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Schurken in der Bibel
Lob der Unmoral

Theologen in Jena durchforsten die Bibel nach zwielichtigen und zwiespältigen Figuren. Ihre Erkenntnis: Ohne all die Diebe, Heuchler und Habgierigen würden die Geschichten nicht funktionieren. Geschöpft wird dabei aus dem vollen und unmoralischen Leben.

Von Henry Bernhard | 08.12.2017
    Darstellung der Kreuzigung Jesu
    Gemeinsam mit Jesu wurden auch zwei Verbrecher hingerichtet. Gesetzesübertretungen unmoralischer Helden gibt es in biblischen Geschichten immer wieder. (imago stock&people)
    "Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. Das aber bedenkt: Wenn der Hausherr wüsste, in welcher Nachtwache der Dieb kommt, wäre er wachsam und ließe nicht zu, dass in sein Haus eingebrochen wird. Darum haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr es nicht vermutet."
    Ramón Seliger ist einer der fünf akademischen Theologen, die in der Stadtkirche in Jena über "unmoralische Helden" predigen. Wer ist in dem von ihm für die Reihe ausgewählten Gleichnis vom Dieb und vom Gottessohn, dessen Ankunft ungewiss ist, der "unmoralische Held"? Seliger:
    "Der 'unmoralische Held' liegt vermutlich beim Dieb verborgen, einer Figur, die hier herangezogen wird, die ja nun nicht unbedingt positiv besetzt ist, von der man aber hier eine Menge lernen kann. Ohne den Dieb funktioniert diese Geschichte nicht. Das Bild des Diebes, der in der Nacht völlig unvorhergesehen kommt - eine Zumutung eigentlich! -, der uns da etwas ermöglicht: Nämlich die Erkenntnis, wachsam zu sein, ein bewusstes Leben zu führen, in dem Fall die Gottesherrschaft, das Kommen der Gottesherrschaft, damit zu rechnen wie mit einem Dieb! Aber es bleibt ein schräges Bild eigentlich."
    Sparringpartner des Guten
    Es geht den Theologen der Jenaer Universität weniger um Superhelden und Superschurken in biblischen Texten, sondern darum, Protagonisten der Bibel in den Mittelpunkt zu stellen, die nicht den gängigen Vorstellungen von Anstand und Moral entsprechen, die damit aber eine Geschichte erst ins Rollen bringen. Wie eben der Dieb.
    "Ich denke, genau darin liegt das Spannungsmoment dieser Gleichnisse, dass sie also ins volle Leben hereingreifen, also nicht die mustergültigen Wunderknaben und die heile Welt darzustellen, sondern eben aus dem vollen Leben zu schöpfen und wie in dem Falle eben das Vorkommen eines Diebes heranzunehmen. Und zugleich das in Spannung zu setzen: Ein Unheil, das über einen hereinbricht, das dann aber mit einer positiven Botschaft gleichzeitig in Spannung zu setzen: das Kommen des Menschensohnes."
    Der "unmoralische Held" als Sparringpartner des Guten sozusagen, als Aufmerksamkeitsbeschaffer, als Hinhörer, meint Karl-Wilhelm Niebuhr, der ebenfalls mit einer Predigt zur Reihe beiträgt. Niebuhr:
    "Glücklicherweise ist die Bibel nicht so langweilig, dass sie nur von moralischen Helden und positiven Figuren erzählt. Ganz im Gegenteil! Sie erzählt extrem plastisch von zum Teil radikal bösen und unvorstellbar guten Menschen, und zwar beiderlei Geschlechts. Besonders in erzählerischen Passagen im Alten Testament, da ist das sehr, sehr weit verbreitet, so dass da manchmal bis heute Leute denken, man müsste eigentlich besser eine Art gereinigte Schulausgabe der Bibel verbreiten als die vollständige Bibel, aber auch im Neuen Testament. Und das ist so eine Art Aufhänger dieser Predigtreihe unter dem Stichwort 'unmoralische Helden' mal dieses Heldenbild etwas zu dekonstruieren, was doch nach wie vor weit verbreitet ist."
    Das Ambivalente des Menschlichen
    Die Bibel als moralische Erbauungsliteratur zu verstehen, hieße, ihren Charakter zu verkennen, meint auch Manuel Vogel, Dekan der Theologischen Fakultät der Jenaer Universität.
