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Ukraine
"Janukowitsch ist geschwächt"

Der ukrainische Präsident Janukowitsch verliert an Zustimmung: Das steht fest für Rebecca Harms. Die Grünen-Europapolitikerin sagte im Deutschlandfunk, das Angebot des Präsidenten, das verschärfte Demonstrationsrecht zurückzunehmen, sei "sehr interessant".

Rebecca Harms im Gespräch mit Jasper Barenberg | 28.01.2014
    Rebecca Harms vor Mikrofonen bei einer Rede
    Rebecca Harms (dpa/picture alliance/Michael Kappeler)
    Jasper Barenberg: Das Schlimmste verhindern, darum vor allem ging und geht es in diesen Tagen in der Ukraine. Ausnahmezustand, Bürgerkrieg, Revolte – all das schien vorstellbar auf einmal und möglich. Jetzt aber hat Präsident Janukowitsch der Opposition zum ersten Mal konkrete Zugeständnisse gemacht, nach Verhandlungen mit den Köpfen der Protestbewegung. Umstrittene Gesetze sollen demnach zurückgenommen werden, im Gespräch ist auch eine Amnestie für die Aktivisten der Bewegung. Die Einigung wird heute auch im Parlament in Kiew zur Sprache kommen.
    Rebecca Harms ist Co-Vorsitzende der Grünen im Europaparlament. Seit Jahren hält sie Kontakt zu zivilgesellschaftlichen Gruppen in der Ukraine. In der Silvesternacht hat sie in Kiew auf dem Majdan zur Protestbewegung gesprochen und seit gestern Abend ist sie wieder dort, hat sich mit Aktivisten aus den Reihen der Opposition unterhalten. Was halten die von den Zugeständnissen des Präsidenten? Das habe ich Rebecca Harms vor gut einer halben Stunde gefragt.
    Rebecca Harms: Die Debatte darum steht noch aus. Die Einigung dazu steht noch aus. Allerdings muss ich sagen nach dem, was ich gestern erfahren habe, zur Bewertung des gesamten Verlaufes der Gespräche mit Präsident Janukowitsch ist, das was die Oppositionsführer Klitschko und Jazenjuk im Ergebnis als Angebote bekommen haben, sehr interessant. Das sehen alle hier so. Man merkt, dass Präsident Janukowitsch weiß, dass er an Zustimmung verliert, und dementsprechend werden die Angebote auch besser für die Opposition und den Euromaidan, also die Bewegung hier.
    Gestern ging es ja ganz stark um die Notstandsgesetze, die hier verabschiedet worden sind vor ein paar Tagen. Es ging auch um Zugeständnisse für eine Amnestie. Ich glaube, es wird sehr spannend, heute die Parlamentsdebatte hier in Kiew zu beobachten, weil heute soll im Parlament diskutiert werden, ob man nicht insgesamt zu der Verfassung von 2004 zurückkehrt. Diese Entscheidung würde die Allmacht des Präsidenten hier in Kiew wieder verändern und die Ukraine wieder mehr in einen demokratischen Staat verwandeln.
    "Gesetzeslage muss verändert werden"
    Barenberg: Lassen Sie uns noch kurz bei dem bleiben, was gestern Abend offenbar vereinbart worden ist in dem Gespräch, in den Verhandlungen zwischen dem Präsidenten und den Anführern der Opposition. Es wird darum gehen, Teile der Gesetze zumindest zurückzunehmen, die kürzlich verabschiedet wurden. Es geht um eine mögliche Amnestie für Aktivisten. Sie sprechen jetzt davon, das sei spannend und interessant. Welche Chance steckt denn darin?
    Harms: Ich meine, es ist völlig unakzeptabel, dass diese Gespräche als erfolgreich bewertet werden, wenn es bei der Gesetzeslage bleibt, die hier durch eine Art Parlamentsputsch ja zu Stande gekommen sind. Gesetze, die nicht nur Polizei und Justiz ermächtigen bis hin zum Schusswaffengebrauch gegenüber Demonstranten, sondern es sind auch Gesetze, die eigentlich jeden, der auf den Maidan geht in Kiew oder an irgendeinem anderen Platz in der Ukraine, mit Gefängnis bedrohen. Die Anführer der Proteste, die hätten nach diesen Gesetzen alle mit sieben Jahren mindestens Gefängnis zu rechnen. Es wäre nicht akzeptabel als Einigung, wenn nicht alle diejenigen, die verschwunden sind, wenn deren Schicksal nicht aufgeklärt würde, wenn die Gefangenen nicht frei gelassen würden inklusive Julia Timoschenko, und es wäre auch nicht akzeptabel, wenn diejenigen, die tatsächlich andere ermordet haben, straffrei davon kämen.
    Demonstranten stehen auf Barrikaden in der ukrainischen Hauptstadt Kiew
    Harms: "Staatsoberhaupt steht nicht nur unter dem Druck der Straße" (dpa / Antti Aimo-Koivisto)
    "Janukowitsch kann sich nur noch mit Gewalt an der Macht halten"
    Barenberg: Sie haben über die Notstandsgesetze gesprochen. Es gibt ja auch Gerüchte immer wieder, die Regierung könnte den Ausnahmezustand verhängen. Was macht Sie zuversichtlich, wenn es so ist, dass es Janukowitsch diesmal Ernst meint und er nicht weiter auf Zeit spielt?
    Harms: Der Ausnahmezustand, von dem gestern die Justizministerin geredet hat, das war eine Reaktion auf die Besetzung des Justizministeriums. Dieses besetzte Gebäude funktioniert inzwischen wieder ordentlich, die Demonstranten sind da wieder rausgegangen. Diese Besetzungen waren von niemandem geplant, das hat sich im Eifer einer Nacht so ergeben.
