Dienstag, 19. März 2024

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Umgang mit Pegida
"Helfen, Ängste zu überwinden"

Neonazis energisch bekämpfen – und auf die Bürger zugehen, die nicht wissen, was sie da tun. Diese Reaktion auf die Pegida-Proteste empfiehlt Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Die Politik müsse besser erklären, warum wir Zuwanderung brauchen, sagte der SPD-Politiker im DLF.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Bettina Klein | 15.12.2014
    Wolfgang Thierse
    Wolfgang Thierse war von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestages und bis 2013 dessen Vizepräsident. (Imago/Future Image/Gabsch)
    Man könne nicht Zehntausende kriminalisieren, sagte Wolfgang Thierse mit Blick auf die teils nachdrückliche Kritik seiner Parteikollegen an den Pegida-Protestmärschen. Bundesjustizminister Heiko Maas hatte die Demonstrationen am Montag als "Schande für Deutschland" bezeichnet. "So einfach ist die Antwort nicht", sagte Thierse.
    "Wir erleben, dass Pluralismus keine Idylle ist"
    In jedem Fall gelte es, den rechtsextremen Strömungen innerhalb der Protestmärsche energisch zu widersprechen. Zugleich müsse jedoch auf "Entheimatungsängste" eingegangen werden, die nicht zuletzt im Osten angesichts des gesellschaftlichen Wandels bestünden. "Jeden Tag hören die Menschen Nachrichten über islamistischen Terror, das erzeugt Ängste", so Thierse. Die Politik müsse helfen, diese zu überwinden.
    Beunruhigend sei eine "autoritäre Erlösungssehnsucht", die aus Pegida spreche. Dies erinnere an die frühen 90er Jahre; indes stimme ihn heute optimistischer, dass den Ressentiments breiterer Widerspruch entgegengebracht wird.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Das Bündnis Pegida will heute an diesem Montagabend wieder in Dresden demonstrieren, wie es auch Gegendemonstrationen geben wird.
    Am Telefon begrüße ich den langjährigen SPD-Politiker und früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse. Guten Morgen.
    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Frau Klein.
    Klein: Herr Thierse, der Ruf "Wir sind das Volk" schallt wieder durch die Straßen. Muss sich die Politik von diesem Volk distanzieren?
    Thierse: Zunächst einmal macht es mich richtig wütend, dass jener Ruf, den wir im Herbst 1989 auf die Straße getragen haben und der sich gegen eine diktatorische Macht richtete, die SED-Herrschaft, dass er heute wieder verwendet wird, und zwar durchaus missbräuchlich für ganz andere Zwecke. Und natürlich muss Politik darauf reagieren, selbstverständlich.
    "Wir brauchen das wirkliche Gespräch"
    Klein: Nun ist aber die Frage, Verständnis zeigen oder Ablehnung. Die ersten Reaktionen waren komplett ablehnend. Wir haben heute Morgen auch von Justizminister Heiko Maas lesen können, das sei eine Schande für Deutschland, man müsse dagegen ein Bündnis aufbringen. Andere Stimmen gerade aus Unions-Parteien sagen, wir müssen mit den Leuten reden, anders kommen wir nicht weiter, wir brauchen den Dialog. Was empfehlen Sie?
    Thierse: Nun, so einfach ist die Antwort nicht, denn die Zusammensetzung derer, die da auf die Straße gehen, ist ja gewiss uneinheitlich, soweit man das beobachten kann. Da gibt es wirkliche Neonazis, da sind Hooligans, Rechtsextreme, Rassisten dabei, viele Frustrierte, Wütende und eine Menge Menschen, die Ängste haben höchst unterschiedlicher Art, Verunsicherungsängste, Ängste vor Verlust der Heimat, also eine Art von Entheimatungsängste, vor einer dramatisch sich verändernden Gesellschaft, die nicht Ja sagen können zur einfach Realität, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, dass es dafür Gründe gibt und dass diese Einwanderung dieses Land auch verändert, und das heißt, darauf muss man reagieren.
    Wir brauchen das wirkliche Gespräch in dieser Gesellschaft, wie dieses Land sich verändert, dass es sich verändert, in welche Richtung wir es miteinander verändern wollen.
    Klein: Ich verstehe Sie richtig, Sie plädieren ebenfalls eher für Dialog und nicht dafür, diese ganze Bewegung und die Demonstrationen in irgendeiner Form zu kriminalisieren?
