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Ukraine-Krise
Schüssel rät, Putin ernst zu nehmen

Ein intensiver Gedankenaustausch mit Wladimir Putin, so wie Angela Merkel es versuche, sei der einzige Weg aus der Krise, sagte der ehemalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel im DLF. Man müsse unbedingt versuchen, "das Rationale in Putin" anzusprechen.

Wolfgang Schüssel im Gespräch mit Dirk Müller | 11.02.2015
    Österreichs früherer Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP).
    Österreichs früherer Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP). (imago / Eibner Europa)
    Wladimir Putin zu zeigen, dass man ihn ernst nehme, sei sinnvoll, sagte Wolfgang Schüssel (ÖVP) im DLF. Das werde von manchem Amerikaner nicht so recht gesehen. Schüssel betonte: "Wir brauche Frieden in der Ukraine - so rasch wie möglich." Gleichzeitig müsse Russland aber auch wissen, wie hoch der Preis sein wird, wenn es keinen friedlichen Kompromiss in Minsk gibt.
    Wichtig sei jetzt, dass sich die vier Chef-Verhandler Merkel, Hollande, Putin und Poroschenko darauf einigen, dass die Einhaltung des Abkommens von Minsk vom September garantiert wird. "Wenn das gelingt, dann lebt die Chance", sagte Schüssel.
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    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Entweder gelingt es, in Minsk den Weg zu einer Waffenruhe zu ebnen, oder es drohen Waffenlieferungen und zusätzliche Sanktionen und damit eine mögliche Eskalation des Krieges, der sich noch weiter ausbreiten könnte. Das sind jedenfalls die zwei Szenarien, die in den Hauptstädten derzeit als die wahrscheinlichsten diskutiert werden, auch in Kiew, auch in Moskau. Sind beide Seiten bereit, Zugeständnisse zu machen, territorial wie auch politisch wie auch militärisch? Die Unterhändler reden bereits miteinander.
    Alles hängt - das meinen jedenfalls die meisten im Westen - von Wladimir Putin ab. Er trägt letztlich die Verantwortung für Krieg und Frieden in Europa. Darüber wollen wir nun sprechen mit dem früheren österreichischen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Grüß Gott nach Wien!
    Wolfgang Schüssel: Guten Morgen, Herr Dirk Müller.
    Müller: Herr Schüssel, gibt es auch das Problem Poroschenko?
    Schüssel: Inwiefern das Problem Poroschenko?
    Müller: Alle reden über das Problem Putin. Gibt es ein Problem Poroschenko?
    Schüssel: Nein, das glaube ich nicht. Ich habe Präsident Poroschenko in München bei der Sicherheitskonferenz gehört, sehr emotional, sehr auch persönlich getroffen von den Opferzahlen. Sie dürfen ja nicht vergessen: Offiziell wird von 6000 Toten gesprochen, wahrscheinlich Zehntausenden Verletzten und eineinhalb Millionen Flüchtlingen, die ihre Heimat verloren haben. Die inoffiziellen Zahlen liegen ja weit höher, bis zum Fünf- oder Zehnfachen höhere Opferzahlen, und das trifft natürlich. Die Ukraine hat schwere wirtschaftliche Probleme. Ganze Regionen haben Probleme mit der Elektrizität, mit der Wasserversorgung, mit Nahrungsversorgung, und zwar nicht nur in den unmittelbaren Kriegsgebieten, sondern im ganzen Osten ist die Situation dramatisch und das lässt natürlich auch Poroschenko nicht kalt. Im Gegenteil! Und er sieht natürlich auch, dass schrittweise die Probleme immer größer werden für ihn, und er hat natürlich auch in seinem Camp einige, die härtere Maßnahmen verlangen, die ihn kritisieren, dass er zu weich ist. Ich glaube, dass er seine Sache sehr gut macht und richtigerweise auch auf die Friedensbemühungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Hollande zusammen mit Poroschenko und Putin vertraut.
    Müller: Herr Schüssel, Sie verweisen auf die Toten, wie auch immer. Sie haben es gesagt: 50.000 kursierte sogar in den vergangenen Tagen in den Medien. Aber man kann festhalten: Auch ukrainische Regierungssoldaten töten ukrainische Zivilisten?