    Ich hoffe wirklich, dass es nicht von Präsident Janukowitsch weiter auf dem Weg der Eskalation vorangetrieben wird, was hier los ist, weil das ist nicht ausgeschlossen. Das war auch Teil der Gespräche gestern. Nach wie vor wird hier auch immer noch damit gerechnet, dass die Gewalt eskaliert.
    Ich glaube, Präsident Janukowitsch ist auf der einen Seite versucht, diesen Weg zu gehen, weil nur mit Gewalt kann er sich an der Macht halten, so wie er sie heute hat. Auf der anderen Seite hat er große Zweifel, ob er Polizei und Militär überhaupt hinter sich bringen kann nach dem, wie er hier seine Präsidentengarde auf die Bürger gehetzt hat. Es gab gestern Hinweise darauf, dass Berkut, die Präsidentengarde, auf 30.000 Mann aufgestockt werden soll. Das ist ein Zeichen dafür, dass er schwach ist, dass er diese Berkut-Leute braucht. Aber ich kann mir nach wie vor nicht vorstellen, dass dieser Weg der Eskalation weiter möglich ist, weil die Sympathien für die Bewegung gegen Korruption, gegen Janukowytsch, für Rechtsstaat, für Europa, die Sympathien für diese Bewegung, die wachsen ja.
    Barenberg: Ist die außerordentliche Parlamentssitzung, die Sie angesprochen haben, ist die so eine Art Lackmustest heute im Verlaufe des Tages für die Ernsthaftigkeit des Angebots?
    Harms: Ich bin sehr gespannt erstens, ob wir da als Gäste teilnehmen können. Das war gestern Abend noch nicht ganz klar. Aber ich denke, dass das klappt. Zweitens hoffe ich, dass das Parlament nicht nur eine Schau macht. Es kann sein, dass man erst mal lange darüber streitet, ob das überhaupt auf die Tagesordnung soll mit der Verfassung und ob die aktuelle Lage diskutiert wird. Da werden sicher die Anhänger des Präsidenten noch mal versuchen, das anzuhalten. Ich hoffe, dass von Anfang an es eine klare Mehrheit hier gibt. Natürlich haben Sie recht, es ist ein Lackmustest, es ist ein Test darauf, wie weit die Absetzbewegung von Präsident Janukowitsch in der Partei der Regionen und auch des Umfeldes, des Pro-Janukowitsch-Umfeldes um die Regionen, wie weit das gediehen ist.
    Barenberg: Sie haben auch die Besetzung des Justizministeriums besprochen, die in der Zwischenzeit ja wieder beendet ist. Vitali Klitschko, der Oppositionspolitiker, hat das ja als Provokation bezeichnet und abgelehnt. Welchen Anteil hat eigentlich die Opposition oder haben Teile der Opposition an der Eskalation der vergangenen Tage und Wochen?
    "Keine weitere Eskalation durch die Regierung"
    Harms: Manchmal hatte ich bei der Berichterstattung in den EU-Ländern über das, was hier abgelaufen ist, den Eindruck, dass man zuhause denkt, in Berlin oder in Brüssel oder in Paris, dass es eine Eskalation ist, die auf beiden Seiten passiert. Ich halte das für eine völlige Fehleinschätzung. Wenn die Leute hier auf dem Euromaidan erleben, dass ihre Freunde, ihre politischen Freunde, dass die erschossen werden, dass die verschwinden, dass die gefoltert werden – darüber gibt es ja inzwischen Augenzeugenberichte -, dann muss man sich nicht wundern, wenn man da auch mal erlebt, dass auf der Seite, wo bisher der friedliche Protest war, Steine genommen werden, Molotow-Cocktails genommen werden und so weiter. Aber das ist trotzdem nicht gleichzusetzen. Sie müssen auch unter Journalisten daran denken, das ist hier das Land, in dem vor gar nicht so langer Zeit ein Journalist tot gefunden wurde, die Leiche gefunden wurde mit dem abgeschlagenen Kopf, und wir haben hier jetzt wieder eine lange Liste von Journalisten und Aktivisten, die verschwunden sind.
    Barenberg: Zum Schluss, Frau Harms: Unsere Tür bleibt offen, das ist ja im Moment der Tenor, der aus Brüssel kommt von der EU. Ist das hilfreich, jetzt wo es darum geht, wirklich einen ernsthaften Ausweg aus der Krise zu suchen, diese Zurückhaltung?
    "Europas Tür muss offen bleiben"
    Harms: Die Tür muss ja offen sein. Ich meine, das was hier passiert, diese pro-europäischen Proteste, die Leute, die sich dafür einsetzen, mit dem Risiko, ihr Leben dafür zu geben, diese Leute die machen das ja, weil wir ihnen das Versprechen auf europäische Verhältnisse gegeben haben, auf eine Annäherung an die Staatlichkeit, die Rechtsstaatlichkeit, die wir kennen. Wie das genau aussehen kann, darüber muss auch geredet werden. Im Moment ist die Rolle der Europäer eigentlich die, denke ich, dass wir uns mit allen unseren Möglichkeiten erst mal für eine Befriedung in der aktuellen Situation einsetzen sollten: kein weiteres Blutvergießen, keine weitere Eskalation durch die Regierung.
    Barenberg: Rebecca Harms, die Ko-Vorsitzende der Grünen im Europaparlament. Danke Ihnen für das Gespräch.
    Harms: Gerne! Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Hinweis: Das Gespräch mit Rebecca Harms können Sie mindestens fünf Monate lang als Audio-on-demand abrufen.