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Ukraine
"Es ist ein Fortschritt, wenn die Wahlen stattfinden"

Wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl in der Ukraine rechnet der deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger damit, dass die Abstimmung weitgehend normal abgehalten werden kann. Auch wenn dies in einigen Städten nicht der Fall sei, sei die Wahl "eine gute Sache", sagte der OSZE-Vertreter in dem Land.

Wolfgang Ischinger im Gespräch mit Jasper Barenberg | 19.05.2014
    Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchener Sicherheitskonferenz
    Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchener Sicherheitskonferenz (dpa / picture-alliance / Andreas Gebert)
    Es sei damit zu rechnen, so Ischinger, dass in "wahrscheinlich weniger als zehn Prozent des Landes" die Wahl nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden kann. Deshalb sei sie zu begrüßen. Das Ergebnis der Stimmabgabe werde es für die Separatisten schwieriger machen, den gewählten Präsident als illegitim zu bezeichnen. "Ich denke, das Wahlergebnis könnte ein wichtiger Schritt sein, der dazu führt, dass man irgendwann doch zu einer Gesprächslösung kommt und die Waffen ruhen können."
    Am Wochenende wurden erneut Zweifel laut, ob der Wahlgang in den östlichen Landesteilen der Ukraine abgehalten werden kann. Die Wahlkommission rief Interimspräsident Alexander Turtschinow am Samstag auf, während des Urnengangs am 25. Mai für die Sicherheit in den von Separatisten kontrollierten Regionen Donezk und Lugansk zu sorgen. Moskau warnte vor einer Wahl "im Kanonendonner".

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Am Sonntag sollen die Menschen in der Ukraine einen Präsidenten wählen. Doch die Zweifel wachsen, ob eine freie und eine faire Abstimmung überall im Land möglich sein wird. Im umkämpften Osten des Landes jedenfalls sorgen die Gefechte dafür, dass die Behörden noch nicht einmal mit den Vorbereitungen beginnen können, und die Gespräche am Runden Tisch, erst in Kiew, zuletzt in Charkiw, treten offenbar auch auf der Stelle.
    Am Telefon ist der Botschafter a.D. Wolfgang Ischinger, seit einiger Zeit Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, derzeit aber im Auftrag der OSZE unterwegs als Co-Moderator der Runden Tische in der Ukraine. Schönen guten Morgen, Herr Botschafter.
    Wolfgang Ischinger: Guten Morgen!
    Barenberg: Keine greifbaren Ergebnisse, so melden das ja Nachrichtenagenturen gerne mit Blick auf die zwei bisherigen Treffen der Runden Tische. Ist das eine zutreffende, ebenso nüchterne wie bittere Bilanz?
    Ischinger: Nein. Ich halte das, ehrlich gesagt, für ziemlich daneben. Ein Runder Tisch ist doch kein Entscheidungsorgan. Der Sinn des Runden Tisches ist es doch nicht etwa, das Parlament oder die Regierung oder andere Entscheidungsgremien zu ersetzen, sondern Bürgern, Bewegungen, Gewerkschaftsvertretern, den Kirchen, den gesellschaftlichen Gruppen die Gelegenheit zu geben, über die Zukunft des Landes in einem gemeinsamen Forum offen zu diskutieren. Das ist der Sinn und deshalb versuchen wir jetzt in den kommenden Tagen bereits zum dritten Mal, große Runden zusammenzubringen mit 50, 100, 150 Teilnehmern. Und ich halte das selbst dann, wenn, wie immer berichtet wird, hier keine greifbaren, schriftlich festhaltbaren Ergebnisse zu notieren sind, für eine sinnvolle und wichtige Aktivität, um die Atmosphäre vor diesen Wahlen, über die ja gerade berichtet wurde, die unmittelbar bevorstehen, zu beruhigen und um ein Umfeld zu schaffen, in dem die Wahlen möglichst ordentlich stattfinden können.
    Barenberg: Viele Beobachter sehen ja in den Runden Tischen so etwas wie den letzten Versuch, den Ausbruch eines tatsächlichen Bürgerkrieges vor der Wahl am Wochenende zu verhindern, den Zerfall des Landes zu verhindern. Ist das Alarmismus in Ihren Augen? Sie klingen jetzt ein bisschen so, als würde da zu viel Alarm geschlagen.
    "Im Osten ist man von ordentlichen Verhältnissen weit entfernt"
    Ischinger: Natürlich ist die Lage im Donbas, also im östlichen Teil des Landes, beunruhigend. Ich bin gestern, am Sonntag, auf Einladung des dortigen Gouverneurs dort hingereist und musste zur Kenntnis nehmen, dass keine 500 Meter von meinem Tagungsort, wo ich Gespräche führte, entfernt Beamte, Mitglieder der Beobachtermission der OSZE, von Bewaffneten aus den Autos gezwungen wurden, in einer Garage festgehalten wurden, erfreulicherweise dann nach einiger Zeit wieder freigelassen wurden. Das ist natürlich erschreckend und beunruhigend.