    Einigung auf eine Umsetzung des Minsker Abkommens jetzt wichtig
    Schüssel: Das ist leider auch richtig und ich finde, man sollte auch nicht nur einseitig die Dinge sehen. Es wurde auch der Zivilbevölkerung im Osten, im Donbass Furchtbares zugefügt. Sie dürfen ja nicht vergessen: Das sind ja Ruinenlandschaften zum Teil. Es sind Zivilisten gestorben, es sind Kinder Opfer geworden auf allen Seiten, und deswegen ist es völlig richtig, alle Kraft darauf zu setzen, einen Waffenstillstand, der diesmal auch hoffentlich wirklich hält, auszuverhandeln. Die Chance gibt es. Ob es gelingt, werden wir heute sehen.
    Müller: Wir haben ja auch immer wieder Berichte gelesen, nicht so viele, zugegeben, dass offenbar in Kiew der ganze Kurs ja sehr umstritten ist. Viele - das haben Sie gerade auch gesagt - wollen in den Regierungskreisen, in der politischen Elite, dass viel härter, viel konsequenter noch vorgegangen wird. Ist Kiew in vielen Fällen da auch zu weit gegangen?
    Schüssel: Sehen Sie, das ist eine Regierung, die seit kurzem im Amt ist, eine proeuropäische Regierung, die, glaube ich, nach bestem Wissen und Gewissen versucht, eine ganz schwierige Situation zu beherrschen, und das unter einem maximalen Druck, den wir uns ja gar nicht vorstellen können im friedlichen Westen, in Deutschland, in Österreich, in der Europäischen Union. Man kann sich ja gar nicht vorstellen, mit welchen Problemen die derzeit konfrontiert sind.
    Und Sie dürfen auch nicht vergessen, dass natürlich auch nicht alles jetzt der Kontrolle dieser Regierung oder des Präsidenten untersteht. Es gibt Freiwilligenverbände, die kämpfen, es gibt von Oligarchen bezahlte Soldaten, die versuchen, die Situation militärisch einigermaßen zu stabilisieren, und auch auf der Separatistenseite gibt es natürlich einander widersprechende und miteinander im Widerstreit stehende Gruppen. Daher zu glauben, jeder kann alle kontrollieren, das ist, glaube ich, weder auf der russischen Seite, noch auf der europäischen oder ukrainischen Seite gegeben.
    Was jetzt aber wichtig ist, dass sich die vier Verhandler, die Chefverhandler, Merkel, Hollande, Poroschenko und Putin, darauf einigen, dass eine Umsetzung des Abkommens von Minsk im September jetzt wirklich versucht wird und dass sie das auch garantieren, die Einhaltung. Wenn das gelingt, dann lebt die Chance. Alles andere wäre Illusion.
    Müller: Versetzen wir uns, Herr Schüssel, bitte gedanklich nach Moskau. Sie kennen Wladimir Putin, Sie kennen den Kreml-Chef.
    Schüssel: Ja.
    Müller: Was haben wir mit Russland falsch gemacht?
    Schüssel: Ehrlich gesagt, diese Diskussion stört mich, weil die ablenkt von den wirklichen Problemen. Ja, natürlich haben wir auch Fehler gemacht. Man hätte früher vielleicht Angebote oder Ideen aufgreifen sollen, wie das jetzt etwa gerade die Bundeskanzlerin in München auch vorgeschlagen hat: als Endfernziel eine gemeinsame Wirtschaftszone von Lissabon bis Wladiwostok. Man hätte natürlich auch von der Kommission mit der Eurasischen Union früher, wie es jetzt ja auch gemacht wird, reden können. Aber das verblasst alles und ist völlig uninteressant, angesichts der Probleme, die wir jetzt haben. Nichts davon, kein einziger Fehler - und auf der russischen Seite sind auch zig Fehler gemacht worden -, nichts davon rechtfertigt, was geschehen ist auf der ukrainischen Seite.
