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Umkämpfte Bergdörfer und geschundene Städte

Die türkische Schriftstellerin Oya Baydar, 1940 geboren, zählte zu den Gründungsmitgliedern der Sozialistischen Arbeiterpartei und verbrachte nach dem Militärputsch von 1980 viele Jahre im deutschen Exil. 1992 kehrte sie in die Türkei zurück, wo sie seitdem als Autorin, Publizistin und Friedensaktivistin lebt. Zur Buchmesse mit dem Gastland Türkei stellt Baydar ihren neuen Roman "Verlorene Worte" erstmals in Deutschland vor.

Von Maike Albath | 12.10.2008
    Ömer Eren steckt in der Krise. Dabei fehlt es ihm an nichts. Er ist ein Mann in den besten Jahren, Schriftsteller von Beruf, berühmt und geschätzt, Vater eines erwachsenen Sohnes, verheiratet mit einer begehrenswerten Frau namens Elif, einer Biologin, ebenfalls eine Kapazität auf ihrem Gebiet. Obwohl Ömer Eren im ganzen Land bekannt ist und einen Roman nach dem anderen auf der Bestsellerliste platziert, stimmt etwas nicht.

    "Ich suchte ein Wort, ich hörte eine Stimme ... Ich jagte hinter dem Wort her. Dem Wort, das ich achtlos dahingeworfen, großzügig verschwendet, in Seifenblasen hineingepustet und somit aufgebraucht hatte; jenem ersten Satz, mit dem die Geschichte beginnt, fortfährt und endet. Der Satz, der sich einfach nicht niederschreiben lässt, der sich genau in dem Moment, in dem ich ihn eingefangen zu haben glaubte, in der federhaften Leichtigkeit der Gedanken verflüchtigt. Das verlorene Wort ..."

    Ömer Erens Schreibkrise ist der Ausgangspunkt des neuen Romans der türkischen Schriftstellerin Oya Baydar, die mit Verlorene Worte zum ersten Mal in deutscher Sprache erscheint. Sie erzählt die Geschichte einer Suche. Getrieben von der Sehnsucht nach Inspiration tritt ihr Held eine Reise in den Osten des Landes an, in den östlichsten Osten, wie er es nennt, eine Gegend, die er nicht kennt und über die er kaum etwas weiß. Es ist das Gebiet der Kurden - umkämpfte Bergdörfer und geschundene Städte. Ömer Eren bildet das Gravitationszentrum von Verlorene Worte, aber Baydar stellt dem ausgebrannten Schriftsteller weitere Hauptfiguren zur Seite, lässt den Roman an drei Schauplätzen gleichzeitig spielen und entrollt mehrere Erzählfäden, die sich überkreuzen und miteinander verweben.

    Es gibt Ömers beruflich hoch ambitionierte und erfolgreiche Ehefrau Elif, die auf einen Kongress nach Skandinavien reist, unter der schleichenden Entfremdung von ihrem Mann leidet und sich entscheidet, ihren gemeinsamen Sohn Deniz in Norwegen zu besuchen. Während sich sein Vater auf die Suche nach den Wurzeln seiner Phantasie begibt, befindet sich Deniz auf der Flucht. Er entzieht sich den ehrgeizigen Berufsplänen seiner Eltern, hat seine Beschäftigung als Fotoreporter im Irak an den Nagel gehängt, ist auf eine norwegische Insel desertiert und führt ein unspektakuläres Leben als Familienvater und Fischer. Aber auch er ist ein Verlorener, denn er muss den Tod seiner Frau verkraften. Die Norwegerin Ulla kam bei einem Bombenattentat in Istanbul ums Leben.

