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Ukraine
Jilge: EU muss diplomatische Initiative starten

Die ukrainische Regierung versucht verdeckt die Demonstranten in Kiew einzuschüchtern, sagte der Osteuropa-Experte Wilfried Jilge im DLF. Tausende Schlägertrupps seien auf der Straße, um scheinbar ohne Auftrag der offiziellen Stellen Gewalt anzuwenden. Von der EU fordert er eine "breit gefächerte, intensive Diplomatie" zur Lösung des Konflikts.

Wilfried Jilge im Gespräch mit Peter Kapern | 22.01.2014
    Gewalt zwischen Demonstranten und der Polizei am Sonntag
    Gewalt zwischen Demonstranten und der Polizei am Sonntag (dpa / picture-alliance / Sergey Dolzhenko)
    Peter Kapern: Wieder haben Tausende demonstriert in der vergangenen Nacht, wieder ist es zu vereinzelten Ausschreitungen gekommen, jedoch nicht so schlimm wie in den Nächten zuvor. Kein Vergleich also zu den Krawallen in den ersten Nächten dieser Woche. Im Interview mit der "Bild"-Zeitung hat der ukrainische Oppositionsführer Vitali Klitschko unterdessen eingeräumt, die Opposition habe die Protestbewegung nicht mehr unter Kontrolle. Die Verantwortung dafür gab er der Regierung von Präsident Janukowitsch. Schläger wurden in die Hauptstadt gebracht, um Autos anzuzünden, Schaufenster einzuschlagen, zu stehlen und Schlägereien zu provozieren, behauptete Klitschko. – Bei uns am Telefon ist Wilfried Jilge, Osteuropa-Experte von der Universität in Leipzig. Guten Morgen, Herr Jilge.
    Wilfried Jilge: Guten Morgen, Herr Kapern.
    Kapern: Herr Jilge, wie bewerten Sie die Situation? Hat die Regierung Agent Provocateur in Marsch gesetzt in Kiew?
    Jilge: Es gibt zwei wichtige Dinge, die man auseinanderhalten muss, wenn wir über die Ausschreitungen sprechen. Der eine Schauplatz der Ausschreitungen sind die Auseinandersetzungen an der Hruschewsky-Straße, beginnend am Eingang zum Dynamo-Stadion im Zentrum von Kiew, wo es nach der Erlassung der sogenannten Diktaturgesetze durch die Regierung dazu gekommen ist, dass einzelne Gruppen, auch katalysiert durch eine rechtsnationalistische Gruppe, da hinmarschiert sind und an der Werchowna Rada, am Parlament demonstrieren wollten gegen diese Gesetze. Da sind sie blockiert worden von den Spezialeinheiten und das führte dann zu diesen Auseinandersetzungen, die letzten Endes durch diese Gesetze vor allem verursacht wurden.
    Die anderen Schauplätze in Kiew, was wir sonst noch in Kiew sehen, das sind tatsächlich diese Tituschki, benannt nach einem Schläger Vadim Tituschka aus Bila Zerkwa bei Kiew, die schon im Jahre 2013 von regierungsnahen Truppen oder der Regierung eingesetzt wurden, um unter Billigung der Miliz gegen Journalisten oder Oppositionelle vorzugehen. Das sind Schläger, die haben die Aufgabe, die Kiewer einzuschüchtern und abzuhalten, weiter zu demonstrieren.
    "Nicht unbedingt direkt offen die Miliz einsetzen"
    Kapern: Welches strategisches Ziel verfolgt Präsident Janukowitsch mit dem Einsatz dieser Schläger? Sie haben das gerade schon angedeutet: Es geht nur um Einschüchterung?
    Jilge: Nicht nur. Man muss davon ausgehen, dass Janukowitsch jetzt tatsächlich auch, vielleicht getrieben von Zachartschenko, dem Innenminister, versucht, mit Gewalt den Maidan endlich aufzuräumen, wie es da heißt. Aber man will das nicht offen tun. Man will nicht unbedingt direkt offen die Miliz einsetzen, wie das auch schon im Dezember bei dem Vorgehen gegen die Barrikaden der Fall war. Diese Tituschki, diese Schlägertrupps, die mittlerweile zu Tausenden durch Kiew schwadronieren, dienen dazu, sozusagen nicht mit direkter Verantwortung der Miliz, der offiziellen Stellen Gewalt anzuwenden, beziehungsweise jetzt erst mal über diese Weise die Barrikaden zu durchlöchern und die Kiewer einzuschüchtern. Man fürchtet ein offenes Vorgehen noch deswegen, weil man durchaus A Sanktionen fürchtet, und zweitens gibt es in Regierungskreisen eine gewisse Unsicherheit, ob man sich tatsächlich in allen Regionen auf die Milizen und Innentruppen verlassen kann. Denken Sie daran, dass in der West-Ukraine der Aufmarsch nach Kiew von den Innentruppen, der befohlen wurde von der Regierung, blockiert wurde, von westukrainischen Demonstranten, und es gab sogar aus Reihen der Innentruppen Zettelchen, die an die Demonstranten geschrieben wurden: Blockiert uns, damit wir da nicht hin müssen.
    "Ein Exempel statuieren"
    Kapern: Sie sagten, die Regierung fürchte Sanktionen, Herr Jilge. Ganz kurz noch deshalb die Frage: Was kann die EU jetzt noch tun, um einer weiteren Eskalation vorzubeugen?
    Jilge: Die EU muss jetzt eine breit gefächerte, durchaus unter den für die Osteuropa-Politik wichtigen Staaten, auch für die Ukraine wichtigen Staaten wie Polen und Deutschland abgestimmte diplomatische Initiative betreiben, die der Regierung zunächst und dem Präsidenten bedeuten, was es heißt, wenn sie die Wege nach Europa ganz abbrechen. Sie muss aber auch mit unterschiedlichen Gruppen in der durchaus nicht einheitlichen Regierungspartei der Regionen, als auch mit verschiedenen, teilweise auch eher europäisch ausgerichteten Oligarchen und Machtnetzwerken sprechen, um eben auf unterschiedliche Weise deutlich zu machen, dass das ein Weg in die Sackgasse ist. Und sie muss zweitens notfalls auch ein Exempel statuieren und der einen oder anderen Schlüsselfigur, die dieses System finanziert, auch über eine Kontrolle ihrer Offshore-Finanzströme deutlich machen, dass man da auch was einfrieren kann. Ich glaube, eine andere Sprache verstehen teilweise diese Leute nicht. Aber diese Mittel gibt es durchaus und sie wären dringend zu prüfen und diskret anzuwenden, so anzuwenden, dass man Janukowitsch auch nicht in eine Ecke, in eine Lukaschenko-Ecke treibt, aus der er nicht mehr herauskommt. Also abgestimmte, breit gefächerte, intensive Diplomatie, damit diese pro-europäische Bewegung auch wieder ein Erfolg wird, dass das für die Ukraine noch einen Nutzen hat.
    Kapern: Wilfried Jilge, der Ukraine-Experte von der Universität in Leipzig, heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Jilge, danke für Ihre Expertise, einen schönen Tag noch und auf Wiederhören!
    Jilge: Ihnen auch! - Danke schön! - Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.