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Ultima Ratio

Thea Dorn war gerade 23 Jahre alt, als ihr erster Kriminalroman "Berliner Aufklärung" 1994 im Rotbuch Verlag erschien. Sie studierte Philosophie an der Freien Universität Berlin und hätte eigentlich an ihrer Magisterarbeit über Selbsttäuschungsmechanismen sitzen sollen. Statt dessen entwickelte sie eine kriminelle Phantasie, in der mit dem Lehrkörper der philosophischen Fakultät nicht gerade zimperlich umgegangen wurde. Ihr Roman beginnt damit, dass 54 Leichenteile eines leicht zu identifizierenden Professors in den Postfächern des Instituts gefunden werden. Dorn:

Ralf Gerstenberg | 02.10.2001
    Ich war Hilfskraft am Philosophischen Institut damals und musste endlose Wälzer kopieren und stand immer in diesem Kopierraum mit diesen Postfächern. Und dann entstand so als Tagtraum die Idee für die Anfangsszene von "Berliner Aufklärung" (...) Und dann hatte ich erst mal Spaß halber angefangen zu überlegen, was könnte das für eine Geschichte werden, und dann auf einmal wurde das so ein richtiger Selbstläufer.

    Da ein gewisser Schlüsselcharakter des Romans nicht zu übersehen war, veröffentlichte die Autorin das Buch unter dem Pseudonym Thea Dorn - eine Ableitung von Theodor Wiesengrund Adorno und ein Dankeschön für dessen erhellende Geistesblitze. Bereits in ihrem ersten Buch unterschieden sich Tonfall und Personal wohltuend von den üblichen Frauenkrimis, in denen frustrierte Ehefrauen auf nette und "furchtbar komische" Art ihre Gatten oder irgendwelche anderen ignoranten Machowesen meucheln. "Fiktionales Probehandeln" heißt das in der Populärkulturforschung. Thea Dorns Heldinnen haben sich von derlei längst verabschiedet. Sie müssen sich nicht erst gegen starke Männerfiguren behaupten, sondern sind ihnen von vornherein überlegen. Nicht feminines Einfühlungsvermögen, sondern Rationalität ist ihre Stärke. Auch an Schlagfertigkeit und Sarkasmus stehen sie ihren männlichen Vorgängern in den Hardboiled-Romanen in nichts nach. Nur verkörpern sie nicht wie diese eine Utopie von einer individuellen Moral, die sich stets aufs Neue gegen eine amoralische Gesellschaft behaupten muss, sondern ein Prinzip der Autonomie, das keinerlei Rechtfertigung bedarf. Dorn:

    Also man hat 'ne Zeitlang versucht im Geschlechterkampf durch das Aufmerksammachen auf das Unrecht und die Ungerechtigkeiten 'ne Abrüstung herbeizuführen, also die Männer softer zu machen. Das hat in gewisser Weise überhaupt gar nicht geklappt. An manchen Fronten hat's geklappt, aber gesamtgesellschaftlich hat es natürlich gar nicht geklappt. Und ich finde jetzt eher die verlockendere Strategie, also wenn die Abrüstung nicht geklappt hat, dann probieren wir's doch mal mit Aufrüstung.

    Auch die Heldin in der programmatischen Titelerzählung von Thea Dorns neuem Band mit Erzählungen und Kolumnen "Ultima Ratio" rüstet auf. Als "jüngste Philosophieprofessorin der deutschsprachigen Welt" unterrichtet sie - wie zur Entstehungszeit der Geschichte auch die Autorin - Moralphilosophie am philosophischen Institut der Freien Universität. Eines Tages beschließt sie, ihre theoretischen Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen:

    Am Morgen des 17. November 1997 beschloss Professor Penelope Kura die Auslöschung des Philosophischen Instituts der freien Universität Berlin. Der Gedanke war einfach, plausibel und konsistent, war unmissverständlich und sparsam formuliert, kurz: Er besaß alle Merkmale eines guten philosophischen Gedankens. Darüber hinaus besaß er eine Eigenschaft, an der es guten philosophischen Gedanken im Allgemeinen mangelte: motivierende Kraft! Penelope Kura spürte, wie ihr Körper unter dem plötzlich ausgeschütteten Adrenalin zu vibrieren begann. Ihr Herz stampfte. Ihre Hände scharrten auf dem Federbett. Wie lange war es her, dass sie eine solche Erregung verspürt hatte. Eine Erregung durch den Gedanken.