    Der dritte Handlungsstrang des Romans entspinnt sich um ein junges Paar aus Südostanatolien, die Kurden Mahmut und Zelal. Ömer Eren begegnet ihnen am Busbahnhof von Ankara, und eigentlich ist es ihr Schicksal, dass zum Auslöser seiner Abfahrt in die fremden Landesteile wird. Der Schriftsteller wollte gerade den Nachtbus zurück nach Istanbul nehmen, als bei Handgreiflichkeiten von fanatischen Nationalisten ein Schuss fällt und Zelal von einem Querschläger in den Bauch getroffen wird. Aus einem Impuls heraus fährt Eren mit ins Krankenhaus und sorgt dafür, dass die junge Frau behandelt wird. Der Schuss hat das Kind getötet, mit dem sie schwanger war, aber ihr Leben kann gerettet werden. Auf dem Krankenhausflur versucht Ömer, Näheres über das Paar in Erfahrung zu bringen.

    "Warum, vor wem wart ihr auf der Flucht, Sohn?" Er wundert sich, dass er den Jungen mit "Sohn" anspricht. Nur Deniz habe ich Sohn genannt! "Vor dem Tod", zischt Mahmut zwischen den Zähnen hervor. "Den Soldaten, der Gendarmerie, der Organisation, dem Staat, dem Ehrenmord... Vor allem, was du bei uns so kennst. Weil das nämlich den Tod bringt." "Wo ist denn ‚bei uns'?" "In Brand gesteckte Dörfer, als Hinterhalt benutzte Weiler, Minen, unaufgeklärte Morde, Ehrenkodex, Berge, allen voran die Berge. Alles bedeutet Tod."

    Es ist ein beinahe episches Panorama, dass Oya Baydar entfaltet, immer wieder geht es um Vertreibung, Verrat und Flucht. Wegen kurdischer Volkslieder, die Mahmut eines Nachts aus Übermut angestimmt hatte, war er von der Universität verwiesen worden. Für seine Zukunft sah er keine andere Möglichkeit, als in die Berge zu gehen und sich bei den Rebellen der PKK zu verdingen. Doch nach und nach hatte er begonnen, an den Parolen der Anführer zu zweifeln. Als er bei einem Gefecht verwundet wurde, ergriff er die Chance, sich von seiner Einheit zu entfernen und traf mitten im Wald auf Zelal. Die junge Frau befand sich in einer ähnlichen Lage. Nach einer Vergewaltigung hätte ihr Clan sie den Regeln des Ehrenkodex zufolge töten müssen, doch aus Mitleid ließ sie ihr Vater weglaufen.

    Anschaulich schildert die 1940 in Istanbul geborene Oya Baydar, die zur 68er Generation gehört und selbst eine politisch bewegte Biographie als Gründungsmitglied der sozialistischen Arbeiterpartei und Exilantin hat, die Zwangslage ihres Heldenpaares. Sie lässt Bilder aus Mahmuts und Zelals Kindheit einfließen, erzählt von zerstörten Dörfern, trauernden Müttern und den ehernen Pflichten der Söhne. Dank Ömer Eren, der für die Krankenhauskosten gerade steht und Mahmut im Haus eines Freundes unterbringt, nimmt der Weg des kurdischen Paares zunächst eine glückliche Wendung. Gleichzeitig gewinnen die Geschicke Ömers an Fahrt.

    Baydar entwickelt alle drei Handlungsstränge parallel weiter, verzichtet auf eine lineare Chronologie, wechselt von Ankara nach Norwegen und von dort in die kurdischen Berge, springt zurück in das Krankenhaus, wo Zelal ihrem Beschützer eine Reise nach Südostanatolien ans Herz legt, und hüpft auch auf der Zeitachse vor und zurück. Ömer Eren sitzt längst im Überlandbus Richtung Osten, während die vorangegangenen Geschehnisse aus der Retrospektive aufgefächert werden, es gibt Déjà-vus, Rückblenden, Verzögerungen und überraschende Wendungen. Natürlich handelt es sich um Erzähltechniken, die uns seit über zweihundert Jahren aus der europäischen Romantradition vertraut sind, aber nicht immer ist Baydar auf der Höhe ihrer anspruchsvollen Komposition. Mitunter haken die Scharniere der Erzählmaschinerie, es quietscht und rattert, und man hat den Eindruck, als schiebe die Autorin Kulissen hin und her. Vollkommen unmotiviert wirkt an manchen Stellen der Wechsel der Perspektive. Unvermittelt befindet sie sich plötzlich im Kopf ihrer Figuren und beginnt, in der Ich-Form zu sprechen, was ein oder zwei Abschnitte später ebenso unvermittelt wieder abgebrochen wird. Gedacht als ein Mittel, dem Personal größere Lebendigkeit zu verleihen, hat es eher den gegenteiligen Effekt und unterstreicht das Konstruierte der Handlung. Auch sprachlich ist Baydar manchmal etwas ungelenk und altbacken. Vor allem der mehrfach auffallende Gebrauch des Präteritums in der wörtlichen Rede wirkt künstlich und verleiht den Dialogen eine eigentümliche Schwere.