    Mit anderen Worten: Die OSZE kann ihrer Aufgabe in Donezk und an anderen Orten im Osten eigentlich nur unter außerordentlich unerträglichen Bedingungen nachkommen. Das ist schlimm und erschreckend und wir wissen ja auch, dass dort inzwischen geradezu Dutzende von Menschen verschleppt worden sind als Geiseln, oder sonst wie festgehalten werden. Im Osten ist man von ordentlichen Verhältnissen weit entfernt, und deswegen ist tatsächlich zu befürchten, dass in einigen Städten des Ostens Wahlen in der Art und Weise, wie wir uns das gerne vorstellen möchten, wohl nicht ordentlich stattfinden können.
    Barenberg: Herr Botschafter, heißt das nicht auch, dass die Rolle, die der OSZE jetzt zugedacht ist und über die ja auch der deutsche Außenminister mit seinem russischen Kollegen gesprochen hat, über die der OSZE-Chef mit Präsident Putin gesprochen hat, dass diese herausgehobene, wichtige, positive Rolle der OSZE die OSZE gar nicht spielen wird und kann?
    Ischinger: Das halte ich wiederum ganz für falsch, was Sie jetzt sagen. Ich glaube, die OSZE spielt hier eine wichtige, ich will nicht sagen, eine entscheidende, aber eine sehr wichtige Rolle. Die Tatsache, dass wir Hunderte von Beobachtern im Land haben, führt doch dazu, dass jeder weiß, dass das, was hier geschieht, dass diese Geiselnahmen, dass diese Besetzungen, dass Tötungen, Entführungen und so weiter notiert werden, dass das aufgeschrieben wird, dass das irgendwann auch nicht mehr ohne Folgen bleibt. Ich halte diese Mission für enorm wichtig und ich halte auch diese begleitende vertrauensbildende Maßnahme, diese Runden Tische, an deren Organisation ich mich hier zu beteiligen habe, für eine sinnvolle Tätigkeit. Wenn das alles nicht so schwierig wäre, dann bräuchten wir die OSZE nicht.
    Barenberg: Wenn es sich um ein eher langfristiges Projekt handelt, wie Sie es jetzt dargestellt haben, dieser Runde Tisch, was kann er denn kurzfristig dazu beitragen, überhaupt noch, dass die Wahlen gewährleistet werden können, auch im Osten des Landes?
    Ischinger: Schauen Sie, ich habe gestern, wie ich ja schon sagte, in Donezk mit einigen Verantwortlichen gesprochen. Ich habe angesichts des Vorfalls, den ich gerade schilderte, davon abgesehen, weitere Gespräche zu führen. Ich wollte auch nicht in den Verdacht geraten, dass ich als ein sichtbarer Vertreter des Westens nun gerade mit denen Gespräche führe, die gerade hier kriminelle Akte vorgenommen haben. Insoweit ist auch meine Tätigkeit nicht ganz einfach. Ich habe aber mit Freude festgestellt, dass inzwischen einige Leute die Dinge in die Hand nehmen. Der bekannte Großindustrielle Achmetow, mit dem ich gestern auch sprechen konnte, hat mir von seinem, ich nenne das jetzt mal das Modell Mariupol erzählt. Das ist ja inzwischen auch durch Presseberichte bekannt geworden. In Mariupol gab es auch erschreckende Unruhen. Dort sind inzwischen Mitarbeiter der Firmen dieses Industriellen auf die Straße gegangen und helfen sozusagen als zivile Ordnungskräfte, die Stadt zu beruhigen. Das hat funktioniert, in dieser Stadt gibt es keine Vermummte mehr, es wird nicht geschossen. Ich habe massiv dafür plädiert, dass man das Modell Mariupol möglichst ausdehnt, damit in dieser nicht militärischen Art und Weise hier hoffentlich peu à peu wieder eine Beruhigung eintritt.
    Ein maskierter Mann bringt an einem LKW eine russische Flagge an.
    Die prorussischen Separatisten behindern vor allem im Osten die Wahlvorbereitungen. (dpa/picture alliance/RIA Novosti/Natalia Seliverstova)
    "Die Separatisten würden gar nicht kommen!"
    Barenberg: Kann das denn, Herr Ischinger, gelingen, solange die bewaffneten Separatisten von der Teilnahme am Runden Tisch ausgeschlossen sind?
