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Ukrainischer Untergrund

Wenn Juri Andruchowytsch über die ukrainische Literatur der Gegenwart spricht, dann spricht er auch und vor allem über sich selbst. Schließlich war er es, der bereits das Tauwetter unter Gorbatschow in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre dazu nutzte, sich mit einer Art Underground-Literatur gegen das sowjetukrainische Establishment aufzulehnen:

Von Martin Sander | 11.01.2007
    " Seit den neunziger Jahren hat die ukrainische Literatur eine neue Qualität. Junge Autoren haben damals mit den Klischees in der eigenen Kultur gebrochen. Sie haben sich gegen das rhetorisch Erhabene zur Wehr gesetzt, gegen eine schlecht verstandene Nationalromantik, gegen das Pathos und gegen eine allgemeine geistige Beschränkung als Folge der Zensur. "

    Im westukrainischen Lemberg gründete er die Dichtergruppe Bubabu, die mit Happenings abseits des offiziellen, staatlich organisierten Betriebs auf sich aufmerksam machte. Auch setzte er sich damals mit der Vielvölkervergangenheit seiner galizischen Heimat auseinander - und brach damit ein sowjetisches Tabu. Zur Welt kam Andruchowytsch 1960 in Stanislawow, dem heutigen Iwano-Frankiwsk, einer Stadt unweit von Lemberg, geprägt von polnischer und habsburgischer Vergangenheit.

    1990 und '91, als die Sowjetunion das Stadium ihres Zerfalls erreicht hatte, war der westukrainische Dichterrebell Stipendiat im Moskauer Maxim-Gorki-Institut. Dieser Aufenthalt bot die Inspiration für "Moscoviada", einen zornig-komischen Abgesang auf Moskau als Schaltzentrale eines kollabierenden Imperiums.

    Sie kann nur fressen, diese Stadt der vollgekotzten Hinterhöfe und der windschiefen Bretterzäune in den von Pappelflaum bedeckten Gassen despotischen Namens: Garten-Kriech-Gasse, Knast-Krämer-Gasse, Neue Henkersgasse, Knüppel-Prügel-Gasse, Kleine Oktober-Friedhofsgasse ...

    Stadt der Verluste. Es wäre gut, sie dem Erdboden gleichzumachen. Wieder die dichten finnischen Wälder zu pflanzen, die es hier früher gab, Bären, Elche, Rehe anzusiedeln - auf dass sie bei den moosüberwachsenen Kremlruinen äsen, auf dass Barsche in den zu neuem Leben erwachte Wassern der Moskwa schwimmen, wilde Bienen in tiefen duftenden Höhlungen emsig Honig sammeln. Man muss diesem Land Ruhe gönnen vor seiner verbrecherischen Hauptstadt.


    In Andruchowytschs "Moscoviada" wimmelt es von Anklagen, die nicht selten die Schärfe eines Pamphlets erreichen. Zugleich steckt dieser Roman voller Ironie und Selbstironie. Der Erzähler, unverkennbar das Alter Ego seines Autors, ist Schriftsteller, stammt aus der Westukraine und trägt den an habsburgische Zeiten erinnernden Namen Otto von F. Mit der Arbeit an einem Versepos beschäftigt, nimmt Otto gemeinsam mit Dichterinnen und Dichtern aus allen Sowjetrepubliken ein Stipendium des Maxim-Gorki-Literaturinstituts in Anspruch. Der Autor konzentriert die Handlung des Romans auf einen einzigen verregneten Frühlingstag des Jahres 1991 - wenige Wochen vor dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow, der das Ende der Sowjetunion besiegelte.

    Nach einem beinahe zufälligen Geschlechtsakt im Duschraum seines Wohnheims rappelt sich Otto von F. zu einem Bierfrühstück mit seinen engsten Gefährten auf, entgeht nur knapp einem Attentat in einer Imbissbude und lässt sich sodann, auf der Suche nach Geschenken im legendären Kaufhaus "Kinderwelt", die Geldbörse stehlen. Die Jagd nach dem Taschendieb führt den berauschten Dichter immer tiefer in die Unterwelt. In den Tunneln des Regierungsviertels bedrohen ihn Geheimagenten mit schäferhundgroßen Ratten, den angeblichen Superwaffen des angeschlagenen Regimes.

    Auf seiner Odyssee erlaubt der Autor seinem Helden so ziemlich alles - politisch, moralisch, alkoholisch, sexuell. Das Stilrepertoire reicht bis zur Pop-Art. Freizügig wird die Weltliteratur herbeizitiert, den Dichter Juri Andruchowytsch eingeschlossen. Eitel wirkt das nicht unbedingt, denn die literarische Ambition des Autors scheint hier ebenso von Selbstironie durchtränkt wie die nationale Haltung seines Helden. Otto von F. präsentiert sich als Anhänger einer unabhängigen Ukraine. Doch die großen politischen Absichten des dichtenden Suffkopfs kann man nie so ganz ernst nehmen, so wenig wie seine Gesten höfischer Unterwerfung gegenüber einem durch den Roman geisternden ukrainischen Herrscher namens
    Olelko II.

    "Lasset die Armen teilhaben an Eurem Vermögen, schenket den Witwen und Waisen ein Lächeln, erschlaget keine herrenlosen Hundchen. Denkt an das Große und Schöne, zum Beispiel an meine Poesie. Gebt mir ein Stipendium, gern in D-Mark, und schickt mich auf eine Reise rund um die Welt. Nach einem halben Jahr präsentiere ich Euch, Helleuchtender, eine Lobeshymne, die Euch über alle anderen Monarchen erheben wird. Ein halbes Jahr später wird das ukrainische Volk Eure Rückkehr fordern, und nach erfolgreich durchgeführtem Referendum zieht Ihr in einem weißen Cadillac in Kiew ein. Denn wahr ist's, ich sage euch: gebt mir ein Stipendium!"

    Das vollends surreale Finale seiner Moskauer Irrfahrt inszeniert Juri Andruchowytsch als Maskenball. In einem unterirdischen Refugium von den Ausmaßen des Roten Platzes beraten Ivan der Schreckliche, Lenin und Felix Dscherschinski über die Rettung des Imperiums. Otto von F. steckt in der Rolle des Hanswurst und gibt sich endlich verzweifelt die Kugel. Nach seinem halluzinierten Freitod kann der Dichter noch die Rückfahrt in die westukrainische Heimat antreten. Auf dem Schlachtfeld unter dem Kreml bleiben Holzpuppen zurück, aus denen die Späne rieseln.

    "Moscoviada" ist - nicht zuletzt dank der außerordentlich gelungenen Übertragung von Sabine Stöhr - eine fesselnde Lektüre. Im Zeitalter neuer hegemonialer Bestrebungen und totalitärer Methoden Russlands unter Vladimir Putin gewinnt dieser karnevalistische Roman über die letzten Stunden der Sowjetunion überdies an bedrohlicher Aktualität.