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Überraschend zeitlos

Peter Sloterdijks Sammlung von Schriften zur Kunst, Musik und Architektur, zur Stadttheorie, Museologie und Zeichentheorie tritt unter einem apodiktisch anmutenden Titel auf. Versteht man den Titel "Der ästhetische Imperativ" indes als Aufforderung, jeden Imperativ und auch die Analogisierung von Ethik und Ästhetik infrage zu stellen, verändert er seinen Charakter und eröffnet eine Freiheit gegenüber den kleinmachenden und nützlichkeitsbezogenen Handlungen.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 23.05.2007
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    "Von Kindheit an hatte ich unter dem Vorurteil gelebt, man müsse unter allen Umständen die Wahrheit sagen. [...] Mein Leben verlief in den Bahnen des unauffälligen Unglücks.""

    Dies notiert Peter Sloterdijk in "Bekenntnisse eines Verlierers”, einem im Ton der Bekehrung zum positiven Denken geschriebenen leichtfüßigen Text seines neuen Bandes. Ausgangspunkt ist die Ironisierung der modischen, radikalen Lebensumgestaltungsprogramme.

    "Das neue 3-D-Lügen-System [...] hat aus mir einen neuen Menschen gemacht. An vier Wochenenden haben sie mich umgebaut zum Mann der Stunde."

    Vergangen die Zeit, da er, ein Kind der altabendländischen Kultur, in schwermütiger Ehrlichkeit befangen war und die partiellen Lügenerlaubnisse der Tradition überhört hatte. Ein Lügner sei, so weiß er jetzt, eher ein Prophet, der mit seinen Voraussagen Pech gehabt hat.

    "Ein Mensch, der nicht die schlichte Wahrheit sagt, ist [...] jemand, der beim Noch-Nicht-Wirklichen Kredit aufnimmt.”"

    Das Leben ist eine Art Konkurrenztheater, bei dem alles auf die bessere Selbstinszenierung ankommt. Die Devise lautet: Das Leben als Gesamtkunstwerk realisieren. Dies, die Ironie eingeschlossen, ist die Form der radikalen Bekenntnisliteratur im technologischen Zeitalter.

    Peter Sloterdijks Bücher sind Etappen auf dem Weg zu einem sich immer vitaler performenden Gesamtkunstwerk: Alles, was dem Gesamtkunstwerk dient, wird umgeformt, größer formatiert. So entsteht auch dieser festliche Ton, Teil eines Bekenntnisses zum sich verschenkenden, verschwendenden geistigen Reichtum. Wer anfange, sich arm zu denken, sei verloren: Man denkt sich nur arm, um die Weltoffenheit wegzuschaffen.

    Hier geht es nicht um Philosophie (als System), sondern um ein Philosophieren, das in Sympathiesysteme mit anderen Denkformen, mit der Literatur und den Künsten eintritt.

    Sloterdijk: ""Wenn ein Mensch sich selber als Quelle eines Reichtums, eines Vorzugs, einer Fülle positiver Eigenschaften empfindet, dann verbindet sich mit einer solchen Position ganz naturgemäß das Bedürfnis, diesen Reichtum zu teilen, zu demonstrieren, ihn mit einem Kollektiv auszutauschen und seine eigenen Vorzüge geltend zu machen in einer Gruppe."

    Peter Sloterdijks Sammlung von Schriften zur Kunst, Musik und Architektur, zur Stadttheorie, Museologie und Zeichentheorie tritt unter einem apodiktisch anmutenden Titel auf, der im Gegensatz zur essayistischen, erzählerischen und offenen Form der Texte zu stehen scheint. Versteht man den Titel indes als Aufforderung, jeden Imperativ und auch die Analogisierung von Ethik und Ästhetik infrage zu stellen, verändert er seinen Charakter und eröffnet eine Freiheit gegenüber den kleinmachenden und nützlichkeitsbezogenen Handlungen. Der ästhetische Imperativ, vorgetragen im Stile eines kategorischen Imperativs, ist tödlich für die Kunst. Der Befehl "Genieße!” gleicht der Vollstreckung eines Todesurteils. Begehren und ästhetisches Genießen bedürfen keiner universalen Ästhetik. Aus der ästhetischen Erfahrung konnte nur gewaltsam die rationale Aufforderung "Genieße!”, analog zum kategorischen Imperativ, gemacht werden.

    ""Aus dieser Klammer einer zweihundert Jahre langen Allianz von Ethik und Ästhetik, kategorischen und ästhetischen Imperativen will uns Sloterdijk befreien”,"

    schreibt der Herausgeber Peter Weibel in seinem Nachwort.

    Die Kunst beinhaltet ein unausschöpfliches Potenzial an Glücksvermögen und jubilatorischen Mächten - inmitten des Schreckens, des Abgründigen und der Zerfallserscheinungen. Es ist die Frage, ob die bevorzugten Orte der Kunst auch weiterhin das Museum und die Galerie sein werden oder ob sie nicht inmitten des Lebens ihre Zukunft haben, wie dies etwa die augenblicklich so populäre Street-Art vormacht.

    ""Wo eine art gallery ist, da strömt die gallery art heraus. So kommt es, dass sich die moderne Kunstausstellungskunst in ihrer Tautologisierung festschraubt: Das Herstellen von Kunst dreht sich um ein Ausstellen von Kunst, das sich um ein Herstellen von Ausstellungen dreht.”"

