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Ukraine-Konflikt
Russland plant umfassende Einbürgerung für Ukrainer

Kaum war in der Ukraine ein neuer Präsident gewählt, bot der russische Präsident Wladimir Putin den Menschen in der Ost-Ukraine die russische Staatsbürgerschaft an. Doch die Pläne des Kreml sind offenbar umfassender als gedacht. Russland ist bereit, einigen Millionen Ukrainern russische Pässe auszustellen.

Von Thielko Grieß | 03.05.2019
1347103 Russia, Moscow. 01/21/2013 FSUE Goznak staff member packs blank biometric passports ready to send to Russian citizens in the Reserve personalization center in Moscow. Grigoriy Sisoev/RIA Novosti |
Russland: Biometrische Pässe (RIA Nowosti / Grigoriy Sisoev)
Große Lautsprecher verbreiten den Klang eines Metronoms auf einem Platz im Norden Moskaus. Es ist eine Gedenkminute. Einige hundert Menschen, vor allem Nationalisten, gedenken der Opfer von Odessa. In der ukrainischen Schwarzmeerstadt stand vor fünf Jahren das Gewerkschaftshaus in Flammen, mehr als 40 Menschen kamen ums Leben. Sie wollten eine Hinwendung der Ukraine zu Russland. Dieses Verbrechen und der Tod von Zivilisten ist seither von allen Seiten instrumentalisiert worden – diese Versammlung ist da keine Ausnahme. Fast alle auf diesem Platz träumen vom Wiedererstehen Neurusslands. Gemeint ist ein Gebiet, das sich in der Südukraine noch über Odessa hinaus bis nach Moldau erstreckte. Die Ukraine als souveräner Staat kommt darin gar nicht vor.
Vorn auf der Bühne tritt eine Sängerin auf. "Von Kamtschatka bis Odessa hat Moskau seine Interessen", singt sie, um im nächsten Vers den Einflussbereich Russlands noch zu erweitern: "Von den Kurilen bis Transnistrien, von Donezk bis zum Kreml, das ist meine Heimat."
An dieser Stelle sind zwei Fußnoten zu nennen: Um die Kurilen gibt es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Streit mit Japan, Transnistrien ist die von Moldau abgespaltene Region, die Moskau großzügig unterstützt, unter anderem mit Militärhilfe.
"Was uns trennt, ist selbstverständlich negativ"
Während im Vier-Viertel-Takt der nächsten Strophe auch noch Alaska eingemeindet wird, fällt weiter hinten einer der Demonstrierenden ins Auge, der einen grauen Pullover trägt: Michail, 66 Jahre. Auf seinem Oberteil steht in roter Schrift eine Art Bekenntnis geschrieben: "Ich habe Neurussland anerkannt."
"Neurussland, das ist schmerzliche Wehmut, weil es mir sehr nahe steht. Ich bin in der Sowjetunion geboren, als wir alle ein Volk waren. Und so ist es in der Tat auch geblieben, ungeachtet all der künstlichen Grenzen, die man zwischen uns eingerichtet hat."
Sein Blick auf die umliegenden Regionen – alle sind eins, aber selbstverständlich unter russischer Führung – ist ein Erbe sowjetischer Prägung. Was die umliegenden Regionen selbst zu diesem Moskauer Herrschaftsanspruch meinen und unter welchen Umständen sie einst ins Zarenreich oder in die Sowjetunion hineingezwungen wurden, interessiert unter den hier Versammelten kaum einen. In ihrer Welt ist es nur folgerichtig, Ukrainerinnen und Ukrainern die russische Staatsbürgerschaft anzubieten, so wie es jetzt Präsident Wladimir Putin angekündigt hat. Michail meint: "Alles, was die Einheit zwischen uns [Ukrainern und Russen, Red.] befördert, ist positiv. Und was uns trennt, ist selbstverständlich negativ."
Nun hat der Kreml die Einzelheiten veröffentlicht, die es in sich haben: Moskau beginnt wohl die größte Einbürgerungskampagne der jüngeren Geschichte. Nicht allein Menschen in den selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk können Russen werden, sondern auch ihre Ehepartner, Kinder und Großeltern, egal, wo sie wohnen. Außerdem können Ukrainer, die in Russland leben, diesen Antrag stellen. Dasselbe gilt für Nachkommen jener, die einst unter Stalin von der Krim deportiert wurden – also Krimtataren, aber auch Deutschstämmige. Anfallende Sozialleistungen lässt sich Moskau etwas kosten:
"Diese Summe kann in den nächsten Jahren in der Tat ungefähr 100 Milliarden Rubel erreichen", erklärte Präsident Putin vor kurzem. Umgerechnet etwa anderthalb Milliarden Euro. "Das ist für uns unkritisch und stellt nicht in Frage, dass wir unsere Verpflichtungen gegenüber Rentnerinnen und Rentnern erfüllen."
"Die Krim ist natürlich ukrainisch"
Nach Schätzungen können bis zu fünf Millionen Menschen den Antrag stellen. Kommen sie - auch nur teilweise - dieser Einladung nach, erreicht die russische Führung gleich mehrere Ziele: Die Wirtschaft gewänne russischsprachige Arbeitskräfte und die Herrschenden könnten auf Dankbarkeit und Wählerstimmen zählen. Und Moskau könnte argumentieren, es unterstütze im Donbass seine Bürger. Ein Szenario, das bei der Abspaltung der georgischen Region Südossetien eine Rolle gespielt hat und das auch die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen umtreibt.
Auf dem Platz, auf dem lautstark nach Neurussland gerufen wird, findet sich auch ein Demonstrant, der von all dem nichts hält. Er sei gebürtiger Pole und meint: "Die Krim ist natürlich ukrainisch."
Aber viel mehr Zustimmung bekommt ein Redner, der auf der Bühne davon spricht, früher oder später werde sogar die gesamte Ukraine wieder russisch sein. Der Redner nennt sich Strelkow, zu Deutsch: der Schütze. Er war 2014 Verteidigungsminister in der sogenannten Donezker Volksrepublik. Er brüstete sich damals mit dem Abschuss der malaysischen Boeing MH 17 über der Ostukraine. Mit der Ausgabe russischer Pässe an Ukrainer wird nun eine seiner langjährigen Forderungen erfüllt.