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Ukraine-Konflikt
Die Kanzlerin als Schlüsselfigur

Bundeskanzlerin Merkel spiele eine wichtige Rolle für eine Lösung des Ukraine-Konflikts, sagte der Publizist Richard Kiessler im DLF. Es gebe keinen Politiker im Westen, der eine derartige Schlüsselstellung zwischen der Ukraine und Russland einnehme. Ob sie beim anstehenden Besuch in Kiew etwas bewegen könne, sei allerdings fraglich, so Kiessler

Richard Kiessler im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 23.08.2014
    Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ukraines Staatspräsident Petro Poroschenko
    Poroschenko und Merkel - was bringen die Gespräche? (AFP / John Macdougall)
    Jürgen Zurheide: Die Bundeskanzlerin reist heute in die Ukraine. Das ist der Auftakt zu vielen Gesprächen, die in den kommenden Tagen stattfinden werden - natürlich mit dem Ziel, Frieden zu schaffen in einer Region, die außerordentlich schwierig ist. Über dieses Thema wollen wir reden mit Richard Kiessler, dem Publizisten, der jetzt am Telefon ist. Guten Morgen, Herr Kiessler!
    Richard Kiessler: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Kiessler, beginnen wir mal mit dem, was sich in den letzten Stunden abgespielt hat in der Ukraine. Die weißen Lastwagen sind in die Ukraine gefahren ohne Genehmigung der ukrainischen Regierung. Die ukrainische Seite sagt, Invasion, die russische Seite sagt, das ist ein humanitärer Einsatz. Wie bewerten Sie das?
    Kiessler: Nun, hier ist Präsident Putin offensichtlich ein großer Coup gelungen, und zwar zu einem sehr interessanten Zeitpunkt, nämlich vor dem Besuch der Bundeskanzlerin in Kiew und dem für Dienstag nächste Woche angesetzten Gipfeltreffen mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko in Minsk. Russland hat auf diese Weise deutlich gemacht, dass es aus seiner Sicht humanitäre Leistungen erbringt, und die Ukraine hat sich in der Tat sehr schwergetan, diesen Konvoi, der da nun herumgeistert seit fast zehn Tagen, durchzulassen. Also da ist auch ein Stück Schuld bei der Ukraine, denn man hätte natürlich diesen Konvoi bei Charkiw über die Grenze lassen können, das heißt, dann wäre das Gebiet von der ukrainischen Armee kontrolliert gewesen, so aber ist dieser Konvoi nach Lugansk gefahren und im Gebiet der Separatisten gelandet.
    "Im Grunde ist es im Donbass-Becken ein Stellungskrieg"
    Zurheide: Ist das nicht prinzipiell das Problem, dass die Dinge sehr unterschiedlich bewertet werden, egal, worum es geht - in diesem Fall mit dem Ergebnis, wie Sie es gerade zeigen? Aber beide Seiten haben oft immer sehr eigene Interpretationen. Da fragt man sich: Reden die nicht genügend miteinander oder woran liegt das?
    Kiessler: Es liegt an einem großen Mangel an Vertrauen auf beiden Seiten, und das macht auch die Gespräche so außerordentlich schwierig. Und der Präsident Poroschenko mag die Vision gehabt haben, bis zum Unabhängigkeitstag der Ukraine morgen am Sonntag militärisch reinen Tisch gemacht zu haben, aber es ist im Grunde im Donbass-Becken ein Stellungskrieg, der sich festgefahren hat. Es werden immer wieder Gebiete erobert und zurückerobert. Es gibt keinen klaren Sieger, obwohl die ukrainische Armee in letzter Zeit einige Erfolge zu verzeichnen hatte. Aber andererseits wissen wir spätestens seit Putins Griff nach der Krim, dass unsere Vision von einer europäischen Friedensordnung von Vancouver bis Wladiwostok von der Führung im Moskauer Kreml zu einer Revision der Ordnung nach dem Kalten Krieg umgedeutet wird. Und mit dem Versuch im Fall der Ukraine, an eine Politik der Interessensphären mit begrenzter Souveränität anzuknüpfen, steht Putin in der Tradition großrussischer Politik. Damit hat der russische Präsident die Regeln der internationalen Ordnung herausgefordert.
    "Das politische System Putins ist in die Krise geraten"
    Zurheide: Das heißt, Sie sagen, Putin hat einen Plan, er will Russland zu alter Größe zurückführen, und das verändert das, was wir in den letzten 10, 15 Jahren eigentlich beobachtet haben?