    Thierse: Kriminalisieren - man wird nicht 10.000 kriminalisieren können. Aber man muss ganz klar unterscheiden. Man muss sich schon richtig davon abgrenzen. Wer sich instrumentalisieren lässt zu ausländerfeindlichen Demonstrationen, der muss mit unserem energischen Widerspruch rechnen. Aber die Politik muss doch argumentieren, sie muss erklären, warum Flüchtlinge zu uns kommen, warum wir auch Einwanderer brauchen. "Zur Verteidigung des Abendlandes" ist ja ohnehin eine ganz überraschende Wendung propagandistischer Art. Dass da Menschen das Abendland verteidigen, dass zur Verteidigung des Abendlandes gehört, dass wir gerade mit notleidenden Menschen freundlich umgehen müssen, dass es zum christlichen Abendland gehört, "Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan", so steht es in der Bibel, daran muss man gefälligst erinnern.
    Also: Energisch widersprechen, Neonazis, Hooligans, Rechtsextremisten bekämpfen und diejenigen Bürger, die nicht wirklich begreifen wollen oder begreifen können, was sie da tun, wofür sie sich missbrauchen lassen, auf die muss man zugehen. Ängste bekämpft man nicht und überwindet man nicht, indem man sie beschimpft, sondern indem man sie ernst nimmt, indem man argumentiert, indem man Vorurteile zu überwinden versucht und so weiter und so fort.
    Klein: Herr Thierse, wir haben es mit einem sehr komplexen Phänomen vermutlich zu tun, mit einer heterogenen Bewegung, und viele Ebenen, viele Aspekte mischen sich da, die man nacheinander sicherlich mal abarbeiten sollte. Und dazu gehört auch die Frage, weshalb diese Ängste so stark gerade offenbar in Ostdeutschland immer noch oder wieder, wie auch immer, verbreitet sind und weshalb gerade in Dresden. Was ist Ihre Antwort auf diese Frage?
    Teilnehmer einer Kundgebung der Pegida in Dresden (Sachsen) halten am 08.12.2014 Transparente in die Höhe.
    10.000 Demonstranten in Dresden haben die Politik aufgeschreckt. (picture alliance / dpa / Arno Burg)
    "Pluralismus ist keine Idylle"
    Thierse: Erstens glaube ich nicht, dass es nur ein ostdeutsches Phänomen ist. Aber es ist ja sichtbar, dass in Dresden der Ansturm am größten ist. Zunächst muss man das ja ernst nehmen. Wir haben gerade eine Nachricht gehört: wieder eine islamistische Straftat. Weit weg, aber jeden Abend, jeden Tag hören die Menschen Nachrichten über islamistischen Terror. Das erzeugt Ängste und beeinträchtigt offensichtlich das Differenzierungsvermögen von Menschen, nämlich zu unterscheiden zwischen dem Islam und seinem Missbrauch zur Begründung von Gewalt. Das verlangt offensichtlich eine Anstrengung.
    Zweitens: Bezogen auf Ostdeutschland wird man immer noch sagen müssen, dass die Fähigkeit, die Erfahrung im Umgang mit Differenzen, mit kultureller Fremdheit, mit Verschiedenheiten, dass die geringer ist. Wir erleben eben, dass Pluralismus keine Idylle ist, sondern etwas sehr, sehr anstrengendes. Den Umgang mit Verschiedenheiten muss man immer wieder jeden Tag neu lernen.
    Ich will ausdrücklich daran erinnern: Mich erinnert dort ja manches an die Zeit in den ersten 90er-Jahren: Hoyerswerda, Rostock, Solingen, Mölln. Auch da gab es solche heftige Reaktionen. Was mich jetzt optimistisch stimmt ist, dass es viel mehr Menschen gibt, die auf die Straße gehen dagegen, die ihre Straßen und Plätze verteidigen, die sagen, das Abendland zu verteidigen heißt vor allem Moral, Nächstenliebe, Menschenfreundlichkeit, Solidarität verteidigen. Das ist ein großer Unterschied.
    Klein: Ich würde gerne noch mal kurz nachfragen, Herr Thierse, weil ich nicht ganz sicher bin, ob ich das richtig verstanden habe. Sie machen die Tatsache, dass das sozusagen sehr stark in Ostdeutschland, in Dresden ist, daran auch fest, dass es in der DDR sehr wenig bis gar keine Erfahrung mit fremden Kulturen, sage ich mal, gab, die im Land gelebt haben. Oder machen Sie es eher an sozialen Phänomenen fest, an einer Abstiegsangst?
