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Ulrich Enzensberger: Die Jahre der Kommune I, Berlin 1967 - 1969.

Ich denke, dass die Kommune in Form der losen und politischen Zusammenarbeit und des direkten Zusammenlebens von freien Individuen die adäquate Antwort unsere Tage sein könnte, nämlich von Individuen, die in der Lage sind, die Gesamtheit der anstehenden Probleme theoretisch zu begreifen und damit praktisch neue Antworten zu finden, dass sie in der Kommune eine neue Form des Zusammenlebens finden könnten, die im alten, etablierten Gleichgewicht die Keimzellen des Neuen abgeben könnte...

Von Tita Gaehme | 11.10.2004
    Dieses Statement, das Rudi Dutschke an Silvester 1966 in einem Interview abgab, sei die Initialzündung zur Gründung der berüchtigten Kommune I gewesen. Als es dann jedoch konkret wurde und geklärt werden musste, wer mit macht, habe Dutschke abgewinkt und "unter gar nicht sanftem Druck" seiner Gattin Gretchen das Konzept der Kommune I abgelehnt. Ulrich Enzensberger erzählt diese Episode. Der jüngere Bruder von Hans Magnus Enzensberger war einer der Mitbegründer der Kommune I und bei Kiepenheuer und Witsch hat er jetzt einen Rückblick auf die wilden Jahre vorgelegt. Hören Sie die Rezension von Tita Gaehme

    Seine erste These meint Ulrich Enzensberger spielerisch: "Wir sind ein ganz, ganz toller Mythos" und bevor er Meyers Konversationslexikon zum Mythos zitiert, trägt er Ausschmückungen zusammen. Polit-Poesie, Volksmund und die Headlines der Springer-Presse stimmen auf 68 ein.

    Mythos. Wir sind das Schlangenei, aus dem die Rote Armee-Fraktion gekrochen ist. Wir sind die Erfinder der Spaßgesellschaft. Wir waren die ersten, die auf den irren Gedanken kamen, ein Kaufhaus in Brand zu stecken. .... Teufel hat ins Gericht geschissen. Wir waren brave Bürgersöhnchen. Wir wollten die deutsche Familie zerstören. Apo-Opas. Wir waren restlos verklemmt. Bis Uschi kam. Nützliche Idioten. USA SA SS ... Wir waren die ersten deutschen Pop-Ikonen. Wir waren Ulbrichts Lakaien. Wir haben als erste gefixt. Wir haben mit den Medien gespielt. Wir haben Deutschland modernisiert. Politik muss Spaß machen. Tonnenweise LSD gefressen. Wir saßen jahrelang im Knast. Wir haben es gut gemeint.

    Ehe sich in den siebziger Jahren Wohn-Kommunen als studentische Lebensform weit verbreiteten, bezogen am 19. Februar 1967 neun junge Leute mit einem Kind in Berlin Charlottenburg die Wohnung des ahnungslosen Schriftstellers Uwe Johnson, der sich damals in New York aufhielt, und nannten sich Kommune I.
    Ulrich Enzensberger, Volker Gebbert, Hans Joachim Hameister, Dagrun E. Kristensen, Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans, Karl Pawla, Dorothea Ridder, Fritz Teufel, wurden die Avantgarde der antiautoritären Bewegung innerhalb der Außerparlamentarischen Opposition. Mit dadaistischen Aktionen trieben sie die Regierungsmacht in Berlin zur Weißglut. Das war ihre Absicht: "die verkrampfte Frontstadt lockerkitzeln".
    Und ihre Langzeitwirkung war mit Gewissheit die, dass Politik zum Bestandteil von Pop-Kultur wurde: Keiner kann es, jeder will es. Selbstdarstellung ist entscheidend.