    Kiessler: Ja. Es wird ja sehr oft davon geredet, dass die Führung im Kreml oder jedenfalls die maßgebenden Leute immer noch unter dem Phantomschmerz des verlorenen Imperiums leiden, und ich glaube auch, dass Russlands Griff nach der Krim und seine Politik der konsequenten Destabilisierung in der Ukraine auch zeigt, dass das politische System Putins in die Krise geraten ist. Im postsowjetischen Raum bietet das russische Modell keine Attraktivität mehr für die Anrainer und befindet sich in wachsender Konkurrenz zu den Wohlstands- und Rechtsstaatsversprechen der Europäischen Union. Und insofern nimmt Putins Politik der Selbstisolation klare Verletzungen des internationalen Völkerrechts in Kauf.
    "Wir sind im Augenblick Zeuge einer gezielt antiwestlichen Politik Russlands"
    Zurheide: Das heißt, wir müssen Putin neu bewerten. Wir haben es in Teilen getan, aber manche Verhältnisse und manche Maßstäbe scheinen da zu verrutschen. Könnte ja zu der Frage führen: Ist Putin weniger berechenbar, als das Breschnew zu bestimmten Zeiten der Geschichte war?
    Kiessler: Ja, das kann man so sehen. Ich glaube allerdings, dass Putin auch ziemlich genau weiß, was er tut. Insofern fährt er schon eine Politik des aus seiner Sicht kalkulierten Risikos. Er würde also sicherlich nicht zu völlig erratischen Schritten greifen und sich auf Dauer in der Ostukraine festsetzen oder so. Daran glaube ich nicht. Allerdings sind wir im Augenblick natürlich Zeuge einer gezielt antiwestlichen Politik Russlands, und dem Putin muss die Entwicklung in der Ukraine wie ein gefährlicher Sprengsatz erscheinen. Und das erklärt eben auch die Unterstützung für die Separatisten, die Saboteure, die Freischärler, die Abenteuer und Provokateure in der Ostukraine. Und zum Teil ist daraus eine wildgewordene Soldateska entstanden, die Putin durchaus nicht vollständig, ich sage, nicht vollständig unter Kontrolle hat. Es ist ganz interessant, dass er von diesen Separatistenführern einige ausgetauscht hat, wohl in der Hoffnung, dort Leute einzusetzen, die verhandlungsbereiter sind, denn es ist ersichtlich, dass Russland verhandeln will.
    "Bundeskanzlerin spielt eine wichtige Rolle"
    Zurheide: Das führt aber doch jetzt zu der Frage: Wie kann man das auflösen oder wer kann das auflösen?
    Kiessler: Eine wichtige Rolle spielt die Bundeskanzlerin dabei, die sitzt im Fahrersitz der Ukrainekrise. Es gibt keinen Politiker im Westen, der eine derartige Schlüsselstellung zwischen der Ukraine und Russland derzeit einnimmt. Ob sie damit sehr viel bewegen kann jetzt heute bei dem Besuch in Kiew ist außerordentlich fraglich. Aber es ist doch ein wichtiger Schritt, den sie geht, die Unterstützung der Europäischen Union deutlich zu machen für Poroschenko. Übrigens ist Poroschenko der einzige Politiker, den die Europäische Union in den letzten Monaten für fähig hält, hier Bewegung reinzubringen.
    Zurheide: Hat man da nicht möglicherweise auch zu hohe Erwartungen? Wenn ich an manche Sätze von ihm denke, dann fragt man sich doch, ob der in die westliche Wertegemeinschaft gehört. Oder hat es damit zu tun, dass er damit das eigene Publikum bedient?
    Kiessler: Er steht natürlich unter erheblichen Zwängen, auch innenpolitisch. Es könnte also durchaus am Dienstag in Minsk passieren, dass Putin ein Angebot macht, etwa dergestalt: Wir ziehen uns zurück aus der Ostukraine, wir stimmen einem Grenzkontrollregime zu, aber dafür müsst ihr Ukrainer den Anschluss der Krim an Russland anerkennen. Und darauf kann sich Poroschenko derzeit gar nicht einlassen.
    Zurheide: Eine schwierige Lage vor den vielen Gesprächen, die stattfinden an diesem Wochenende und in den kommenden Tagen. Das war ein Gespräch zur Lage mit Richard Kiessler, Herr Kiessler, ich bedanke mich für das Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.