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"Umgelegt und wieder rausgeschmissen"

Bis zum Frühjahr 1945 gerieten etwa eine Million Angehörige von Wehrmacht und Waffen-SS in britische oder amerikanische Gefangenschaft. Einige Tausend wurden von den Alliierten abgehört. Diese Berichte sind jetzt nachzulesen - ein eindringliches Zeitzeugnis.

Von Martin Hubert | 11.04.2011
    "Sprachlos" habe ihn die Nachricht von diesen Dokumenten gemacht, schreibt im Prolog zu der Studie Harald Welzer, der Sozialpsychologe und Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Entdeckt hat die Dokumente überwiegend sein Co-Autor, der Historiker Sönke Neitzel: 150.000 Seiten heimlich mitprotokollierter Gespräche von über 13.000 deutschen und einigen hundert italienischen Kriegsgefangenen in britischen und amerikanischen Lagern. Die beiden Autoren zitieren ausführlich aus ihrem Material. Das macht auch den Leser nicht selten sprachlos. Denn die überwiegend identifizierten deutschen Gefangenen reden meist sehr offen, ohne historische Distanz, politische Vorsicht, ohne moralischen Druck und ethische Bedenken. Sie sprechen über eigene Heldentaten und die des Feindes, über Hitler und die militärische Führung. Über ihre Hoffnung und Ängste, über militärische Taktik und Technik, Sexualität, Judenvernichtung und Kriegsverbrechen. Wie der Kriegsgefangene Müller, ein Gefreiter:

    "Als ich in Charkow war, war alles bis in die Innenstadt zerstört. Eine herrliche Stadt, eine herrliche Erinnerung. Alle Leute sprachen etwas deutsch. Auch in Taganrog - herrliche Kinos und wundervolle Strandcafés. Schön ist die Landschaft - im LKW war ich überall. Da sah man nichts als Frauen, die Pflichtarbeitsdienst machten. Straßen haben die gemacht, mordsschöne Mädels - da sind wir vorbeigefahren, haben sie einfach in den PKW hereingerissen, umgelegt und wieder rausgeschmissen."

    Touristische Gefühle und Verbrechen, Arglosigkeit und Brutalität. Die Grenzen zwischen ihnen, so Sönke Neitzel und Harald Welzer, verwischen sich in diesen Alltagsgesprächen von Soldaten über die extreme Situation des Krieges.

    "Nichts von der berichteten Gewalt gegen andere verstößt gegen Erwartungen der Zuhörer. Geschichten vom Erschießen, Vergewaltigen, Rauben gehören in den Alltagsbereich der Kriegserzählungen; fast nie kommt es bei solchen Themen zu Auseinandersetzungen, moralischen Einwänden, gar Streitigkeiten. Die Gespräche, so gewaltvoll ihre Inhalte oft sind, verlaufen stets harmonisch; die Soldaten verstehen sich:"

    Etwa dann, wenn der Jagdflieger Fischer von seinen Einsätzen über England erzählt.

    "In Folkestone haben wir einmal den Bahnhof angegriffen, gerade ein großer Personenzug am Ausfahren, zack, die Bombe in den Zug hinein. Junge, Junge! (Gelächter)."

    Es liegt nahe, solche Texte moralisierend zu bewerten. Neitzel und Welzer jedoch verweigern sich diesem Impuls entschieden. Sie möchten stattdessen verstehen, wodurch das Reden, Denken und Tun dieser Soldaten stärker geprägt ist: durch den Referenzrahmen des Krieges, also durch seine Regeln, Mechanismen und Normen – oder durch den Einfluss der nationalsozialistischen Ideologie. Dementsprechend haben sie die Protokolle akribisch durchgearbeitet, und dabei die Aussagen nach Kriterien geordnet wie "Abschießen", "Ästhetik des Zerstörens"; "Führerglaube", "Jagd", "Töten als Besatzer", "Anständigkeit", "Waffen-SS" oder "Vernichtung".

    "Die Judenvernichtung ist Bestandteil der Wissenswelt der Soldaten, und zwar in weit höherem Maße, als es die jüngeren Untersuchungen zum Thema erwarten lassen. Zweifellos haben nicht alle alles gewusst, aber in den Abhörprotokollen kommen sämtliche Details der Vernichtung vor, bis hin zu den Tötungen durch Kohlenmonoxid in Lastwagen. Darüber hinaus werden eine Menge Gerüchte über die Vernichtung erzählt, weshalb man vor diesem Hintergrund davon ausgehen kann, dass fast jeder wusste, dass die Juden umgebracht wurden. Die meisten Gespräche haben auch den Unterton, hier seien Grenzen überschritten worden. Jedoch kritisieren die Soldaten meistens nicht die Tatsache, dass der Massenmord tatsächlich stattfindet, sondern die Umstände seiner Durchführung."

