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Ukraine-Krise
"Wir brauchen strategische Geduld"

Die Europäische Union müsse von Russland und der Ukraine immer wieder die Einhaltung des Minsker Abkommens verlangen, sagte Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, im DLF. Bei den Gesprächen sei deshalb auch eine Kontaktgruppe unter Einbeziehung der EU und der USA erforderlich.

Wolfgang Ischinger im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 19.11.2014
    Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz und ehemaliger deutscher Botschafter in Washington, sitzt am 02.03.2014 in Berlin im Gasometer in der ARD-Talkreihe "Günther Jauch".
    Wolfgang Ischinger soll im Auftrag der OSZE im Ukraine-Konflikt vermitteln. (dpa / Paul Zinken)
    Moskau und Kiew hätten in jüngster Vergangenheit bilateral weitergesprochen. "Es ist nie eine besonders gute Idee, wenn ein sehr Starker mit einem sehr Schwachen verhandelt." Deswegen forderte Ischinger die Erweiterung der Teilnehmer an diesem Prozess. Dieser könnte unter dem Dach der OSZE "ohne Gesichtsverlust" für Russland begleitet werden.
    Die Ukraine-Krise sei eine Krise, die die ganze Welt interessieren müsse. Welches Land würde auf Nuklearwaffen verzichten, wenn es mit Waffen besser geschützt sei?, fragte Ischinger. Die Ukraine hatte nach dem Ende der Sowjetunion ihre Atomwaffen an Russland abgegeben und im Gegenzug Sicherheitszusagen aus Russland, den USA und Großbritannien erhalten.
    Krim-Annexion ist nachrangiges Thema
    Der Vorschlag von Matthias Platzeck (SPD), Vorsitzender des deutsch-russischen Forums, die Annexion der Krim zu akzeptieren, sei nicht hilfreich, sagte Ischinger. "Das wäre die Bankrott-Erklärung des Westens und der EU, das wäre das Ende des Prozesses. Wir können nicht einen Vertrag zulasten Dritter abschließen." Die Krim-Frage müsste gegenwärtig ausgeklammert werden, so Ischinger. "Zur Krim-Annexion kommen wir zu gegebener Zeit zurück. First things first."

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Der Konflikt in der Ukraine ist spätestens seit dem Wochenende wieder ganz oben auf der politischen Tagesordnung angekommen. Der G20-Gipfel in Brisbane, der hat nämlich gezeigt, dass Russland und der Westen immer weiter auseinanderdriften. Und in der Ukraine selbst, da wird die Auseinandersetzung zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Rebellen nach einigen Wochen der Ruhe wieder zunehmend kriegerisch. Gestern nun war Bundesaußenminister Steinmeier zu Gesprächen in Kiew und in Moskau. Eindeutiges Ziel dieser Reisen: Die Diplomatie am Leben halten.
    Mitgehört hat Wolfgang Ischinger, ehemaliger Chefdiplomat, und in der Ukraine hat er bereits vermittelt zwischen den Konfliktparteien. Und er ist außerdem Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Schönen guten Morgen, Herr Ischinger.
    Wolfgang Ischinger: Guten Morgen!
    Armbrüster: Herr Ischinger, wir haben es gehört: Alle klammern sich jetzt an die Waffenruhe, an die Vereinbarung von Minsk. Glauben Sie noch an dieses Abkommen?
    Ischinger: Es ist das einzige, was wir haben, und deswegen ist es natürlich, um das berühmte Wort zu benutzen, alternativlos richtig, daran auch festzuhalten. Es gibt keine andere Grundlage, um voranzukommen. Ich denke, das Problem bei dem Minsker Abkommen ist, dass auf seiner Basis bilateral zwischen Moskau und Kiew weitergesprochen wurde. Es ist nie eine besonders gute Idee, wenn ein sehr Starker mit einem sehr Schwachen verhandelt. Da kommt dann meistens raus, dass der Schwache den Kürzeren zieht.
    Deswegen haben viele kluge Beobachter und übrigens auch die Bundesregierung selbst, aber vor allen Dingen die ukrainische Regierung in Gestalt ihres Ministerpräsidenten schon seit langem immer wieder die Frage aufgeworfen, kann man diesen Prozess nicht ein bisschen verbreitern. Der Ministerpräsident Jazenjuk hat immer wieder die Hoffnung geäußert, dass es besser wäre für eine stabile Minsk-Lösung, wenn dieser Prozess nicht nur ein bilateraler wäre, sondern wenn er von der Europäischen Union und natürlich auch von den USA mit begleitet, mit getragen, mit verifiziert, kontrolliert werden könnte. Ich glaube, das ist eine richtige Idee und man sollte diesen Gedanken immer wieder auch den russischen Gesprächspartnern vortragen. Das ist ja auch geschehen. Bisher gibt es die Fortsetzung des einmal stattgefundenen Genfer Gesprächs vom April dieses Jahres noch nicht, aber was nicht ist, kann ja noch werden.
