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Umbruch in der Provinz

Historische Romane stehen in Frankreich oft genug auf der Bestsellerliste. Zu den preisgekrönten Erfolgsautoren gehört der Altphilologe François Vallejo aus Le Havre. Sein Roman "Monsieur Lambert und die Ordnung der Welt" entführt uns - zur Zeit der Revolution von 1848 - in den Westen Frankreichs, ins Hinterland, wo es zu einem ungewöhnlichen Duell zwischen einem Wildhüter und seinem Schlossherrn kommt.

Von Christoph Vormweg | 20.06.2008
    Ein französischer Revolutionsroman, der uns nicht nach Paris entführt, gleicht einem Kriegsroman ohne Frontgemetzel. Gerade die Distanz zum Hauptgeschehen aber kann aufschlussreich sein. Denn zeitversetzt und bruchstückhaft finden die großen Umwälzungen auch in der hintersten Provinz statt: Etwa auf jenem abgelegenen Landgut in der Normandie, wo der Baron de l´Aubépine 1848 das väterliche Erbe antritt. Der neue Herr entpuppt sich als Revolutionär und Gleichheitsapostel. Er hat seinen autoritären Vater gehasst und entlässt seine Bediensteten - mit Ausnahme von Wildhüter Lambert, der allein die Meute der Schlosshunde bändigen kann.

    "Das ist ein Mann, der in der Sicherheit der traditionellen Herrschaft gelebt hat: mit einem standesbewussten Herrn, der ihn auf seinen Platz verwies. Die Möglichkeit der Freiheit macht ihm Angst. Denn die Freiheit, die ihm der neue Herr vorschlägt, ist genau die gleiche, die dieser selbst genießt. Das macht Lambert kopflos. Ihm gegenüber befindet sich eine Herrschaft, die keine Herrschaft mehr ausübt. Hier liegt, glaube ich, die große Schwierigkeit: Wenn Machtgrenzen durcheinander geraten, wenn man nicht mehr weiß, wer was will, wer was tut. In diesem Moment gibt es keine Orientierungspunkte mehr. Und so drängt die Angst Lambert zum Handeln, zur Anwendung von Gewalt, zur Grausamkeit. Und das gegen seinen Willen. Denn Lambert will nicht grausam sein. Es ist die Freiheit, die ihn dazu zwingt."

    François Vallejo erzählt in seinem sechsten Roman "Monsieur Lambert und die Ordnung der Dinge" das Psychodrama der klassischen Umbruchssituation. Mit viel Gespür für die Phasen der Irritation steigert er langsam die Spannung. Der Handelnde ist zunächst der neue mysteriöse Baron. Immer wieder verschwindet er, einmal sogar für Monate. Von den Frauen, die er für seine offensichtlich exzentrischen Liebesspiele anschleppt, werden einige nie wieder gesehen. Sein einziger Freund scheint ein gewisser Duplessis zu sein, der alle paar Monate auftaucht, um aus der Hauptstadt Neuigkeiten vom Stand der Revolution zu berichten. Doch das ist nicht alles im Spiel der Ahnungen und Zweifel, das - angesichts der Hundemeute, die Lambert dirigiert - stets bedrohliche Züge hat. Denn der Baron hat auch seine positiven Seiten. Er gibt sich weltoffen, ja hilfsbereit - so, als Madame Lambert ihr zweites Kind bekommt und er den Arzt ersetzt.

    "Für mich lag die Herausforderung darin, unterschiedliche Stimmen zur Geltung zu bringen, das heißt die Geschichte von außen, von einem Erzähler schildern zu lassen, der andere Stimmen vergegenwärtigt: vor allem die des Wildhüters Lambert, aus dessen Sicht der Großteil der Szenen beschrieben wird. Es gibt drei große Perspektiven: die des Erzählers, die Lamberts und die aller übrigen. Dialog-Markierungen gibt es aber nicht. Das Buch schreitet in einer Bewegung voran, bei der wir nicht ganz genau wissen, wer da spricht. Die Abgrenzungen zwischen den Personen bleiben - genauso wie die politischen Regeln und die Orte - unscharf. Letztendlich ist das ein Roman über die Unschärfe."

    Die traditionellen Lebensmuster stehen vor dem Ausverkauf. Lambert erfährt das schmerzlich am Verhalten seiner pubertierenden Tochter Madeleine, die sich immer mehr aus der väterlichen Dominanz löst. Kampflos mag der Wildhüter die alte Ordnung der Welt aber nicht preiszugeben. Als ihn der Baron bittet, mit zu der Kanalinsel zu segeln, auf die sein Idol, der Großschriftsteller Victor Hugo nach dem Scheitern der Revolution emigriert ist, stellt sich Lambert quer. Durch seine Gewalttätigkeit entwickelt die Schlossrevolution eine unberechenbare Eigendynamik - bis der Baron plötzlich verschwindet. François Vallejo:

    "Ich habe etliche Fragen offen gelassen: so die nach den Taten des Barons. Ist er nun ein Krimineller oder nicht? Hat er sein Verschwinden gewollt, ja provoziert? Oder ist er zum Opfer geworden? Diese Ungewissheiten passen zur Unschärfe der ganzen Geschichte. Wir wissen nie, wer was genau tut, wer was genau denkt. Das ist die Kardinalfrage: Was denkt jeder wirklich? Und jede Figur versucht ja, sich einen Reim auf all das zu machen."

    Den Unklarheiten in den Köpfen stellt François Vallejo in seinem Roman "Monsieur Lambert und die Ordnung der Welt" das Handfeste des Alltäglichen gegenüber: die sinnliche Beschreibung der Natur, des Waldes, der Hunde, der Jagd. So fühlt man sich als Leser einerseits einer permanenten Beunruhigung ausgesetzt, andererseits geerdet. In diesem Zwiespalt liegt der Reiz. Dieser intelligente historische Roman zieht den Leser in eine ferne Epoche hinein und weist gleichzeitig über sie hinaus: bis in unsere Gegenwart. Das spannende Psychoduell zwischen dem Ex-Herrn, der keine Knechte mehr will, und dem Knecht, der seine alte Unterordnung zurücksehnt, reizt das Universelle aus, das jede revolutionäre Umbruchssituation mit seinen Gewalttätigkeiten in sich birgt. Und das in einer kompakten, zügig erzählten, durch die offengehaltenen Dialogsituationen immer eigenwilligen, immer verunsichernden Prosa.

    François Vallejo: Monsieur Lambert und die Ordnung der Welt.
    Roman. Aus dem Französischen von Christel Gersch.
    Aufbau Verlag, Berlin 2008