    Grundlage des Experiments war die Abschaffung des Privateigentums in unserer Gruppe. "Gemeinsam wirtschaften und leben" mit diesen Worten hat später Fritz Teufel als Meister lakonischer Würze vor Gericht das Wesen des Unternehmens charakterisiert. Wir wollten nicht warten auf die große proletarische Revolution, auf die Enteignung der Produktionsmittel, auf den sozialistischen Aufbau. ... Wir hatten es satt, das Geleier der marxistischen Pfaffen.

    Ulrich Enzensbergers Buch umfasst mehr als der Titel verspricht: die Jahre der Kommune 1 in Berlin von 1967 bis 1969. Solch klare zeitliche Abgrenzung wäre auch deshalb schwierig, weil die Dinge im Fluss waren. Die gesellschaftlichen Bewegungen der späten 60er Jahre haben eine Vorgeschichte und Auswirkungen. Beides bezieht Enzensberger in seine Darstellung mit ein.
    So schildert er auf den ersten hundert Seiten den langen Marsch der Bürgerkinder in die Außerparlamentarische Opposition. Es war die Zeit der Großen Koalition. Die Opposition im Parlament war auf ein Minimum geschrumpft.
    Die zweite These seines Buches will Enzensberger ernst genommen wissen: Große Koalition und APO bedingten einander. Als Willy Brandt und die Sozialdemokratie an die Macht kamen, zerfiel die APO.

    Enzensberger fokussiert die Geschichte der Bundesrepublik auf die Tatsachen und Ereignisse, welche die Empörung und politische Radikalisierung der Kriegs- und Nachkriegskinder verständlich machen sollen: In Westdeutschland waren Regierungs- und Beamtenapparat von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP durchsetzt, in den Schulen, in der Justiz und bei der Polizei dachte und handelte man noch weitgehend so wie im Dritten Reich: der Staat war autoritär; Disziplinierung und Prügel waren akzeptierte Erziehungsmethoden, Sexualität war nicht Privatsache sondern konnte außerhalb der Ehe strafverfolgt werden.
    Dass Westdeutschland militärisch besetztes Gebiet war, verdrängte das Gros der Bevölkerung. Es dachte nicht politisch sondern wirtschaftlich und fühlte sich frei angesichts des Wirtschaftswunders und der wachsenden Konsummöglichkeiten.

    In diesem Zusammenhang war es auch nicht ohne Belang, dass Fritz Teufel am 22. Februar 1967 wegen Diebstahls verurteilt wurde. Er hatte in einem Supermarkt ein Stück Butter, eine Dose Schuhspray und zwei Paar Herrensocken stibitzt. Die Geldstrafe, 50 DM, wurde aus der Kommunekasse bezahlt. Wir legten es zwar nicht darauf an, erwischt zu werden, aber unsere Diebereien hatten durchaus etwas Demonstratives: Klauen war für uns nicht nur erlaubt, es war geradezu geboten, eine praktische Demonstration gegen das Privateigentum. Selbst Leute wie Dutschke stahlen zumindest in gutgehenden Buchhandlungen. Sie überwanden sich.

    Das Ausplaudern von Interna ist eher die Ausnahme. Ulrich Enzensbergers Buch ist insofern ungewöhnlich, als es beansprucht, das Buch eines Insiders zu sein, diesen Umstand beim Schreiben aber immer verleugnet. Enzensberger hat in Zeitungsarchiven gestöbert, er kennt die einschlägige Literatur, er hat mit seinen Ex-Kommunarden zahlreiche Gespräche geführt. Diese materialreiche Recherche ist die Basis seiner Darstellung der facettenreichen Geschichte der APO bis in die frühen 70er Jahre, nicht die Erinnerung und Reflexion eigener Bewusstheit und Befindlichkeit. Enzensberger hat offensichtlich Schwierigkeiten "ich" zu sagen und erzählt mit möglichst wenig Psychologie und anekdotenarm.

    Dass der Hedonismus ein "muss" war, wird einem klar, wie auch die Qualen bei der Aufhebung familiärer Bindungen und tradierter Moralvorstellungen, bei Partnertausch und Lustgewinn, bei den spektakulären Männerphantasien angesichts der befreiten und verführerischen Schönheit von Uschi Obermeier, bei Baaders und Ensslins Bombenbasteleien.