    Armbrüster: Jetzt genießen allerdings auch die Europäische Union und die USA nicht gerade großes Vertrauen in Moskau.
    Ischinger: In der Diplomatie ist es doch so: Wir sind jetzt in einer Lage, in der natürlich weder Präsident Putin, noch die ukrainische Führung, noch natürlich auch der Westen einen Schritt ergreifen möchte oder einen Schritt ergreifen könnte, auch aus innenpolitischen Gründen, der zum Gesichtsverlust führen kann. Es ist völlig unrealistisch, etwa von Präsident Putin jetzt so eine Art Gang nach Canossa zu erwarten.
    Auf der anderen Seite dürfen wir und können wir auch nicht einknicken. Deswegen sind Vorschläge wie die des früheren Ministerpräsidenten Platzeck natürlich nicht hilfreich. Das Wichtigste ist, dass der Westen, dass die Europäische Union in dieser Frage geschlossen bleibt, ohne Schaum vor dem Mund, mit ruhiger Hand und mit strategischer Geduld immer wieder die Einhaltung des Minsker Abkommens fordert und nach einem Weg sucht, ohne Gesichtsverlust aus diesem tiefen Loch herauszukommen, das man sich hier selbst gebuddelt hat. Den Weg da herauszufinden, sehe ich persönlich unter anderem in der Nutzung des Dachs, das wir ja schon haben, nämlich die OSZE. Die OSZE, lange in Vergessenheit geraten, ist das Dach, unter dem der Minsk-Prozess stattfindet. Die OSZE wird demnächst, Anfang Dezember, ihr Ministertreffen abhalten. Ein von der OSZE angestoßener Prozess zur Verfestigung des Minsker Prozesses könnte ein Weg sein, um ohne Gesichtsverlust den Minsk-Umsetzungsprozess zu begleiten. Ich sage ausdrücklich ein Weg, sicherlich nicht der einzige.
    "Anerkennung der Krim wäre eine Bankrotterklärung der EU"
    Armbrüster: Herr Ischinger, Sie haben jetzt den Namen Matthias Platzeck schon genannt, und möglicherweise könnte dessen Vorschlag ja diesen Weg wirklich drastisch abkürzen. Er hat gestern gefordert, die Krim-Annexion durch Russland zu legalisieren, also anzuerkennen. Wäre das nicht wirklich ein schneller Ausweg aus dieser Krise? So würde man beide Seiten wieder an einen Tisch bringen und die Sache möglicherweise schnell bereinigen.
    Ischinger: Na ja, das wäre natürlich die Bankrotterklärung der Geschlossenheit der Europäischen Union und des Westens. Das wäre nicht der Beginn, sondern das Ende des Prozesses. Wir können nicht gut einen Vertrag zu Lasten Dritter abschließen. Ich meine, das wäre schon ein ganz erstaunlicher Schritt, wenn wir nach all dem, was gesagt worden ist, jetzt zu Lasten der Ukraine mitteilen würden, dass wir diese Annexion aus dem Frühjahr 2014 einfach anerkennen.
    Nein! Ich glaube, der richtige Gedanke ist natürlich nicht, dass wir jetzt sozusagen als allererste Forderung die Rückgabe der Krim an die Ukraine fordern. Das wird sicher jeder als eher unrealistisch sehen. Die richtige Vorgehensweise in einem solchen Fall ist, dass man dieses Thema unter Wahrung der Rechtspositionen ausklammert und sagt, wir müssen jetzt die Ostukraine stabilisieren, und zur Krim, deren Annexion wir nicht anerkennen können und auch nicht werden, kommen wir dann zu gegebener Zeit zurück. "First things first!"
    "Russland hat massiv Vertrauen verloren"
    Armbrüster: Aber der Vorschlag von Matthias Platzeck kam ja wahrscheinlich auch deshalb, weil immer mehr Menschen inzwischen den Eindruck haben, dass in diesem Konflikt inzwischen gegen Windmühlen gekämpft wird, dass vor allem die Europäische Union einen Zustand wiederherstellen wird, einen Status quo, der sich realistischerweise einfach nicht wiederherstellen lassen wird - Stichwort Krim, Stichwort aber sicher auch Abspaltung der östlichen Provinzen in der Ukraine.
    Ischinger: Wir dürfen eins nicht vergessen, Herr Armbrüster. Dieser Vorgang, diese schwere Krise europäischer Sicherheit ist nicht nur eine schwere Krise für die Ukraine und natürlich strategisch betrachtet auch eine Niederlage für Russland. Russland gewinnt ja nichts. Russland hat massiv Vertrauen verloren. Der Rubel fällt und so weiter. Sondern es ist eine Krise, die die ganze Welt interessieren muss. Welches Land, das nukleare Ambitionen möglicherweise heute hat, wird auf diese nuklearen Ambitionen verzichten wollen, wenn die Lehre aus der Ukraine-Krise sein sollte - hoffentlich wird sie das nie sein -, dass ein Land dann besser geschützt ist, wenn es auf seine Nuklearwaffen nicht verzichtet. Der Ukraine ist 1994 mitgeteilt worden, gebt eure Nuklearwaffen ab, eure Grenzen werden von uns garantiert und gesichert. Es darf doch nicht sein, dass wir der Welt mitteilen lassen, dass es besser ist, Nuklearwaffen zu haben oder sie zu erwerben, weil sonst die eigenen Grenzen nicht gesichert sind.