    Ischinger: Jetzt sagen Sie schon wieder etwas, was die Dinge wirklich auf den Kopf stellt. Die Separatisten, wenn Sie mal lesen, was die an wenigen politisch relevanten Dingen bisher gesagt haben, die Separatisten weigern sich nicht nur, die Zentralregierung in Kiew anzuerkennen; sie weigern sich auch, mit ihr auch nur im Entferntesten zu sprechen. Das Allerletzte, was die Separatisten tun würden, wenn man sie denn förmlich einladen würde, wäre, sich mit irgendeinem einzigen Vertreter der Kiewer Regierung an den Tisch zu setzen. Es ist also völlig abwegig, wenn ich ständig lese, sie würden ausgeschlossen. Sie würden nicht kommen! Das ist doch das Problem, das wir hier haben. Separatisten wollen doch nicht mit dieser Regierung verhandeln, sie wollen diese Regierung ersetzen und haben das im Osten in einigen Städten ja bereits durch Waffengewalt durchgesetzt. So sind die Dinge!
    Barenberg: Das heißt auch, dass der Schlüssel nach wie vor eigentlich in Moskau liegt?
    Ischinger: Moskau spielt hier eine wichtige Rolle, aber auch nicht die einzige Rolle. Ich habe nicht den Eindruck, dass alle diese, ich nenne sie mal weiter die Separatisten, dass alle diese Menschen sozusagen aus demselben Holz geschnitzt sind. Hier gibt es welche, die möglicherweise in der Tat eher auf Moskau hören. Dann gibt es aber sicher auch selbstgesteuerte, zum Teil auch eher nur kriminelle Gruppen. Ich habe im Übrigen – das würde ich gerne auch noch sagen, weil ich denke, das ist für die Hörer des Deutschlandfunks auch wichtig – bei den unzähligen Gesprächen, die ich jetzt in den letzten Tagen geführt habe, nicht einen einzigen ernsthaften politischen Gesprächspartner in der Ukraine getroffen, der nicht im Prinzip für eine einige Ukraine, also für die territoriale Integrität dieses Landes eintritt. Mein Eindruck ist also, dass die Separatisten allenfalls sich selbst vertreten. Was man im Osten des Landes feststellen kann, ist eine tiefgehende Unzufriedenheit mit der Regierung in Kiew, aber der Drang, sich von der Ukraine zu lösen, dieses Land aufzugeben, den gibt es anscheinend nur in den Köpfen der Separatisten. Den kann ich nicht bei der Bevölkerung oder auch bei politischen Vertretern aus der Region feststellen. Und glauben Sie es mir: Ich habe mit vielen inzwischen gesprochen.
    "Wahlen werden Situation nicht grundlegend verändern"
    Barenberg: Zum Schluss, Herr Botschafter, wenn ich all das zur Kenntnis nehme, was Sie gesagt haben, was würden Sie dann sagen über die Bedeutung der Präsidentschaftswahlen am Wochenende? Kann das eine Wende zum Besseren bringen? Das versprechen sich ja viele.
    Ischinger: Ich denke einmal, nach den Berichten, die wir haben, von dieser, wie ich finde, sehr nützlichen OSZE-Mission, darf man davon ausgehen, dass in weiten Landesteilen die Wahlen durchaus mehr oder weniger normal durchgeführt werden können. In einigen Städten im Osten wird das nicht der Fall sein. Wovon sprechen wir hier? Wir sprechen von einer Größenordnung von wahrscheinlich eher weniger als zehn Prozent. Unter diesen Umständen ist die Tatsache der Abhaltung der Wahl schon überhaupt einmal eine gute Sache, weil das Ergebnis der Wahl es dann mindestens sehr viel schwieriger macht für diejenigen, die gegen Kiew sind, die Machthaber in Kiew und den dann gewählten Präsidenten als illegitim zu betrachten. Insoweit betrachte ich das als einen Fortschritt, wenn die Wahlen stattfinden und dann hoffentlich bald ein Ergebnis verkündet werden kann.
    Wird das die Lage von Grund auf verändern? – Da muss man realistisch sein. Natürlich wird die Wahl nicht dazu führen, dass die mit Gewalt vorgegangenen Separatisten im Osten wirklich die Waffen niederlegen werden. Aber ich denke, es könnte dieses Wahlergebnis ein wichtiger Schritt sein, der dazu führt, dass man dann irgendwann einmal doch zu einer Gesprächslösung kommt und dass die Waffen ruhen können. Im Übrigen wird nicht auf offizieller Ebene, aber hinten herum natürlich auf vielen Kanälen versucht, einen Weg zu finden, um zu einem Schweigen der Waffen beizutragen, möglicherweise bereits vor den Wahlen. Ich kann das jetzt im Augenblick nicht abschätzen, ob das erfolgreich sein wird, aber diese Bemühungen gibt es.
    Barenberg: Heute Morgen hier live im Deutschlandfunk Botschafter a.D. Wolfgang Ischinger, der im Moment im Auftrag der OSZE beteiligt ist an der Moderation des Runden Tisches in der Ukraine. Danke für das Gespräch heute Morgen.