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100 Jahre unabhängiges Finnland
Geburtstag im hohen Norden

Vor genau 100 Jahren erklärte Finnland seine Unabhängigkeit von Russland. Der Weg in die Freiheit war blutig. Die Nähe zum großen und mächtigen Nachbarn bestimmte lange die finnische Politik. Heute steht das Land zusätzlich vor ganz anderen Herausforderungen.

Von Carsten Schmiester | 06.12.2017
    Flagge auf einer Segelyacht in Helsinki.
    Die beiden Weltkriege waren mit die wichtigsten Ereignisse der vergangenen 100 Jahre - insbesondere der Zweite Weltkrieg formte das Nationalgefühl der Finnen (imago / Imagebroker)
    Professor Mika Kallioinen ist Historiker an der Universität Turku im Südwesten Finnlands:
    "Die beiden wohl wichtigsten Ereignisse in den vergangenen 100 Jahren waren die Kriege, der Erste und Zweite Weltkrieg: Der Erste Weltkrieg führte zur Unabhängigkeit Finnlands, worauf ein sehr schwieriger, bitterer Bürgerkrieg folgte. Der Zweite Weltkrieg bestimmte wiederum, dass Finnland unabhängig blieb, und das hat bis auf den heutigen Tag das Nationalgefühl der Finnen und ihr Geschichtsverständnis stark beeinflusst."
    Es war ein blutiger Weg in die Freiheit. Die Finnen hatten in den Wirren der russischen Revolution am 6. Dezember 1917 ihre Unabhängigkeit erklärt. Aber das Land war vom Krieg gezeichnet, die öffentliche Ordnung war weitgehend zusammengebrochen, Lebensmittel waren knapp, die Arbeitslosigkeit war hoch. Nach einem Generalstreik kontrollierten "rote" Räte das Land. Soldaten, Bauern und Arbeiter kämpften gegen das "weiße" Bürgertum um die Vorherrschaft, verloren aber nach nur drei Monaten.
    Dunkler Fleck in der Geschichte des Landes
    Doch der Schrecken nahm kein Ende: Zehntausende "Rote" und ihre Sympathisanten, darunter auch Frauen und Kinder, kamen in Konzentrationslager. Tausende wurden dort ermordet oder starben an Hunger und Krankheiten. Ein dunkler Fleck in der Geschichte des Landes, für den kritische Geister eine der zentralen "Lichtgestalten" des freien Finnlands mit verantwortlich machen: Carl Gustav Emil Mannerheim.
    Der noch in Russland ausgebildete Offizier war damals Oberbefehlshaber der "weißen Truppen" und hatte das Morden nicht verhindert. Aber: Die Zahl der Mannerheim-Bewunderer überwiegt bis heute. Für sie ist er ein, wenn nicht sogar der finnische Nationalheld, der im Zweiten Weltkrieg zunächst mit den Deutschen gegen Russland kämpfte. Legendär ist sein Treffen mit Adolf Hitler, der im Juni 1942 zu Mannerheims 75. Geburtstag nach Finnland gekommen war. Angesichts militärischer Erfolge der Russen hatte Hitler wohl gehofft, mehr finnische Unterstützung zu bekommen, vergeblich! Mannerheim hielt sich zurück, während Hitler über die Stärke des Gegners sprach. Ein finnischer Tontechniker hat die Unterredung der beiden damals anfänglich heimlich mitgeschnitten, bis SS-Leute dahinterkamen und die Aufnahme stoppten. Sie gilt heute als historisch, weil sie eine der wenigen ist, auf denen Hitler mit normaler Stimme spricht. In diesem Auszug redet Mannerheim zunächst über die Rote Armee.
    "Wenn man denkt, dass sie 20 Jahre, über 20 Jahre, 25 Jahre, alles ausgegeben (haben) für Rüstung, nur Rüstung!" Hitler: "Ich habe das vorher nicht geahnt. Hätte ich es geahnt, dann wäre mir noch schwerer zu Herz gewesen, aber den Entschluss hätte ich dann erst recht gefasst."
    Schwierige Nähe zu Russland
    Hitler spricht von seinem Entschluss, Russland anzugreifen. Ein halbes Jahr nach diesem Gespräch der beiden fiel Stalingrad, die Niederlage Nazi-Deutschlands war klar. Mannerheim brach die Beziehungen zu Berlin ab und handelte nach seiner Wahl zum finnischen Staatspräsidenten 1944 einen separaten Waffenstillstand mit der Sowjetunion aus. Finnland behielt seine Souveränität, die demokratische Verfassung und Marktwirtschaft, nahm im Kalten Krieg aber stets Rücksicht auf Moskau, auch wenn es offiziell zwischen den Blöcken neutral blieb. Kritiker der deutschen Annäherungspolitik an den Osten in den 1970er und 1980er Jahren prägten dafür in Anspielung auf den Drahtseilakt Helsinkis den nicht eben positiv besetzten Begriff "Finnlandisierung". "Vorauseilender Gehorsam" gegenüber Moskau wurde den Finnen vorgeworfen. Die verweisen aber bis heute auf ihre knapp 1.300 Kilometer lange Grenze zum übermächtigen Nachbarn Russland und darauf, dass sie sich vielleicht freiwillig kleiner gemacht hätten als nötig. Dies habe ihnen aber ihre weitgehende Freiheit gesichert und die Bildung einer finnischen Identität erst möglich gemacht, sagt der Historiker Kallioinen.
    "Diese Identität wird aus verschiedenen Quellen gespeist. Wir waren ein Teil Schwedens, dann Russlands, wurden erst danach unabhängig und haben es geschafft, unabhängig zu bleiben. Dazu ist es uns in der jüngsten Vergangenheit gelungen, wirtschaftlich aufzusteigen. Wir sind ein Wohlfahrtsstaat geworden. So etwas ist für die Identität sehr wichtig. Und dann ist Finnland auch ethnisch ein recht einheitlicher Staat, was in Europa außergewöhnlich ist. Das sind die Eckpunkte unserer Identität."
    Politisch vor großen Herausforderungen
    Wobei die Wirtschaft in der Finanzkrise 2008 doch erheblich gelitten hat. Der Niedergang der Holzindustrie und der Zusammenbruch des einstigen Handyriesen Nokia werden da oft als Gründe genannt. Im Moment stehen die Zeichen nach Einschätzung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD zwar auf Erholung, aber mit dem Zusatz "balanced", also "ausbalanciert". Zu Deutsch: Es geht Schritt für Schritt voran, wird aber dauern. Und auch sonst steht das Land heute vor großen Herausforderungen.
    "Politisch hängen diese Herausforderungen mit Russland zusammen. Ich will nicht von einer Bedrohung sprechen, aber es gibt doch eine politische Realität auf der anderen Seite der Ostgrenze, die Finnland berücksichtigen muss. Dann sind da noch viele andere Gefahren. Eine zentrale ist sicher die Überalterung der Gesellschaft. In Zukunft haben wir vielleicht nicht mehr genug junge Menschen, die für die immer älter werdende Bevölkerung sorgen."