    Ultima Ratiost die längste Erzählung des Bandes - lakonisch und pointiert, ein philosophisches Roadmovie, in dem man den rasanten Weg der Heldin, streng nach dem aristotelischen Handlungsgesetz, vom Entschluss zur Tat verfolgen kann. Ganz nebenbei gibt es erhellende Einblicke in den Alltag des Institutspersonals, dessen Intellekt, "klar und scharf wie ein geschliffener Diamant", durch ein Privatleben verwahrlost, das einem "trübem Schlammloch" gleicht. Die kühl-kalkulierend und entschlossen handelnde Philosophieprofessorin ist eine typische Thea-Dorn-Figur. Dorn:

    Sie ist eine sehr isolierte Figur, extrem rationale Figur. Sie ist beinahe schon die Karrikatur des philosophisch rationalen Menschen. Und das ist der Witz bei der ganzen Geschichte, dass der Versuch gemacht wird, ein scheinbar sehr irrationales Vorhaben wie einen Amoklauf, den philosophisch rational zu begründen, vorzubereiten, durchzuführen.

    Die Texte des Bandes Ultima Ratio sind bereits in Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften erschienen, und die erzählerische Qualität der grandiosen Titelerzählung wird leider in den anderen Geschichten nicht mehr erreicht. In sehr kurzen Short Storys werden Männer, aus welchen Gründen auch immer, mit Reizwäsche stranguliert, in Massageöl geröstet oder bis zum Herzversagen sexuell stimuliert. Nur die abgedrehte Hunde-Kidnapping-Story "Venus mit Hund" zeigt mit ihrem surrealen Schluss und den Dorn-typischen satirischen Milieubeschreibungen, das Talent der Autorin, Figuren bis zur Kenntlichkeit zu karikieren und der Handlung eine überraschende Wendung zu geben. Die Kolumnen, die Thea Dorn für den Berliner Tagesspiegel geschrieben hat, ergänzen auf teilweise recht amüsante Weise die erzählerischen Texte. So reflektiert sie über die geschlechtsspezifischen Unterschiede von männlichen und weiblichen Mördern und zeigt sich in einem offenen Brief an Hannibal Lecter durchaus beeindruckt von dessen Konsequenz, "Menschlich-Allzumenschliches" mit "Mitteln der Chirurgie" zu überwinden. Überhaupt scheint es, als interessiere sich Theo Dorn seit ihrem Roman "Hirnkönigin", in dem humanistisch gebildete Männer von einer Serienmörderin enthauptet werden, mehr für die Täter- als für die Ermittler- oder gar für Opferperspektive. Dorn:

    Also ich finde jetzt das reizvollere und wahrscheinlich auch schwierigere Projekt, mich den Täterinnen zuzuwenden und dabei Figuren zu schaffen, denen es hoffentlich gelingt, aus der Männerphantasie rauszuhüpfen, also tatsächlich aus 'ner Frauenperspektive geschriebene Täterinnenfiguren, die weder dem Opferdiskurs verfallen, also sagen: Eigentlich sind wir ja doch die Opfer, deshalb müssen wir zu Täterinnen werden, noch irgendwie das Männerphantasma der kastrierenden Frau sind. Das ist ein sehr schmaler Grad und ein sehr schwieriges Feld, aber das finde ich im Augenblick als spannenderen Punkt.