    Aber hat man die ersten neunzig Seiten überstanden und ist im Kosmos der türkischen Schriftstellerin heimisch geworden, gibt es eindringliche Szenen, die einem die Wirklichkeit der kurdischen Berge näher bringen. Oya Baydar versteht es, die Spannung zu schüren, sie bringt große Emotionen ins Spiel und lässt innere Verkrustungen aufbrechen. So bei Elif, die zum ersten Mal seit langem einen tieferen Kontakt zu ihrem Sohn herstellen kann. Aber auch Ömer wird sich der eigenen Vorurteile und Erstarrungen bewusst. Von dem Idealismus seiner Jugend, als er und seine Freunde für eine gerechtere Verfassung kämpften, ist nicht mehr viel übrig geblieben. Nach und nach begreift er, wie undifferenziert und beliebig seine Verlautbarungen über die Kurden bisher waren.

    Ömer Erens Erfahrungen in Ostanatolien sind für einen deutschen Leser besonders aufschlussreich. Oya Baydar vermeidet Klischees und simple Schuldzuschreibungen, sondern stellt die Komplexität der Verhältnisse dar. Ihr Held besucht zuerst Mahmuts Vater und reist dann in eine kleine Stadt weiter, wo eine entfernte Verwandte Mahmuts lebt, eine verwitwete Apothekerin. Jiyan heißt die junge Frau. Sie ist in dem Ort eine Respektsperson und gehört zu einem mächtigen Clan der Gegend.

    "Die Stadt hat sich in sich selbst zurückgezogen und ihre eigene Stimme erstickt. Insbesondere wenn das Licht früh von den Bergen eingefangen wird und die Nacht plötzlich hereinbricht, hört man in den sich eilig leerenden Straßen nur noch das Gebell der herumstreunenden Hunde, vereinzelte Schritte und von Zeit zu Zeit Schüsse, das Aufheulen von Sirenen, die wie ein Dolch nicht nur in die Nacht, nicht nur in die Stadt, sondern auch in die Herzen dringen. Keines dieser Geräusche ist die Stimme der Stadt. Als Ömer versucht hatte, Jiyan seinen Eindruck zu schildern, reagierte sie verletzt und aufbrausend zugleich: "Wir haben unsere Stimme verloren, unsere Stimme und unser Wort wurden zum Schweigen gebracht. Die tausendundeine Stimme unserer Plateaus und Ebenen, die Trommeln unserer Hochzeiten, die Totenklagen der Frauen, die Volkslieder der Bräute, die Gewehre der Jäger, die Rebellion unserer Sprache, unsere Freunde, unsere Trauer und vor allem unsere Hoffnung waren es, die unserer Stimme die Klangfarbe gaben. Unsere Stimme löste sich aus der Ebene, schwang sich hinauf auf die Plateaus und hallte in den Bergen wider. Sie mischte sich unter die Flüsse, passierte Mündungen, prallte gegen Felsabhänge und kehrte in die Stadt zurück, wurde zur Stimme der Stadt. Unsere Stimme ertönt nicht mehr, unser Flüstern erreicht die Berge nicht mehr, hallt nicht mehr wider, um fröhlicher, lautstärker zurück zu kehren. Jetzt kommen andere Stimmen in unsere Stadt: Die Stimme des Todes sollte man es nennen, doch der Tod hat keine Stimme. Und deshalb ist die Stadt stumm, sehr laut, aber stumm". Als er Jiyans hochtrabende, pompöse Reden das erste Mal hörte, die direkt aus einem Heldenepos zu stammen schienen, war er befremdet. Er hatte sie als kalkuliert und künstlich empfunden. Später hatte er sich daran gewöhnt und wurde beinahe süchtig danach."