    Das ist nur ein Beispiel, warum diese Krise mehr ist als eine Krise, bei der man durch ein Entgegenkommen, ein Schein-Entgegenkommen eine Lösung finden würde. Deswegen halte ich von dieser Idee, jetzt sich zu bewegen in der Frage Krim, absolut überhaupt nichts. Das ist der schlechteste Rat, den ich seit Wochen gehört habe.
    Armbrüster: Hat denn die Europäische Union in dieser Krise, hat die EU in dieser Krise beispielhaftes Verhalten in so einer internationalen Krise gezeigt?
    Ischinger: Ich denke, wenn der Pulverdampf hoffentlich mal verzogen ist, sich verzogen haben wird, wird man feststellen, dass nicht zuletzt danke unermüdlicher deutscher Regierungsaktivitäten mit einer gewissen Eselsgeduld, muss man schon wirklich sagen, hier der Dialogfaden nicht abgebrochen wurde und dass die Europäische Union erstaunlicherweise mehr oder minder große Geschlossenheit gezeigt hat. Das ist großartig! Das war eigentlich gar nicht zu erwarten. Wenn ich zurückdenke an die Art und Weise, wie die EU auseinanderfiel vor zehn, elf Jahren in der Irak-Krise, wo es sozusagen old europe und new europe gab, dann haben wir dieses Mal erstaunlicherweise viel Geschlossenheit gezeigt, und ich glaube, das ist das, was in Moskau beeindruckt, nicht wenn wir jetzt anfangen, uns hier auseinanderdividieren zu lassen.
    Russlands Präsident Wladimir Putin beim G20-Gipfel in Brisbane.
    Russlands Präsident Wladimir Putin beim G20-Gipfel in Brisbane. (picture alliance/dpa/Druzhinin Alexei)
    "Die russische Führung steht vor großen Problemen"
    Armbrüster: Wenn wir uns jetzt noch mal kurz die Person Wladimir Putin ansehen und wie er in den vergangenen Tagen agiert hat, wie er auch isoliert wurde in Brisbane, was ist Ihre Einschätzung? Sie hatten ja in Ihrem Berufsleben häufiger mit solchen Staatsmännern zu tun. Wie tickt er und was geht in diesen Tagen in seinem Kopf vor?
    Ischinger: Ich glaube, dass die russische Führung hier vor großen Problemen steht. Sie hat auf der einen Seite für diese Show der Stärke verständlicherweise viel Zustimmung in der russischen Bevölkerung bekommen. Deswegen sage ich ja auch noch einmal: Man kann jetzt nicht erwarten, dass Putin eine Art Fallrückzieher macht, dass er einen Gang nach Canossa macht. Das wird nicht passieren. Deswegen halte ich auch nichts von öffentlichen Schaukämpfen und einem sich gegenseitig öffentlich beschuldigen. Was wir brauchen ist der Prozess hinter verschlossenen Türen. Was wir brauchen sind solche Gespräche, wie sie seit Monaten die Bundeskanzlerin immer wieder versucht mit Putin selbst. Aber was wir natürlich eigentlich bräuchten, wäre ein stetiger, professionell geführter, außerhalb der Fernsehkameras geführter multilateraler Prozess - Stichwort Kontaktgruppe, Stichwort Wiederholung des Genfer Formats vom Frühjahr, unter Einbeziehung der Europäischen Union, unter voller Teilnahme natürlich Russlands -, um vielleicht im Rahmen der OSZE oder auf anderem Wege einen diplomatischen Prozess in Gang zu setzen, an dessen Ende dann ohne Gesichtsverlust wir alle sagen können, wir haben die Lage stabilisiert, es wird nicht mehr geschossen.
    Letzter Punkt ist, Herr Armbrüster: Angesichts dessen, was hier alles passiert ist, ist es natürlich auch ganz vermessen und unrealistisch zu glauben, dass irgendjemand diesen Konflikt in Kürze wird lösen können. Was wir brauchen ist strategische Geduld. Das wird viele Monate dauern, das wird vielleicht Jahre dauern. Deswegen ist Hektik und Hin- und Hergehample natürlich ganz falsch. Strategische Geduld, Gelassenheit, keine Aufregung, nur so werden wir mit Russland im Gespräch bleiben und langfristig das Problem lösen können.
    Armbrüster: Vielen Dank, Wolfgang Ischinger, für diese Einschätzung und für diese mahnenden Worte zum Schluss. Wolfgang Ischinger war das, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Danke für das Gespräch.
    Ischinger: Ich danke Ihnen! Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.