöe.

    Die starke Seite der Autorin ist die treffsichere und originelle Beschreibung von Situationen und Menschen. So etwa, wenn Blue erzählt, wie Hannah sie bei ihrem ersten Besuch begrüßt:

    "Zu meiner Überraschung umarmte sie mich. Es war eine epische Umarmung, heroisch, großer Etat, mit zehntausend Statisten (nicht kurz, körnig und mit Minibudget gedreht)."

    Geistreich-witzige Vergleiche findet der Leser in reicher Zahl; und auch wenn einige vielleicht eine absurde Drehung zuviel haben, sind es doch eben diese Vergleiche und Beschreibungen, denen das Buch viel von seiner Farbigkeit verdankt.

    In den USA löste der Roman große Begeisterung und einen wahren Medienhype aus. Nun stimmt es stets ein bisschen skeptisch, wenn ein Buch als "das beste Debüt seit ..." gefeiert wird. Pessls Buch bewertete die New York Times als "das auffälligste, schönste und klügste Debüt seit Jonathan Safran Foers ‚Alles ist erleuchtet’." Foer gehört ebenso wie seine Frau Nicole Krauss zu einer Gruppe junger und charismatischer amerikanischer Schriftsteller, kaum älter als 30 und bereits sehr erfolgreich. Sein Erstling "Alles ist erleuchtet" ist eine ebenso irrwitzige wie poetische Geschichte, die von den langen Schatten des Holocaust handelt. Humorvoll und traurig, federleicht und doch dicht erzählt Foer von dem großen Thema und damit verknüpften Fragen. Dazu verhält sich Marisha Pessls Roman wie ein Relief zu einer Skulptur. "Die alltägliche Physik des Unglücks" ist auf intelligente Art amüsant und auf den letzten 200 Seiten leidlich spannend. Mehr nicht.

    Marisha Pessl, Die alltägliche Physik des Unglücks, 601 Seiten, S. Fischer Verlag, 19,90 Euro