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Ulrich Menzel
Wer die Welt zusammenhält

Welche Ursachen und Motive führen dazu, dass bestimme Staaten an der Spitze der internationalen Ordnung stehen? Wann handeln sie eher friedlich und am Gemeinwohl orientiert, wann eher egoistisch und aggressiv? Der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel versucht in seinem neuen Buch, die Gesetze der internationalen Ordnung freizulegen.

Von Martin Hubert | 29.06.2015
    Eine illuminierte Weltkugel ist am 29.05.2011 in Gelsenkirchen zu sehen.
    Menzel versucht, seine Theorie der Weltordnung direkt aus der historischen Abfolge hegemonialer und imperialer Mächte abzuleiten. (picture alliance / dpa / Caroline Seidel)
    "Es gibt so etwas wie die Anarchie der Staatenwelt, weil es oberhalb der Souveränität des Nationalstaats keine Instanz mehr gibt."
    Wie kann es eine stabile internationale Ordnung geben, wenn nur souveräne Einzelstaaten existieren? Der Braunschweiger Politikwissenschaftler Ulrich Menzel hat seit Jahren über diese Frage nachgedacht und die möglichen Antworten durchgespielt:
    "Wenn ich davon ausgehe, habe ich zwei Varianten: die idealistische, die auf der freiwilligen Kooperation der Staaten basiert oder ich habe die realistische Variante, die auf dem Selbsthilfeprinzip basiert, das heißt, jeder Staat versucht die internationalen Fragen, die er in seinem Sinne zu regeln hat, selber zu lösen so gut er es kann - und er kann es umso besser, je mehr Machtmittel er hat."
    In einem wuchtigen Buch legt Menzel nun die Ergebnisse seiner Forschung vor. Die beiden Varianten, die sich auf die These einer Anarchie der Staatenwelt stützen, verwirft er. Denn wenn jeder einzelne Staat zur Selbsthilfe nach immer mehr Macht strebe, würde das nur zu immer stärkerer gegenseitiger Verunsicherung führen und nicht zu internationaler Stabilität. Und schon der Blick auf die schwache UNO oder die kriselnde EU zeige, wie schlecht die Idee einer freiwilligen zwischenstaatlichen Kooperation funktioniert. Menzels Schlussfolgerung:
    "Die Annahme von der Anarchie der Staatenwelt stimmt gar nicht, es gibt doch so etwas wie eine internationale Ordnung, und es stimmt gar nicht, dass es das internationale Gewaltmonopol nicht gibt, sondern entweder es ist ein Hegemon, der diese Rolle ausübt oder es ist die imperialistische Variante, dass eine Macht versucht, über Welteroberung, über Reichsbildung über seine Grenzen hinaus das zu leisten."
    Ohne Egoismus handelt keine Weltmacht
    Nicht die Anarchie, sondern die Hierarchie der Staaten bildet für Menzel das Fundament der internationalen Beziehungen. Denn nur starke Imperien oder Hegemonialmächte seien in der Lage, die öffentlichen Güter zu garantieren, die für die Ordnung der Welt von Bedeutung sind.
    "Internationale öffentliche Güter sind beispielsweise Sicherheit im Sinne von nuklearer Sicherheit, sind wirtschaftliche Stabilität, die Garantie der Freiheit der Meere, eine gesicherte Ölversorgung, Weltgeld."
    Ulrich Menzels Werk über die hierarchische Ordnung der Welt, die die öffentlichen Güter sichern soll, ist ein völlig utopiefreies Buch. Weder die Vereinten Nationen, noch die Europäische Union oder philosophische Entwürfe einer alternativen Weltrepublik spielen darin eine Rolle. Stattdessen versucht er, seine Theorie der Weltordnung direkt aus der historischen Abfolge hegemonialer und imperialer Mächte abzuleiten: Welche Ursachen und Motive führen dazu, dass bestimme Staaten an der Spitze der internationalen Ordnung stehen? Wann handeln sie eher friedlich und am Gemeinwohl orientiert, wann eher egoistisch und aggressiv? Ohne Egoismus handelt keine Weltmacht, erfährt man von Menzel, nur kann sie eben auch von einer konfliktarmen Welt profitieren, wenn es ihren Geschäften nützt. Der historische Einstieg, den Menzel für seine Analysen wählt, ist gleichermaßen überraschend wie überzeugend. Er beginnt nicht mit dem Römischen Reich oder der westlichen Expansion portugiesischer und spanischer Handelsmächte, sondern mit dem chinesischen SONG-Reich. Dieses hatte zwischen 960 und 1204 eine hegemoniale Herrschaft über das asiatische Kernland hinaus errichtet:
    "China übte in seinem Selbstverständnis eine derart umfassende zivilisatorische Überlegenheit aus, dass es der militärischen Kontrolle der Welt nicht bedurfte. Der Einfluss auf seine unmittelbaren Nachbarn Korea, Japan und Annam kommt darin zum Ausdruck, dass diese die chinesischen Schriftzeichen, viele Aspekte der chinesischen Kultur und Literatur, den Konfuzianismus als Wertesystem, damit dessen familiäre und soziale Ordnung, das staatliche Prüfungswesen oder die bürokratische Staatsverfassung übernommen haben."
