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Ultraschall-Festival für Neue Musik 2017
Stimme im Fokus

Das Festival Ultraschall Berlin hat in den letzten fünf Tagen Liebhaber Neuer Musik nach Berlin gelockt. Themenschwerpunkt diesmal: Die Stimme in der neuen Musik.

Von Julia Kaiser | 23.01.2017
    Musik: Käser, Phonem-Performance
    "Unkontrollierbare Sprache" nennt Mischa Käser das Wesen seiner Performance zwischen Poesie und Gesang. Scheinbar sinnfrei und doch für jeden im Publikum emotional zu deuten ist das Gurgeln, Knarzen, Lippenflattern und Blubbern, mit dem der Schweizer Sprechlaute bündelt. Einem musikalischen Werkaufbau sei das Ganze dabei nicht fern, sagt Mischa Käser:
    "Ich mache einfach den Mund auf, das ist wie bei jemandem, der irgendeine Farbe nimmt und einfach irgendwie auf einem Papier herumkleckert. Und dann merkt er: Ah, das ergibt ja eine Form hier, also mache ich da mal weiter. Dann ist das Wichtige: Wie kriege ich das zusammen? Das hat ganz viel mit romantischen Zyklen zu tun, bei Schubert oder Schumann ist das nicht anders. Ganz einfach gesagt, hat man schnelle Sachen, nach soundso vielen schnellen muss wieder etwas Langsames kommen. Dichte, die sehr auf die Harmonik beschränkt sind, tiefschürfende… Da ist das zyklische Denken, oder wenn man noch weiter zurückgeht, das suitenhafte, bei dem man Tanzsätze hat, genau dasselbe."
    Das Festival Ultraschall Berlin beleuchtet in seinem diesjährigen Programm den Horizont der Stimme in der neuen Musik. Das geht los mit dem Kapitel "Neue Vokalpraktiken" aus Dieter Schnebels Sprech- und Gesangsschule von 1970, vorgetragen von dem Schauspieler Gerd Warmeling. Oder Liedzyklen von Wolfgang Rihm, interpretiert von Christoph Prégardien. Dem gegenüber stehen das textungebundene, geräuschhafte vokale Musizieren und das Annähern von Stimmakrobatik und kontinuierlich erweitertem Stimm-Handwerk, sagt einer der beiden Festivalleiter, Andreas Göbel:
    "In der neuen Musik hat sich, was das betrifft, viel entwickelt. Bis in die Spätromantik und das frühe 20. Jahrhundert hieß Vokalmusik: Ich brauche einen Text, eine Vorlage, die ich dann vertonen kann. Das ist in der neuen Musik heute längst komplett anders. Es kann sein, dass dem ein Text zugrunde liegt, aber "stimme" bezeichnet alles, was man mit der Stimme anfangen kann. Das können Laute sein, das kann auch nur die Stimme an sich sein, die überhaupt keinen Text hat, sondern als Instrument betrachtet wird, und die Sängerin/der Sänger formt".
    Musik: Newski, Pazifik Exil
    Wichtige Protagonisten bei der Weiterentwicklung der Stimme in der neuen Musik sind seit drei Jahrzehnten die Neuen Vokalsolisten Stuttgart. In Sergej Newskis "Pazifik Exil" verbinden sie Brieftexte von Thomas Mann mit einem Lamento, das auch in der alten Musik seinen Platz finden könnte.
    Musik: Newski, Pazifik Exil
    Wo neue Musik eigentlich herkommt und wie das gestern Neue heute nicht Konvention, sondern angereicherter Fundus werden kann, ist stets Untersuchungsgegenstand des Festivals Ultraschall Berlin. Diesmal ist dabei sogar ein Coup gelungen; ein Programm verbindet Uraufführungen von Solowerken für Schalmei mit neuer Musik für Countertenor. Das historische Holzblasinstrument und die hohe Männerstimme formen dabei ein zeitbefreites Zwiegespräch. Der Countertenor Daniel Gloger lässt schon seit mehreren Ultraschall-Jahren experimentierfreudige Komponisten über seine Stimme verfügen.
    "Ich bin ein Werkzeug, ein Werkzeug dafür, einerseits für die Idee, die spezielle Stimme des Barock, den Countertenor, zu untersuchen, was er in der neuen Musik bringen kann und andererseits Werkzeug für die Komponisten und Komponistinnen, alle möglichen Arten des Belebens von Gesang außerhalb des klassischen Belcanto zu untersuchen. Immer wieder zu sehen, welche Stücke, welche Strukturen sind besonders geeignet. Wie zum Beispiel der Bockstriller, der Ziegenbockstriller, den Monteverdi benutzt hat und der in der neuen Musik eben bei solchen Werken wie hier eine wichtige Rolle spielt, weil er sofort eine Intensität mit sich bringt, ohne dabei eine bestimmte Musik anzurühren."
    Musik: Ronchetti
    Nach neuen Einsatzmöglichkeiten für die menschliche Stimme suchen Komponisten der letzten 50 Jahre nicht nur in Deutschland oder Frankreich. Dass es aber in Ländern wie Serbien, Slowenien und Griechenland nicht nur Labore für elektronische Musik gab, sondern auch neue Vokalkompositionen geschrieben wurden, ist heute weitgehend unbekannt. Das erst vor drei Jahren gegründete Vokalensemble PHOENIX16 hat eine musikalische Balkan-Route zusammengestellt. Die Auswahl an Werken war groß; handverlesen hat die Solistengruppe ausgesucht, was zu ihren Stimmen passt. Etwa ein Werk des slowenischen Komponisten Ivo Malec für 12 Stimmen, "Dodecameron", erklärt der Künstlerische Leiter von POENIX16, Timo Kreuser.
    "Es sind mit Sicherheit immer Stücke, die sehr die Möglichkeit geben, dass die Sänger sehr persönlich sein können. Du hast 12 Charaktere da sitzen und ich will die auch immer sehen, weil ich das aufregend finde, wenn die zusammen loslegen. Stücke, die wirklich zwölf so bieten und nicht nur eine Chorfassung für zwölf Sänger sind. Ich kann an einer Partitur sofort sehen, ob die zu Phoenix passt. Der emotionale Zugang, der klangliche Zugang, manchmal auch die Extreme, die eine Komposition herausfordert. Manchmal sehe ich: Ich habe die drei Sängerinnen, die das sofort machen können! Oder in dem Fall von Malec, ich habe die Bässe, die dieses Solo in der Mitte abziehen können. Bei denen das nicht komisch wirkt, sondern die das in sich drin haben. Die musst Du nur anschalten, dann machen die los."
    Musik: Phoenix16
    Das Ensemble PHOENIX16 ist ein Hoffnungsträger der neuen Musikszene. Es ist seit der Auflösung der Groupe Vocale de France vor gut 20 Jahren das erste Profi-Ensemble, das sich neuer Vokalmusik für 8 bis 12 Stimmen widmet und wird noch viele historische Schätze der letzten 50 Jahre heben. Vor allem aber sind die Sängerinnen und Sänger von PHOENIX16 so jung, dass neue Musik wieder als cool und zeitgemäß gelten kann. Dem Festival Ultraschall Berlin haben neue Experimentierfelder und kraftvolle Ensembles in diesem Jahr einen fabelhaften Frische-Kick gegeben, der neugierig macht auf den 20. Festivaljahrgang 2018.