    Oya Baydar, politisch als Gründerin einer Friedensinitiative für einen Ausgleich mit den Kurden engagiert, gibt in ihrem Roman keine Antwort auf die Kurdenfrage, und sie vermeidet eine Parteinahme. Stattdessen erzählt sie von dem Schmerz der Menschen, von der Trauer um eine verlorene Kultur, vom Fanatismus der Terrorgruppen, von der Hilflosigkeit der Repräsentanten des Staates, den martialischen Vergeltungsschlägen der Miliz und dem Vorgehen der Ordnungskräfte. Ohne dem Konflikt seine Bedeutung absprechen zu wollen, zeigt sie doch, wie absurd die Verhärtungen auf beiden Seiten sind und dass man über den ideologischen Auseinandersetzungen das alltägliche Leid der Bewohner vergisst.

    Fast nebenbei bietet uns Oya Baydar eine kleine Geschichtsstunde, und man erfährt viel über den Umgang der Kurden mit ihrer Tradition. In der Türkei wird man Ömer Erens Reise auch als eine Mahnung verstanden haben, sich mit der innenpolitischen Lage auseinander zu setzen und sich überhaupt erst einmal dafür zu interessieren, was in Ostanatolien geschieht. Aber Oya Baydar ist viel zu sehr eine Geschichtenerzählerin, als dass sie aus den Erfahrungen ihres Helden ein trockenes Bildungserlebnis machen würde. Sie greift zu einem der bewährtesten Rezepte des Bildungsromans und bringt die Liebe ins Spiel. Ömer Eren verfällt den Reizen Jiyans, die in ihrer orientalischen Fremdheit eine ungeheure Anziehungskraft auf ihn ausübt. Bei den Liebesbekundungen Ömers handelt es sich um eine jener Passagen, in denen die Autorin in die Erste Person Singular wechselt und dann wieder zur Dritten Person zurückkehrt. Vermutlich wollte sie durch dieses Stilmittel die Intensität der Erfahrung unterstreichen.

    "Noch nie hatte ich so geliebt. Wie man die Erde liebt, den Himmel, das Meer, die Berge, wie ich mich selbst liebe. So natürlich, unvermeidbar, bedingungslos... Nein, das ist kein Satz aus Büchern, die er nicht schreiben konnte, keine Fiktion, sondern genau das, was er erlebte. Die unbändige Begeisterung eines unsterblich verliebten Achtzehnjährigen; ein Vogel, der ununterbrochen in seiner Brust, seiner Kehle, seinem Kopf und seinen Fingerspitzen flatterte. Eine Liebe ohne gestern und morgen, ohne Raum und Zeit. Wenn sie sich lieben, schmelzen ihre Körper dahin, lösen sich auf, sind nur noch Gefühl. Wenn sie still beieinander sitzen, sind sie ein zweistimmiges Lied, wenn sie sprechen, das Echo des Wortes, das von den Felsen zurückhallt. Umso mächtiger das Gefühl der Sinnlosigkeit, das ihn befällt, wenn er von Jiyan getrennt ist."

    Kommen Emotionen ins Spiel, lädt Oya Baydar ihre Szenen mitunter allzu pathetisch auf und schlittert knapp am Kitsch vorbei; Sprachklischees wie das von der "Liebe ohne Raum und Zeit", dem "Schmelzen der Körper" oder dem "zweistimmigen Lied" schleichen sich ein. Aber - und das rettet den Roman dann wieder - sie gesteht Ömer und Jiyan nur eine Liebe auf Zeit zu. Am Ende gehören sie doch zwei Welten an.