    Keine einheitliche Theorie der hierarchischen Weltordnung
    Im weiteren Verlauf der Geschichte traten dann aber auch ganz andere Legitimations- und Herrschaftsformen auf. Menzel behandelt das aggressive Imperium der Mongolen genauso wie die venezianische Seemacht oder das Osmanische Reich, das er als Zwitter aus Imperial-und Hegemonialmacht beschreibt. Die Zeiten portugiesischer, spanischer, niederländischer, französischer und britischer Weltdominanz werden genauso besichtigt wie die beiden Phasen der amerikanischen Herrschaft nach 1945 und 1990. Der Leser lernt bei diesem Durchgang durch die Weltgeschichte viel über ökonomische, politische, militärische, ideologische oder kulturelle Macht-und Herrschaftsstrategien. Allerdings drängt sich immer wieder die Frage auf, ob sich aus diesen unterschiedlichen Linien überhaupt eine einheitliche Theorie der hierarchischen Weltordnung herausziehen lässt. Ulrich Menzels Antwort fällt schließlich recht differenziert aus:
    "Die Aneinanderreihung der großen Zeit der großen Mächte deckt nahezu 1.000 Jahre Weltgeschichte ab mit nur wenigen Lücken, aber vielen Überlappungen. Doch daraus den Schluss zu ziehen, die jeweiligen Hegemonialmächte oder Imperien hätten nacheinander eine nahezu ununterbrochene, weltweite und alle gesellschaftliche Bereiche umfassende internationale Ordnung gewährleistet, ist empirisch nicht haltbar. Dazu waren die Weltordnungskonzepte der großen Mächte, ihre Dimension und ihre Reichweite wie die Grundlagen, auf denen der Weltordnungsanspruch reklamiert wurde und die Möglichkeiten, diese durchzusetzen, viel zu heterogen. Außerdem gab es immer wieder kürzere und längere Phasen, in denen es gar keine Ordnungsmacht großer Reichweite gab, sondern ein Machtvakuum beziehungsweise Ausscheidungskämpfe rivalisierender Mächte."
    Idealistische Ansätze sind wichtig
    Menzel beharrt jedoch darauf, dass die Theorie der hierarchischen Weltordnung insgesamt plausibler sei als das in der Politikwissenschaft verbreitete Axiom von der Anarchie der Staatenwelt. Damit hat er wohl recht. Und sein Buch stellt zweifellos ein empfehlenswertes Grundlagenwerk dar, mit dem sich die Abfolge zunehmend globaler werdender Machtsysteme ausgiebig studieren lässt. Lesenswert ist auch seine Diagnose eines möglichen Patts zwischen den USA und China, auf das die Welt allmählich zusteuern dürfte.
    "Vielleicht folgt auf den zweiten Machtzyklus der USA ein Kondominium, eine Art G 2, bei der China zunächst nur die finanziellen Ressourcen, die aus seinen Überschüssen resultieren, beisteuert, so wie einst die USA gegenüber Großbritannien im Vorfeld der Weltkriege."
    Menzels Ansatz ist nicht nur in diesem Fall flexibel genug, um auch die Widersprüche und Spannungen der globalen Machtzyklen offenzulegen. Damit hat sein Buch einen überraschenden und anregenden Nebeneffekt. Es verdeutlicht, wie wichtig auch die idealistischen Ansätze sind, die eine kooperative Welt jenseits der keineswegs konfliktfreien Hierarchie der Großmächte entwerfen - sei es auch um den Preis der Utopie.
    Ulrich Menzel. Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt. 1.229 Seiten. 49,49 Euro, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.