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Ulf Erdmann Ziegler
Ein eleganter Großstadtroman

Ulf Erdmann Zieglers dritter Roman „Und jetzt du, Orlando!“ erzählt vor der Kulisse der Großstadt London von einer ambivalenten Freundschaft und von der zunehmenden Auflösung vermeintlicher Sicherheiten.

Von Christoph Schröder | 06.11.2014
    Wenn es ein Gefühl gibt, das als Dauerzustand den Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert begleitet hat - dann war es die Empfindung einer vagen Unsicherheit. Sämtliche Lebensbereiche schienen, wenn nicht ins Wanken, so doch in ein leichtes, aber stetiges Vibrieren zu geraten, unter eine Anspannung, die gepaart war mit einer freudigen Erwartungshaltung auf das, was da kommen würde, wenn erst einmal die Ziffer "2" vor der Jahreszahl stehen würde. Das 21. Jahrhundert wurde zur Chiffre eines kompletten Neubeginns: Wie würde man lieben? Wie würde man arbeiten? Wie würden sich Architektur, Kunst, das Denken überhaupt verändern? Und würden tatsächlich am 1. Januar 2000 sämtliche Computersysteme zusammenbrechen?
    Orlando und Oliver sitzen gemeinsam in einem Londoner Pub und sehen im Fernseher einen Hubschrauber über die nagelneue Millennium Bridge in Newcastle fliegen. Sie werden in Zukunft häufig beieinander sitzen, bei abendlichen Touren durch eine sich wandelnde Stadt, in Bars oder Klubs. Ulf Erdmann Ziegler, wie sein Ich-Erzähler Oliver Jahrgang 1959, hat mit "Und jetzt du, Orlando!" einen federnden, eleganten Großstadtroman geschrieben. Und ein Buch, in dem die Freundschaft zweier ungleicher Menschen vor dem Hintergrund einer zunehmend unübersichtlich werdenden Welt erzählt wird. Oliver, studierter Betriebswirt, ist in den 80er-Jahren nach England gekommen und geblieben. Mittlerweile ist er mit Barbara, einer Engländerin, verheiratet und hat eine Tochter. Oliver arbeitet bei Turnstyle Movies, einer durchaus erfolgreichen Filmverleihfirma; Jahre später kommt der Ableger Turnstyle Music hinzu, bei dem Orlando beschäftigt ist. Subtil und genau beschreibt Ziegler in seinem dritten Roman die Veränderungen der Arbeitswelt seit den 80er-Jahren und den damit verbundenen Wandel im Selbstverständnis des Einzelnen:
    "Ich war noch nicht einmal dreißig und schon das typischer Opfer des eigenen Bildes im Spiegel. Uns hatten Soziologen das Etikett "young urban professionals" verpasst, im Unterschied zu was eigentlich, "old country slackers"? Die Arbeitgeber angeln sich Talente, um sie mit Haut und Haaren zu fressen. Jede Entdeckung, die man macht, jede Verantwortung, die man übernimmt, dehnt den Tag, die Woche, bedrängt am Ende den Jahreskalender. Wie empfänglich ist man für ein Lob, das kann er aber echt gut!, bis einem dämmert, dass gerade dies der Fluch ist."
    Uneindeutigkeit ist Gegenstand des Erzählens
    Die beiden ersten Romane von Ulf Erdmann Ziegler hatten stets ein Thema, das varianten- und kenntnisreich literarisch ausgearbeitet wurde. Ziegler ist der seltene Fall eines universell gebildeten Kopfes, der über die Fähigkeit zur präzisen literarischen Darstellung verfügt und dessen theoretisches Gerüst dennoch stets erkennbar bleibt. Dass es im Fall des dritten Romans ungemein schwierig ist, in Worte zu fassen, worum es geht, hängt damit zusammen, dass gerade die Uneindeutigkeit der Gegenstand des Erzählens ist. Davon werden sämtliche Kategorien erfasst: Die Auflösung fest gefügter Denkmodelle paart sich in "Und jetzt du, Orlando!" mit der Rasanz, der Flüchtigkeit, dem Flow der Großstadt. Da ist zum Beispiel Barabara, Olivers Frau, Symbolfigur für die Verwischung der Grenzen zwischen Kunst- und Kulturgeschichte, Expertin für Tränen und weinende Männer in der Kunst vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. Aber auch Erforscherin der Ambivalenz vermeintlich fest gefügter Geschlechterzuordnungen:
    "Barbara hat nicht entdeckt, dass Maler der Renaissance Frauenkörper nach männlichen Modellen gemalt haben. Das war längst bekannt. Aber vorher glaubten die Fachleute, nur allein sie sähen das, während der Renaissancekünstler recht erfolgreich versucht habe, das zu vertuschen. Sie kam zu dem gegenteiligen Schluss: Es wurde geradezu offen damit gespielt, indem männliche Figuren mit typischen, weiblichen Gesten oder Accessoires ausgestattet wurden."
    Konventionelle Fixpunkte kommen ins Rutschen
    Diese Erkenntnis findet ihre Spiegelung in den androgynen Gestalten der Klubs, in denen Oliver und der 15 Jahre jüngere Orlando bei ihren abendlichen Touren stranden - und in der dezent angedeuteten Homoerotik ihrer Freundschaft. Das verwirrendste Identitätspuzzle allerdings ist Orlando selbst. Seine Familiengeschichte wird im Roman nach und nach aufgerollt und erweist sich letztendlich als Ursache für die dramatischen Ereignisse, von denen Oliver rund ein Jahrzehnt später in der Jetztzeit retrospektiv berichtet: Orlando Goldstein ist ein schwarzer Jude, Enkel einer aus Wien vor den Nazis geflohenen Großmutter, Sohn einer Jüdin und eines ihm unbekannten Vaters. Konterkariert wird Orlandos Biografie von Olivers eigener urschwäbischer Herkunft und Sozialisierung.
    Welches Bild macht man sich von sich selbst? Und wie richtet man sich im eigenen Leben ein? Ehe, Familie, Geschlechter, politische und ethnische Zugehörigkeit - im Großen wie im Kleinen kommen bei Ulf Erdmann Ziegler die konventionellen Fixpunkte ins Rutschen. Das verleiht seinem Roman sprachliche Rasanz. Der Preis, den Ziegler dafür bezahlt, ist sozusagen systemimmanent: Die Figuren selbst verfügen über relativ wenig Kontur; sie haben mehr Stimme als ein prägnantes Gesicht. Dennoch: "Und jetzt du, Orlando!" ist, das darf verraten werden, ein Buch mit tragischer Note. Und wenn Oliver sich aus dem Off an seinen Freund erinnert, dann hat sein Tonfall beinahe etwas Zärtliches:
    "Das hat mich umgehauen, wie er seinem Boss widersprach, ganz beiläufig, schmunzelnd. Und ich dachte: Es liegt an diesem Gesicht. Dem glaubt man aufs Wort. Ich war also total verblüfft, Kinnlade unten. Er sah mich an, auf seine besonnene Art, während die anderen lachten. Ja, das warst du. Das warst du, Orlando."
    Ulf Erdmann Ziegler: "Und jetzt du, Orlando!"
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 218 Seiten, 18,95 Euro.