    Thierse: Immer an beidem, immer an beidem. Es gibt soziale Abstiegsängste und es gibt Gefühle sozialer Verunsicherung oder so einer Entheimatungsangst, Angst vor Fremden, und man reagiert diffus darauf. Aber indem ich das beschreibe, will ich ja nicht alles entschuldigen. Das wäre ja ein großes Missverständnis. Sondern ich finde, wir müssen Menschen helfen, ihre Angst zu überwinden, und Ängste überwindet man wie gesagt nicht durch Beschimpfungen. Aber es muss zugleich auch eine klare Einhaltung der Regeln, des menschlichen Anstandes, der Rechtsstaatlichkeit gelten, und vor allem Politik muss auch immer erklären. Wenn wir Flüchtlinge aufzunehmen haben, und die haben wir aufzunehmen, dann muss man das mit den Bürgern vor Ort immer besprechen, damit Ängste nicht wachsen, sondern geringer werden, und man muss all diejenigen unterstützen, die sich solidarisch zu Flüchtlingen verhalten, und das gibt es ja zum Glück in vielen Ecken Deutschlands.
    Klein: Herr Thierse, ich glaube, das ist jetzt angekommen. Die Politik muss das Gespräch suchen, sie muss mehr erklären. Ich glaube, die Botschaft ist angekommen. Wir versuchen ja alle noch, Erklärungen dafür zu finden, weshalb der Zulauf doch groß ist, und wie wir jetzt auch hören, sind da jetzt Rechtsextreme nach Auffassung des Verfassungsschutzes offensichtlich nicht zunehmend dabei, dort Einfluss zu gewinnen. Ich habe das Positionspapier von Pegida in der Hand und ein Punkt ist da zum Beispiel: Pegida ist für den Widerstand gegen eine frauenfeindliche, gewaltbetonte politische Ideologie, aber nicht gegen hier lebende, sich integrierende Muslime. Da sagen einige, Pegida hätte Kreide geschluckt, aber das ist hier doch etwas, womit sich möglicherweise viele in der Gesellschaft identifizieren können.
    Thierse: Das ist wohl so und das ist das eine, was da zu Papier gebracht wird. Und das andere ist, was wir von diesen Demonstrationen selber hören. Da wird ja deutlich eine Art von geradezu brutalen Ressentiments gegen die Politik, gegen die Demokratie, übrigens auch gegen die Medien, und das ist das Beunruhigende daran, dass man sich wehrt gegen islamistische Gefahren, die allerdings in Dresden ja deutlich geringer sind als in anderen Städten in Deutschland. Das könnte man ja noch nachvollziehen, aber es ist ja eigentlich dann doch schlimmer. Auf der Straße artikuliert sich noch etwas anderes, und dagegen müssen die anderen Bürger sich wehren. Das ist, glaube ich, nicht nur Sache der Politik.
    "Angemessene Reaktion ist die Diskussion"
    Klein: Herr Thierse, wir haben nicht mehr so sehr viel Zeit. Ich würde noch mal kurz zwei weitere Punkte ansprechen. Islamfeindlichkeit ist das eine, aber es gibt auch ganz stark antikapitalistische Töne und Parolen, die man hört und sieht, wie auch eine starke Russlandfreundlichkeit teilweise. Das heißt, kommt man dann mit der Beschreibung Rechtsextreme weiter, oder haben wir es mit Unmut auf beiden Seiten des politischen Spektrums oder am Ende des Spektrums zu tun?
    Thierse: Ich sagte ja schon, es ist ein großes Gemisch. Höchst uneinheitliche Menschen finden sich zusammen mit uneinheitlichen Ansichten und Gefühlen, und sofern sie politisch sind und nicht nur antipolitisch, muss man politisch darauf reagieren, und die angemessene Reaktion ist die Diskussion miteinander, aber auch die klare Ziehung von Grenzen. Sofern es sich um Gefühle handelt, die schlicht auch gegen die Demokratie, gegen den Rechtsstaat sich richten, muss der Staat und müssen die Bürger sich wehren. Darin wird ja auch etwas deutlich, was mich sehr beunruhigt: Sozusagen eine Art autoritäre Erlösungssehnsucht, ein Problemlösungsbedürfnis, es soll alles ganz schnell und radikal gehen und die Demokratie wird das nicht bringen, und die Probleme sind nicht so, dass man sie mit einem Donnerschlag, mit einem Schwertstreich lösen könnte.
    Klein: Die Einordnung heute Morgen bei uns von Wolfgang Thierse, langjähriger SPD-Politiker und früherer Bundestagspräsident. Das Thema wird uns sicherlich noch eine Zeit begleiten, vermute ich. Vielen Dank, Herr Thierse, heute Morgen für das Gespräch im Deutschlandfunk.
    Thierse: Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.