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Ukraine
Neue Patienten für die Ärzte vom Maidan

Mehr als 450 Menschen sind bei Kämpfen in der Ostukraine bereits gestorben. Trotzdem ziehen Freiwillige in den Kampf gegen die prorussische Miliz. Ärzte, die schon während der Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew im Einsatz waren, helfen auch jetzt wieder, an der Front und in Kiew. Sie wünschen sich Unterstützung aus Deutschland.

Von Sabine Adler | 27.06.2014
    Aktivisten tragen im Februar 2014 einen Verletzten vom Maidan.
    Ärzte aus dem Sanitätsteam, das sich im Februar um Verletzte auf dem Maidan kümmerte, sind heute im Osten des Landes tätig. (Andrey Stenin, dpa / picture-alliance)
    „Das ist Jaroslaw. Jaroslaw, wir wissen über Sie und Ihre Geschichte vermutlich sehr viel mehr als sie über uns."
    Oksana Siwak und Valentina Varava empfangen den schmalen jungen Mann wie einen guten Freund. In dessen fröhlichem Gesicht findet sich dunklen Sprenkel, Granatsplitter, in seiner rechten Hand hält er die linke, die nicht seine ist, sondern eine Prothese, mit schlanken Fingern. Oksana und Valentina kennen ihn seit dem 18. Februar, als die Polizei den Maidan gestürmt hat.
    „Auf ihn wurde eine Granate geworfen, er dachte es sei ein Stein. Er griff das Geschoss, wollte es wegschleudern, da explodierte es. Riss ihm die Hand ab, den Bauch auf."
    Der 32-Jährige, selbst angehender Arzt, hebt das Hemd hoch. Eine krakelige Wunde von den Rippen bis unter den Nabel wird sichtbar. Das mobile Sanitätsteam vom Maidan, das ihn gerettet hat, besteht noch immer. Eine der Ärzte, Viktoria, ihr Nachname wird aus Sicherheitsgründen nicht genannt, ist heute in der Ostukraine im Einsatz.
    „Unsere Viktoria ist in der neuen Nationalgarde, als Freiwillige. Wir telefonieren jeden Tag mit ihr. Vorsichtig, damit es für sie nicht gefährlich wird. Sie ist schließlich im Krieg. Und wir helfen mit Medikamenten, jeden Tag geht so ein Karton in den Osten."
    Viele neue Patienten erschweren die Versorgung
    Besonders dringend werden blutstillende Mittel benötigt. Jeden Tag treffen in Kiew neue Verwundete ein, für 40 suchen sie über die Caritas Behandlungsmöglichkeiten, darunter für einen jungen Mann, der vier Finger verloren hat. Die neuen Verletzten verdrängen die Maidan-Patienten, klagt Valentina Varava.
    „Wir haben 50 Maidan-Kämpfer mit Augenverletzungen, die dringend operiert werden müssen. Über 300 Patienten brauchen Operationen, weil sie wie Jaroslaw am Bauch verletzt wurden. 250 sind hier in Kiew und rund 100 in den Regionen. Aber es kommen so viele neue. Wir kümmern uns um sie, aber wir können doch auch die alten Patienten nicht im Stich lassen. Einen unserer Ärzte zum Beispiel, der Splitter ins Auge bekommen hat, er ließ sich nicht behandeln, weil er immerzu Patienten behandelte und dann war es für ihn selbst zu spät, das Auge war nicht mehr zu retten, von solchen wie ihm haben wir 50."
    In der evangelischen Kirche in Kiew, nahe am Maidan-Unabhängigkeitsplatz, hat Pfarrer Ralf Haska in jenen Tagen ein Lazarett beherbergt. Hier hört sich die grüne Bundestagsabgeordnete und Osteuropa-Sprecherin Marieluise Beck die Sorgen der Maidan-Ärzte an. Und hat ein Déjà-vu-Erlebnis. Sie bittet die Dolmetscherin zu übersetzen, wie das im Bürgerkrieg in Bosnien war.
    „Vor 20 Jahren, in Bosnien, waren Augenverletzungen auch ein ganz zentrales Problem. Ich bin mal mit 200 Glasaugen als Geschenk nach Zenica gefahren. In unterschiedlichen Farben."
    Der Wunsch nach Hilfe aus Deutschland
    Spätestens jetzt wagen die Ärztinnen, ihre Bitte vorzutragen.
    „Aktuell brauchen wir Hände", sagt Valentina Varava und meint nicht nur Prothesen. Chirurgenhände, wie Oksana Siwak erläutert. Am besten, die Kollegen kämen nach Kiew, denn die vielen Patienten könnten nicht alle ausgeflogen werden: "Es gibt doch Militärkrankenhäuser in Deutschland, in Koblenz und in Ulm, die schon geholfen haben. Wenn einige Ärzte, solche, die Erfahrungen mit Kriegsverletzungen haben, hier operieren könnten, das wäre es!"
    Die Botschaft ist angekommen: „Ich werde die Bitte mitnehmen an die Verteidigungsministerin."
    Jaroslaw Selesnjow wird bald eine neue Prothese mit beweglichen Finger bekommen. Er freut sich, aber er leidet: unter den Nachrichten aus der Ostukraine:
    „Ich bin wütend auf Russland. Meine Schwester arbeitet in Moskau, sie ärgert sich schwarz, denn ständig wird sie gefragt von ihren Kollegen, wie sie zu Präsident Putin steht. Die Russen betrachten uns als Menschen zweiter Klasse, ohne eigenes Land. Und unsere Leute im Osten haben die Separatisten zugelassen. In Charkiw nicht, da waren sie klug, aber in Slawiansk zum Beispiel, da haben sich die Leute mit ihren Kindern vor die Panzer der ukrainischen Armee gestellt, als die gegen die Besetzer der Verwaltungsgebäude vorgehen wollten. Und jetzt jammern und weinen sie und wollen befreit werden."