    Mit penibler Sorgfalt zeichnet Enzensberger politische Debatten nach. Das zu lesen ist anstrengend, weil man sich die Differenzierungen kaum merken kann. Dem normalsterblichen Westeuropäer sind die Gesetze von Einsteins Relativitätstheorie eher plausibel zu machen als die Widersprüche innerhalb der Kommunistischen Bewegung.

    Enzensberger schreibt mit objektivem Duktus, und spürt dem faszinierenden Reiz sozialistischer Gedankenmodelle nach.

    So wie die Pariser Kommunarden sich die französische Republik im Gegensatz zum napoleonischen Zentralismus als eine Vereinigung selbständiger, auf sozialistischer Basis wirtschaftender, von Räten verwalteter Kommunen dachte, so träumte Dutschke von einer aus "Selbstorganisationen" bestehenden Republik. Wer heute darüber spottet, mag bei Hannah Ahrendt nachlesen, wie oft die Räte schon totgesagt, wie oft sie in der Geschichte wieder auferstanden und wie tief in den USA die selbst bei Thomas Jefferson nachzuweisende Vorstellung einer auf weitgehend selbstbestimmte Communities gegründeten Republik ist.

    Doch keiner Kommune war bisher ein langes Leben beschieden und auch die "Kommune I" bröckelte bereits nach wenigen Monaten. Im November 1969 verprügelten Rocker aus dem Märkischen Viertel die Kommunarden und zertrümmerten die Wohnung. Die astronomische Honorarangabe des "Stern" für das berühmte Nacktfoto mit Rückenansicht hatte sie in Wut versetzt.
    Auch die Pariser Commune, Urmutter aller Geburtsträume einer befreiten Gesellschaft, dauerte im Jahre 1872 nur einen Frühling lang, ehe sie, blutig niedergeschlagen, unzählige Tote forderte.

    Wir Kommunegründer leben alle noch.

    Mit dieser Erfolgsmeldung kommt Ulrich Enzensberger zum Schluss seines Buches. Doch was ist aus den Kommunarden von einst geworden? Wie in einem Nachspann lässt er zehn deutsche Biografien in Stichworten abrollen. Sich selbst nimmt er aus, als gehöre er in diese Gemeinschaft gar nicht hinein.
    Die heutige Existenz der Ex- Kommunarden ist nicht beneidenswert. Im Rückspiegel des Rentenalters erscheint deren Leben, wie das der meisten: vom individuellen Schicksal, von eigenen Irrtümern gebeutelt; wenn Zufriedenheit oder partiell Glück durchschimmert, so wegen kleiner, privater Gegebenheiten oder erfolgreicher Sozialarbeit.

    Wie so oft am Ende eines Buches kann dem Leser auch hier weh ums Herz werden. Jedenfalls dann, wenn er der Ansicht ist, dass man nur einmal lebt, und dass man in gewisser Weise doch Pflichten gegen seine Zeit hat.
    Die ehemals antiautoritären Bewohner der Kommune 1 verbrachten die Jahre zwischen 1967 und 1969 mit Spaß, Faulheit, Aufruhr, Sex und Phantasie. Sie brachen mit fast allen Konventionen, übten sich in Geldverachtung und kümmerten sich mehr als die meisten damaligen Menschen um die Kommunikationsformen einer lebendigen Demokratie.
    Sie haben auf diese Weise ihre Pflichten gegen ihre Zeit merkwürdig pflichtbewusst erfüllt und dafür von den Zeitgenossen, wie auch den Nachgeborenen wenig Respekt geerntet.

    Tita Gaehme über Ulrich Enzensberger, Die Jahre der Kommune I,
    Berlin 1967 - 1969. Der Band ist bei Kiepenheuer und Witsch in Köln erschienen, hat 415 Seiten und kostet 24 Euro 90.