    Trotz solcher Befunde bewerten die beiden Autoren die Taten dieser Soldaten nur in zwei Punkten als spezifisch nationalsozialistisch: wenn sie absichtlich und ohne jede militärische Bedrohung Juden oder sowjetische Kriegsgefangene umbrachten. Allein hier dominiere der Einfluss der nationalsozialistischen Ideologie und ihres Rassismus. Alles andere - Rauben, Schänden, das Töten von Zivilisten - sei dem Referenzrahmen des Krieges geschuldet. Sie schreiben:

    "Die Gewalt, die Wehrmachtssoldaten ausüben, ist auch nicht "nationalsozialistischer" als die Gewalt, die etwa britische oder amerikanische Soldaten anwenden. Der Krieg lieferte auch eine Menge Wehrmachtssoldaten als amtshelfende Vollstrecker, aber die Judenvernichtung machte eben nicht den Krieg aus."

    Damit nimmt die Studie in der Auseinandersetzung, ob deutsche Wehrmachtssoldaten willige Vollstrecker nationalsozialistischer Weltanschauung waren oder nur pflichtbewusste Soldaten, eine differenzierte Position ein: Es gibt Überschneidungen mit der NS-Ideologie und es gibt exzessive Gewalt. Trotzdem lässt sich das Handeln der Soldaten für die Autoren überwiegend aus der Logik des Krieges erklären, genauer gesagt, der des Militärischen:

    "Durchgängig sollte deutlich geworden sein, dass für die basale Orientierung der Wehrmachtsoldaten – also für ihre Wahrnehmung und Interpretation dessen, was vor sich geht – das militärische Wertesystem und die soziale Nahwelt von entscheidender Bedeutung ist: Ideologie, Herkunft, Bildungsstand, Lebensalter, Dienstrang und Waffengattung differenzieren in dieser grundlegenden Hinsicht kaum. Die Wehrmacht und der von ihr geführte Krieg wurden selbst dann nicht in Frage gestellt, wenn man davon ausging, dass der Kampf bereits verloren war, oder wenn man sich über Verbrechen empörte."

    Die klare Unterscheidung der Autoren zwischen dem geringeren Einfluss der NS-Ideologie und der prägenden Logik des Krieges wird im Detail noch diskutiert werden müssen. Auch deshalb, weil Neitzel und Welzer Begriffe wie "Ideologie" oder "basale Orientierung" nicht sehr scharf definieren. So kann strittig bleiben, inwieweit nur die Kriegsgefangenen ideologisch motiviert sind, die sich aktiv an der Judenvernichtung beteiligen oder auch diejenigen, die als relativ Unpolitische über die schöne Zeit unter dem Führer schwadronieren oder wo genau die basale Wertorientierung am Kriegshandwerk aufhört und das Kriegsverbrechen anfängt. Das führt zu weiteren Fragen. Wann und in welchem Ausmaß war der einzelne Kriegsgefangene eher ein Antreiber oder ein Getriebener der Entwicklung. Inwieweit hat er "nur Schuld als Agent des Krieges auf sich geladen", inwiefern war er auch als nationalsozialistischer Täter verantwortlich?

    Die Antworten darauf lassen sich wohl nur in Einzelfallstudien finden, die die Autoren bisher noch nicht durchführen konnten. Dennoch: Sönke Neitzels und Harald Welzers Buch ist gerade deshalb so produktiv und aufschlussreich, weil es dazu zwingt, solche Fragen genauer zu stellen. Es deutet den Krieg der Wehrmacht eben konsequent nicht vom Zusammenhang der Judenvernichtung und des nationalsozialistischen Schreckens her. Sondern sie macht deutlich, dass soziales Handeln komplex ist und einen differenzierten Blick auf die Faktoren erfordert, die es prägen. Der Alltag, die soziale Nahwelt und ihre sozialpsychologischen Mechanismen gehören dazu - auch wenn es sich um den Kampf im Zweiten Weltkrieg handelt. In Bezug darauf präsentiert das Buch "Soldaten" dem Leser eine bestürzende Innenschau, die den Blick maßgeblich erweitert.

    Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten.
    Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben.
    S. Fischer Verlag, 528 Seiten, Euro 22,95
    ISBN 978-3-100-89434-2