    Müller: Herr Schüssel, das sagen Sie jetzt so. Aber vielleicht ist das für Wladimir Putin, wie auch unsere Korrespondentin in den vergangenen Tagen geschildert hat, ganz wichtig, eine Perspektive zu bekommen, dass der Westen aus Sicht jedenfalls Moskaus die alten Fehler revidiert und ihm eine Perspektive gibt, mit der These verbunden, der Kreml-Chef oder Russland ist in den vergangenen Jahren doch allzu sehr in die Ecke gedrängt worden, allzu sehr isoliert worden.
    "Wir brauchen Frieden in der Ukraine"
    Schüssel: Also ehrlich, das sehe ich so nicht. Es hat unzählige Bemühungen gegeben und viele haben sich darum bemüht, dass man Russland und auch Präsident Putin immer wieder ernst nimmt, respektiert und ihnen eine Perspektive in Richtung Modernisierung ihrer Wirtschaft, Dialog der Zivilgesellschaft, Ausbau des jetzt bestehenden Abkommens in ein neues umfassendes Partnerschaftsabkommen gibt. Es gab Ideen, wie man die Forschungszone erweitern könnte. Wir haben versucht, alles versucht, um Russland den Weg in die WTO, in die Welthandelsorganisation zu ebnen. Da hat es viele Bemühungen gegeben und es ist daher völlig richtig, sie auch weiter zu tun. Es hat überhaupt keinen Sinn, Nachbarn - und Russland bleibt unser wichtiger Nachbar für Europa - zu isolieren und herauszudrängen. Das hat ja auch niemand vor.
    Jetzt die kurzfristige Situation ist: Wir brauchen Frieden in der Ukraine, so rasch wie nur irgendwie möglich. Alle anderen Alternativen, höhere Waffenlieferungen, Eskalierung des Konflikts, sind meiner Meinung nach nur dazu getan, dass das Ruinenfeld und der Trümmerhaufen noch größer wird und man dann am Ende ja erst wiederum eine Verhandlungslösung suchen muss.
    Müller: Wenn das stimmt, wie Sie es analysieren, Herr Schüssel, dann würde ja als Schlussfolgerung im Grunde nur ein Satz übrig bleiben: Wladimir Putin ist böse.
    Schüssel: Nein! Das hat mit böse und gut nichts zu tun.
    Müller: Was ist er dann?
    Schüssel: Er hat bestimmte Interessen, das ist evident, die er ziemlich hartnäckig und taktisch, auch sehr geschickt umsetzt. Er hat dazu einen gewaltigen Apparat zur Verfügung. Er hat wirtschaftlich einige Möglichkeiten mit Reserven, die er auch durchaus einsetzt für diese Zwecke. Er hat einen enormen Propagandaapparat zur Verfügung, der international durchaus wirksam agiert. Ich glaube nur nicht, dass das alles personalisiert werden darf. Putin aus meiner Sicht versucht, natürlich auch einen Mittelweg zu gehen zwischen denjenigen, die ihn bedrängen, hier wesentlich härter und rascher und umfassender vorzugehen, und auf der anderen Seite weiß er ganz genau, was der Preis dafür ist. Russland zahlt heute bereits einen beachtlichen Preis. Die Wirtschaft schrumpft heuer um drei, vier, fünf Prozent, die Inflation ist über 15 Prozent, die Kapitalflucht ist enorm, der sinkende Ölpreis, die Sanktionen, das ist in Summe ein Volumen von etwa 120 bis 150 Milliarden Dollar pro Jahr, die Russland belasten. So einfach ist die Situation nicht!
    Müller: Ist ihm aber offenbar egal bislang.
    "Lawrows Rede in München war schon sehr befremdlich"
    Schüssel: Das glaube ich nicht, dass es egal ist. Nur im Augenblick versucht er natürlich, auch die Dinge auszureizen und zu versuchen, einen Weg zu finden, der die Balance zwischen den Interessen etwa der Separatisten im Donbass auf der einen Seite und zugleich auch die friedliche Perspektive, die der Westen will, und die Integrität der Ukraine beherrscht.
    Ich habe die Rede von Außenminister Lawrow in München gehört und ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, das war schon sehr befremdlich. Vor allem nach dieser großartigen Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die extrem klug agiert hat und fast am Ende Standing Ovations bekommen hat, kam dann Lawrow und hat eigentlich eine Rede gehalten, die man eher in der Zeit des Kalten Kriegs erwartet hätte.