    Viele der Motive, die Sloterdijks Werk bestimmen und leitmotivisch durchziehen, werden hier eingeführt, ausprobiert oder variiert, zum Beispiel die bei ihm alles dominierende Raumphilosophie, war doch sein vordringliches Anliegen im Sphären-Projekt diese noch in Heideggers "Sein und Zeit" eingeklemmte Theorie zu befreien. Nun antwortet er den Architekten, die philosophische Theorie müsse beim Raum ihren Ausgang nehmen, weil der Mensch selber ein Effekt des Raums sei. Oder der Begriff der Gier, der in "Zorn und Zeit" maßgeblich ist für die Analyse der heutigen Konsumgesellschaften, der albanischen und rumänischen Tragikomödien im Postkommunismus, er wird nun im vorliegenden Band zu einem Ausgangspunkt für die Kunstanalyse genommen. Oder die besonders intensiven Überlegungen zur Musik, die großtenteils mit einem Grundmotiv der Sphärologie korrespondieren, die Rede vom ästhetischen Imperativ kommt nun hier, in Bezug auf Beethovens 9. Symphonie als "kategorischer Imperativ der Zuversicht” doch noch zu ihrem Recht.

    Sloterdijk: ""Ich glaube, ich hätte Musiker oder Sänger werden können oder sollen. Das ist die einzige wirkliche Bifurkation, die zählt. Alle anderen in meinem Leben sind kompensierbar. Aber die Musik erlaubt keine halben Sachen. Sie ist dämonisches Gebiet, wie Thomas Mann richtig sagt, und Dämonen sind dafür bekannt, dass sie den ganzen Menschen nehmen, wenn man ihnen auch nur ein bisschen Interesse entgegenbringt.”"

    Auch mit seinem zentralen Begriff der "Weltfremdheit” schließt Sloterdijk in diesem Band an frühere Überlegungen an: Das philosophische Denken gründet im Staunen, was gleichbedeutend ist mit der Geburt der Subjektivität aus der Weltfremdheit. Die Welt habe etwas Museales angenommen; sie blicke uns, als bekannte, fremd an.
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    "Was tausendmal sichtbar und mit unserem Sehen zu einer gemeinsamen Gewohnheit zusammengewachsen war, kann sich in etwas unverzeihlich Fremdes zurückverwandeln, zurück deswegen, weil in solchen verfremdenden Augenblicken der Vertrautheitsfirnis über den Dingen zerspringt.”"

    Weltfremdheit, Befremdheitsgefühle und Staunen liegen, so kann Peter Sloterdijk in dem Aufsatz "Museum - Schule des Befremdens” zeigen, sehr nah beieinander. Das Museum ist ein Ort, wo das ganze Spektrum der Ambivalenzen, Neigungen und Tendenzen sichtbar wird.

    ""Es ist einer der nervösen Punkte, um die Arbeit der Kultur als gleichzeitiges Aneignen und Abwehren zu studieren.”"

    Peter Sloterdijk ist der hörende Philosoph unter den als Augenmenschen operierenden Denkern. Der Mensch, der sich über das Sehen definiert, stehe gleichsam "am Rand” der Welt: Er schafft sich eine Distanzwelt. Zitat:

    ""Dagegen kann kein Hörender glauben, am Rand des Hörbaren zu stehen. Die sich am Hören ausrichtende Philosophie ist von Anfang an nur als Theorie des In-Seins, der Innigkeit möglich.”"

    Radio und Fernsehen betrachtet Sloterdijk unter dem Aspekt ihrer Wirkung auf den Alltag des Menschen. Die Nation wird gleichsam um Nachrichtenblöcke herum gruppiert. Die heutigen Medien "klimatisieren” die Gesellschaften mit einer relativ homogenen Themenfülle. Zu dieser Gleichschaltung und Klimatisierung der Menschen gehört auch, dass Erregung einerseits und Entwarnung andererseits in einer ausgeklügelten Balance angeboten werden. Auch wenn das Fernsehen ein von seiner Selbstläufigkeit und Sichtbarmachung überwältigtes Medium ist, kommen doch die entscheidenden Botschaften letztlich wie beim Radio auch über die Wörter und den Sound.

    ""Nach meiner Analyse ist das Fernsehen ein Medium, das man falsch versteht, wenn man es nur von seiner Selbstbeschreibung als Lieferant von Bildern aus der Ferne sieht. [...] Es ist als Radio führend. [...] Das Medium ist mehr bloßgestellt, wenn nur leere Bilder ohne Ton wahrzunehmen sind.”"

    Sloterdijk erweist sich in diesen Texten und Gesprächen (monologischen und dialogischen Einlassungen) als eine Art assoziativer Enzyklopädist, ein gedanken-gymnastischer Jongleur durch die Jahrhunderte der akustischen und visuellen Zeichenwelten. Man scheint nur eine Taste in ihm berühren zu müssen, und schon spielt das Klavier auf wundersame Weise selbsttätig, das ganze Stück, intoniert es neu auf seine Weise.

    Diese Texte erscheinen, selbst da, wo sie auf Situationen und Momentaufnahmen zugeschnitten sind und mehr den Charakter von szenischen Auftritten und Eingriffen in laufende Diskussionen haben, überraschend zeitlos, weil sie nicht dem Anlass sondern dem Bedenken des Denkwürdigen verpflichtet sind.


    Peter Sloterdijk: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst
    Herausgegeben von Peter Weibel
    Philo & Philo Fine Arts / Europäische Verlagsanstalt
    522 Seiten, 25 Euro