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Ukraine-Konflikt
"Das Thema Sanktionen wird wieder auf die Tagesordnung kommen"

Auf dem EU-Gipfel am Samstag werden die Staats- und Regierungschefs wahrscheinlich über weitere Strafmaßnahmen gegen Russland beraten, sagte Gernot Erler (SPD), Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-russische Zusammenarbeit, im DLF. Es gebe schon längst Pläne, wie die Wirtschaftssanktionen verstärkt werden könnten.

Gernot Erler (SPD) im Gespräch mit Christoph Heinemann | 29.08.2014
    Der Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD).
    Der Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD). (dpa / Franziska Kraufmann)
    Erler sagte weiter, nur mit Diplomatie könne der Konflikt gelöst werden. "Militärisch hat die Ukraine gar keine Chance gegen den Nachbarn Russland." Am Ende werde man wieder darauf zurückkommen, dass man beide Seiten an den Verhandlungstisch bringen müsse.
    Seiner Ansicht nach will Russlands Präsident Wladimir Putin mit seinem Verhalten eins auf jeden Fall verhindern: Dass die von ihm unterstützten Separatisten in der Ukraine verlieren.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Die NATO geht davon aus, dass mindestens, konservativ geschätzt, tausend russische Soldaten im Osten der Ukraine kämpfen. Das deutete sich in den vergangenen Tagen schon an, als uniformierte russische Fallschirmspringer in Gefangenschaft gerieten. Und dass die sich versehentlich verflogen hätten, das glaubten wohl nur die wenigsten. Nach Lesart des Bündnisses gibt es den Versuch, in der Ukraine eine zweite Front zu eröffnen, um damit den Druck auf die Separatisten zu verringern. Gestern telefonierte die Bundeskanzlerin mit US-Präsident Barack Obama. Angela Merkel hatte zuvor klargestellt:
    O-Ton Angela Merkel: "Das zeigt, dass wir uns auf dem Europäischen Rat mit der Frage werden wieder beschäftigen müssen, und wir haben immer wieder deutlich gemacht, schon im März dieses Jahres, dass bei weiteren Eskalationen natürlich auch über weitere Sanktionen gesprochen werden muss."
    Heinemann: Europäischer Rat heißt, morgen werden die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel über die Lage beraten. Eingeladen ist auch Petro Poroschenko, der ukrainische Präsident, der in dieser Woche noch Wladimir Putin in Minsk die Hand gereicht hatte. Der russische Präsident äußerte sich in der Nacht.
    Am Telefon ist der SPD-Außenpolitiker Gernot Erler, der Russland-Beauftragte der Bundesregierung. Guten Morgen!
    Gernot Erler: Guten Morgen, ich grüße Sie.
    Heinemann: Was nun?
    Erler: Ja! Ich meine, die diplomatischen Bemühungen laufen ja. Wir hatten eine Dringlichkeitssitzung der OSZE. Wir hatten eine Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Wir haben ein Treffen der Außenminister in Mailand. Wir haben morgen den Sondergipfel der EU, und überall steht das Thema Ukraine auf der Tagesordnung. Also man kann nicht sagen, dass es keine Reaktionen, keine politische, auf diese dramatische und uns alle alarmierende Entwicklung gibt.
    "Militärisch hat die Ukraine gar keine Chance"
    Heinemann: Militärisch steht die Ukraine mit dem Rücken an der Wand?
    Erler: Militärisch hat die Ukraine gar keine Chance gegen den Nachbarn Russland, der, was das Militärpotenzial angeht, in ganzen Dimensionen mächtiger ist als die Ukraine. Ein militärischer Erfolg gegen tatsächlich eingesetzte russische Kräfte ist undenkbar.
    Heinemann: Das heißt, die gesamte Diplomatie, die Sie gerade beschrieben haben, bringt nichts?
    Erler: Diese Diplomatie muss reagieren und wird reagieren, und das hat ja auch die Bundeskanzlerin schon angekündigt, indem sie gesagt hat, man wird auf diesem Sondergipfel morgen, der eigentlich gar nicht diesem Thema gewidmet ist, sondern ganz anderen Fragen gewidmet ist, eben doch über das Thema Ukraine sprechen, und wir werden wahrscheinlich erleben, dass dabei das Thema Sanktionen auch wieder auf die Tagesordnung kommt.
    Heinemann: Welche Sanktionen?