    Müller: Sie meinen diese Passage mit Referendum und so weiter, dass es das bei der deutschen Vereinigung auch nicht gegeben hat?
    Schüssel: Ja, das hat er schon einige Male gesagt. Aber eigentlich auch noch die Art und Weise, wie er die Regierung in Kiew abqualifiziert hat: Das ist eine fremdenfeindliche Regierung, die sind antisemitisch, das ist eine Regierung der Sieger, keine Regierung der nationalen Einheit, das war ein Putsch, da sind Verfassungsverletzungen gemacht worden. Statt einzusehen, dass es hier erstmals Gott sei Dank eine frei gewählte, ein frei gewähltes Parlament, gerade einen frei gewählten Präsidenten gibt, die sich bemühen, das Land zu einen. Was interessant war, dass er nicht die Integrität der Ukraine in Frage gestellt hat, aber darauf sollte man hinhören, aber zugleich auch energisch schauen, dass man jetzt eine bessere Waffenstillstandslinie, eine breitere Pufferzone bekommt, und die OSZE muss eine Peacekeeping-Mission sowohl an der ukrainisch-russischen Grenze wie auch in dieser Pufferzone etablieren. Sonst gehen ja die Kämpfe ungebremst weiter.
    Müller: Herr Schüssel, Sie haben die große Struktur hier noch einmal publiziert beziehungsweise auf die Fläche gebracht. Ich möchte Sie trotzdem noch einmal fragen, weil wir die Gelegenheit haben, mit Ihnen jetzt darüber zu reden, und Sie so viel politische Erfahrung haben, gerade auch im Umgang mit Regierungschefs, mit Staatschefs und so weiter. Sie sagen, der Putin ist das nicht alleine, haben Lawrow auch noch mal als Beispiel genommen. Aber wie viel Wladimir Putin als Persönlichkeit steckt genau in dieser, im Moment ja doch aus unserer Sicht expansiven völkerrechtsbrüchlichen Politik?
    Merkels Weg der einzig richtige
    Schüssel: Ich glaube, dass der Weg, den Angela Merkel versucht, nämlich in einem unglaublich intensiven Gedankenaustausch gerade mit Wladimir Putin diese Dinge aufzuarbeiten und immer wieder zu thematisieren, dass das der einzig richtige Weg ist. Ich glaube, sie hat 40-, 50mal jetzt persönlich mit ihm gesprochen, entweder am Telefon oder bei diversen Treffen. Das ist der einzige Weg! Es zeigt auch, dass wir ihn ernst nehmen. Das ist auch sinnvoll. Auch in der Vergangenheit: Die deutsche Einigung wäre ja nie gelungen, hätte nicht ein Helmut Kohl ununterbrochen seine ganze Energie eingesetzt, um mit Gorbatschow zu reden, um ihn an Bord zu halten. Das ist sinnvoll und das wird von vielen, gerade etwa von manchen Amerikanern in der zweiten Linie, die entweder Präsidentschaftskandidaten waren oder es noch sein wollen, nicht recht gesehen, sondern die wollen da einfach auch Stimmung machen. Das ist leicht getan!
    Ich glaube, dass man unbedingt versuchen muss, das Rationale in Wladimir Putin anzusprechen, und er ist ein rationaler Mensch. Man muss ihm aber auch gleichzeitig vor Augen führen, dass das alles seinen Preis hat. Wenn das nicht gelingt, wenn das heute nicht gelingen sollte, dann wird der Preis durch wirtschaftliche Sanktionen oder durch andere Maßnahmen natürlich weit höher werden, und Russland muss das wissen, auch Putin muss das wissen. Und gerade diejenigen, die eine friedliche Perspektive eines Europas, eines weiten Europas, friedlich, gemeinsam vereint und wirtschaftlich wohlhabend vor Augen haben, wie das noch '89 die gemeinsam angedachte Vision gewesen ist, die sollten in diese Richtung hinarbeiten.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der frühere österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Danke für das Gespräch.
    Schüssel: Herzlichen Dank und guten Morgen.
    Müller: Ihnen noch einen schönen Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.