    "Kirchliche Verlautbarung, wo Kirche in der Öffentlichkeit wahrnehmbar ist, enthält Signale zum Weghören dergestalt, dass es sich irgendwie auf's Moralische zurechtreduziert, sei es nun im bürgerlichen Sinne, sei es nun im ökologischen Sinne, dass wir alle Bio-Gemüse kaufen sollen. Aber dazu brauchen wir ja eigentlich kein Wort der Kirchen; das wissen wir ja selber. Interessant wird es - und das sind immer so kleine Sternstündchen -, wo Kirche oder der christliche Glaube irgendwie öffentlich sich zu Wort meldet, wenn es gelingt, dieses Ambivalente des Menschlichen zu verstehen, zu versuchen, es auszuhalten. Darin irgendwie solidarisch zu sein mit den Opfern, ohne die Täter zu dämonisieren. Und dass es einfach in solchen Momenten Leute gibt, die Sprache haben, die schlicht Sprache haben für diese Ambivalenz."
    "Es muss ja gar nicht immer das Böse sein! Es kann ja auch etwas sein, was gängige Moralvorstellungen dekonstruiert oder in Frage stellt. Diese Polarität von Gut und Böse ist ja auch eine sehr starke Verengung dessen, was menschliches Leben ausmacht. Auf jeden Fall geht es unter anderem darum, eine Art Vergötzung der Moral in Frage zu stellen, und dazu ist, glaube ich, die Bibel sehr gut geeignet."
    Niebuhr predigte, von der vorhergehenden Bachkantate ausgehend, über die Ambivalenz, die in Jesus stecke, von der Spannung zwischen der Göttlichkeit und der Erbärmlichkeit, am Kreuz neben Verbrechern zu hängen.
    "Also, Jesus ist der Anti-Held. An einer Stelle komme ich in der Predigt ja wirklich auf den Gedanken, dass Jesus draußen vor der Tür steht und nicht hineingelassen wird, weil wir drinnen sind und uns gerade an wunderbarer weihnachtlicher Musik erfreuen. Da ist Jesus die Störung, der von draußen hineinkommen will, und wir lassen ihn nicht hinein. Das ist der Satz im Johannesevangelium, mit dem ich die Predigt beginne. Da heißt es, 'Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.' Gerade dieser hymnische Text am Anfang des Johannesevangeliums, der ja die Göttlichkeit so stark betont! Und dann heißt es eben: 'Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.' Da ist dieser Kontrast drin!"
    Schillernde Bösewichter
    Manuel Vogel predigte über das Gleichnis dessen, der einen Schatz fand und gleich wieder versteckte, darauf aber den Acker kaufte, in dem der Schatz verborgen lag, ohne den Verkäufer über den Fund zu informieren oder gar - wie es damals und heute geltende Rechtsprechung war - am Schatz zu beteiligen. Der Schatz aber war das Reich Gottes. Vogel:
    "Hier ist etwas Sensationelles, ein großartiger Fund, und der Mensch setzt seine ganzen vitalen und egoistischen Kräfte daran, das jetzt sich unter den Nagel zu reißen. Und wenn dieses Reich Gottes, das ja zunächst erst mal etwas völlig Abstraktes, Unanschauliches und schwer Verständliches ist, in dieser kleinen Mini-Erzählung dargestellt wird als etwas, was man unbedingt haben will, dann ist das aufmerksamkeitssteigernd, dann fesselt das das Hören."
    Die Gesetzesübertretung des "unmoralischen Helden" dient einfach der Erzähldramaturgie. Wie zum Beispiel auch die schillernden Bösewichter in amerikanischen Fernsehserien wie "House of Cards" oder "Breaking Bad". Was ist in der Erzählung ein frommer Familienvater gegen einen skrupellosen, macht- und geldgierigen Kerl, der über Leichen geht und dabei ungemein charmant rüberkommt? Vogel:
    "Dieses Schillernde von 'Held' im Sinne von Sympathiefigur und unmoralischem Handeln: Das Attraktive daran ist, dass es das Schillernde des Menschlichen oder das Ambivalente des Menschlichen in Erzählung umsetzt. Also, rein böse Menschen werfen keine Fragen auf und rein gute auch nicht. Und wenn das so ambivalent wird, dass Sympathieträger unmoralisch sind oder auch moralische Menschen unsympathisch, das gibt es ja auch, da werden wir involviert in Geschichten des Menschlichen. Und Religion kann sich immer nur auch in dieser Ambivalenz des Menschlichen abspielen."
    "Also, Ambivalenz ist noch zu formal, würde ich sagen! Es ist der innere Kontrast von wirklich radikalen Gegensätzen: Gott und Mensch, Böses und Gutes. Held und Verbrecher, der wie ein Verbrecher am Kreuz stirbt."