    Erler: Es geht nach wie vor um Wirtschaftssanktionen.
    Heinemann: Konkreter?
    Erler: Na ja! Ich meine, man kann natürlich das, was man schon beschlossen hat, was die Einschränkung von Handel angeht, von den Lieferungen von bestimmten Gütern, von Bereitstellung von Zahlungsmitteln, weiter einschränken, und dafür gibt es auch natürlich längst Pläne, Vorbereitungen, denn es war immer klar, dass dieses Thema wiederkommt, wenn es nicht eine Veränderung des Verhaltens in Moskau gibt, und jetzt haben wir eine Veränderung, aber leider zum Schlechteren. Insofern muss man davon ausgehen, dass da etwas passiert, aber auf der anderen Seite sind wir uns natürlich auch im Klaren darüber, da wir eine Deutung brauchen für das russische Verhalten. Meine persönliche Deutung ist die, dass Wladimir Putin sich entschlossen hat, auch ein denkbar hohes politisches Risiko einzugehen, um eins auf jeden Fall zu verhindern, nämlich eine militärische Niederlage der von ihm unterstützten prorussischen Separatisten in der Ostukraine. So erklärt sich meines Erachtens auch, dass bisher das, was an Sanktionen verhängt worden ist, was an politischen Bemühungen gemacht worden ist, keinen Erfolg hatte.
    "Das kann nur in Paris beschlossen werden"
    Heinemann: Herr Erler, einen ganz konkreten Vorschlag hat der CDU-Europapolitiker Michael Gahler gemacht. Er hat bei uns im Deutschlandfunk gesagt, Frankreich solle die beiden bestellten Mistral-Hubschrauberträger nicht an Russland ausliefern; stattdessen sollte die Europäische Union diese Schiffe aufkaufen. Würde die Bundesregierung so etwas unterstützen?
    Erler: Ich sage mal, das ist sicherlich ein Thema, was in Frankreich zu diskutieren ist und dort auch zu entscheiden ist.
    Heinemann: Nein, in Europa!
    Erler: Moment! Ich meine, dazu gehört ja Frankreich und Frankreich müsste dem ja zustimmen, einem solchen Vorgehen. Bisher ist die französische Regierung bereit, diese beiden Waffensysteme auszuliefern, und es gibt auch keinen Beschluss in Europa, der rückwirkend solche Geschäfte verbietet, auch wenn ansonsten ja Rüstungslieferungen eingestellt worden sind. Insofern ist das wirklich eine Sache, die kann nur in Paris beschlossen werden.
    Heinemann: Jetzt drücken Sie sich ein bisschen um die Antwort.
    Erler: Nein, das tue ich nicht. Außerdem habe ich ja eben gesagt, weshalb ich glaube, dass die Maßnahmen, die im Augenblick getroffen worden sind – und dazu würden auch solche ergänzenden Maßnahmen gehören -, wahrscheinlich wenig Einfluss auf die russische Politik haben, weil man dort eine Prioritätensetzung vorgenommen hat.
    Heinemann: Mit der Begründung könnte man alle Sanktionen vom Tisch wischen.
    Erler: Das will ja niemand. Erstens sind sie zum Teil ja schon beschlossen und haben ja durchaus auch übrigens, was die wirtschaftliche Entwicklung angeht, Wirkungen. Aber diese Wirkungen haben bisher nicht dazu geführt, dass eine andere Prioritätensetzung erfolgt.
    "Diese Systeme werden ja zu völlig anderen Zwecken gekauft"
    Heinemann: Ist aber interessant, Herr Erler. Wenn man es mal konkret macht und Ihnen eine konkrete Frage stellt, Ihnen jetzt als Pars pro toto, sagt die Politik, nee, nee, so konkret wollen wir das jetzt doch nicht haben.
    Erler: Nein! Ich meine, glauben Sie ernsthaft - ich kann ja mal eine Rückfrage stellen -, dass, wenn diese ...
    Heinemann: Bitte nicht.
    Erler: ... Mistral-Systeme nicht geliefert werden, dann sich konkret in der Ostukraine unmittelbar etwas ändert? Diese Systeme werden ja zu völlig anderen Zwecken gekauft.
    Heinemann: Wie gesagt: Mit dieser Begründung kann man alle Sanktionen vom Tisch wischen.
    Erler: Das will niemand. Die Sanktionen sind beschlossen und es wird morgen wieder ein Gespräch darüber geben im Rahmen des Sondergipfels der EU, und es kann nicht sein, dass das Verhalten Russlands ohne Antwort bleibt. Die Frage ist, was die vernünftigsten Antworten sind. Am Ende wird man immer wieder darauf zurückkommen, auch zurück auf das, was in Minsk in dieser Woche am Dienstag passiert ist, dass man beide Seiten an den Verhandlungstisch bringen muss. Das ist die einzige Möglichkeit. Ich sehe keine vernünftige Alternative.
    Heinemann: Die vernünftigsten Antworten sind wahrscheinlich die konkreten, zum Beispiel auf folgende Frage: Gehen Sie davon aus, dass Russland nach der Krim jetzt auch den Osten der Ukraine annektieren will? Wir haben eben im Beitrag gehört allein die Wortwahl "Neurussland" für den Osten der Ukraine.
    Erler: Ja! Ich meine, dahinter steckt ja ein Länderkonzept, was 11 von 24 ukrainischen Regionen umfasst. Das, was die, sage ich mal, Köpfe der Separatisten da im Kopf haben, ist tatsächlich eine geografische Veränderung, die praktisch die Ukraine halbieren würde. Wenn Putin diesen Begriff benutzt, zeigt er, dass er vertraut ist mit diesen Ideen und diesen Vorstellungen und dass er sie womöglich unterstützt. Aber auf der anderen Seite haben wir immer wieder klare Aussagen von der russischen Seite bekommen, dass es nicht vorgesehen ist, irgendwie weitere Annexionen vorzunehmen in der Ukraine. Die Frage ist, woran kann man sich hier orientieren. Ich persönlich glaube tatsächlich, dass es im Augenblick der russischen Politik darum geht, eine militärische Niederlage der von ihr unterstützten separatistischen Gruppierungen zu vermeiden. Das sehe ich im Vordergrund der russischen Bemühungen im Augenblick und ich meine, das sah ja auch sehr eng aus in den letzten Wochen, denn die ukrainische Armee hatte ja durchaus Erfolg gehabt, den Einfluss und den Einflussbereich dieser Separatisten zu begrenzen.
    "Keine Illusionen darüber gemacht haben, dass Militärgerät geliefert wird"
    Heinemann: "Putins Krieg" überschreibt die "Frankfurter Allgemeine" heute den Leitartikel. Ich lese mal den Anfang vor: „Lange hat die westliche Politik so getan, als durchschaue sie Putins Maskenball in Tarnfarben nicht, denn nichts wollte man in Berlin, Paris und London lieber glauben als die Beteuerung Moskaus, es halte sich aus dem Krieg im Osten der Ukraine heraus." Ziehen Sie sich diesen Schuh an? Haben auch Sie zu lange weggeschaut?
    Erler: Nein. Ich glaube, dass wir alle ziemlich realistisch beobachtet haben, was hier passiert, und dass wir uns keine Illusionen darüber gemacht haben, dass Militärgerät geliefert wird, dass Söldner geschickt worden sind. Nur was in den letzten Stunden und Tagen die Frage ist, haben wir eine neue Qualität, haben wir jetzt auch die mehr oder weniger offene Entsendung von russischen Streitkräften in das Nachbarland, und leider muss man sagen, dass die Berichte sich verdichten, dass genau das im Augenblick passiert.
    Heinemann: Nur haben Sie gerade in dieser Woche nach dem Treffen Poroschenkos mit Putin noch gesagt, das sei ein Signal und dieses Gespräch habe auf Augenhöhe stattgefunden. Würden Sie heute wahrscheinlich auch nicht mehr so sagen, ist doch Augenwischerei gewesen.
    Erler: Doch! Das hat stattgefunden. Das ist ja auch nachweisbar, dass das so gewesen ist. Aber wir haben leider eine Wiederholung hier von den Vorgängen. Wir haben immer wieder solche Gesprächsansätze gehabt, die auch zur Bekundung von gutem Willen geführt haben. Beide Staatsführer haben gesagt, dass sie sich eine andere als eine politische Lösung des Konflikts nicht vorstellen können. Und in der Realität passiert etwas anderes. Aber da muss man auf der Linie bleiben.
    Heinemann: Der SPD-Außenpolitiker Gernot Erler, der Russland-Beauftragte der Bundesregierung. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Erler: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.