    "Allmählich sah Ömer ein, dass es für keines der Probleme dieser Region eine einzige, klare und unstrittige Lösung gab. Die Schatten der Berge, die Flammen der Feuer, die Farbe des Blutes, die Macht der Gewalt verdeckten die Wahrheit, erstickten sie und ließen nichts anderes als Zweifel aufkommen. Hier sah alles anders aus, war alles anders, als es aussah. Sogar Jiyans Gesicht, Jiyans Persönlichkeit. Vielleicht verhielt es sich auch genau umgekehrt, war alles so offen, klar und einfach wie nur möglich. Vielleicht gab es gar kein Geheimnis, keine verborgene Seite, vielleicht hatte ich als Betrachter von außen mit meinen exotischen Vorstellungen dieses verworrene Drehbuch auch selbst verfasst."

    Ömer Eren ist genau wie seine Frau Elif ein laizistischer Modelltürke: modern, hoch gebildet, international anerkannt, doch ohne Bezug zu seinen Wurzeln und ohne eine Bindung an seine Herkunft. Jiyan zeigt ihm, dass es Dinge jenseits der individuellen Entwicklung gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt. Welches die Folgen einer Abspaltung und Verleugnung der eigenen Identität sind, wird Ömer ebenso wie seiner Ehefrau im Verlauf des Romans bewusst. Auch hier ist Oya Baydar eine Spur zu plakativ und wählt eine offensichtliche Art, das Versäumnis auf erzählerischer Ebene deutlich zu machen. Das zerrüttete Verhältnis zu ihrem Sohn Deniz soll zeigen, wie wenig sich Ömer und Elif auf so etwas Selbstverständliches wie Elternschaft verstehen. Sie haben sich ausschließlich auf die materielle Versorgung und die intellektuelle Erziehung ihres Sohnes konzentriert und darüber die mütterliche und väterliche Fürsorge vergessen. Oya Baydar variiert das biblische Motiv vom "verlorenen Sohn" und reichert es dadurch an, dass auf der norwegischen Insel, wo Elif Deniz besucht und das Enkelkind kennen lernt, Neonazis einfallen und Deniz' Haus niederbrennen.

    Vermutlich wollte Oya Baydar der Erfahrung der Entfremdung noch einen weiteren Aspekt hinzufügen und die Schwierigkeiten des Dialogs zwischen den Generationen schildern, was sicherlich ein ehrenwertes Unterfangen ist. Außerdem sollte Elif, die in der Türkei zur Oberschicht gehört, der Erfahrung der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus ausgesetzt sein, wie sie für Kurden wie Mahmut an der Tagesordnung sind.

    Eine weniger pompöse Inszenierung hätte die Verwicklungen glaubwürdiger gemacht. Zumal sich Oya Baydar mit "Verlorene Worte" wegen der thematischen Nähe den - sicherlich ungerechten - Vergleich mit Orhan Pamuks Meisterwerk "Schnee" gefallen lassen muss. Schließlich drehte sich der erzählerisch hochvirtuos gestaltete Roman des Nobelpreisträgers ebenfalls um die Reise eines Dichters in eine ostanatolische Provinzstadt, wo der Held einer mysteriösen Selbstmordserie junger Mädchen nachgehen sollte. Pamuks Protagonist findet zwar seine Inspiration wieder und verfasst einen mystischen Gedichtzyklus, aber er gerät zwischen alle Fronten und wird schließlich in den Auseinandersetzungen zwischen islamischer und säkularer Welt zerrieben. Literarisch spielt Pamuk in einer anderen Liga, und vor dieser Folie wirkt Baydars Roman zwangsläufig hölzern. Dennoch hat ihr Buch Qualitäten. Es gelingt ihr, den Spannungsbogen über hunderte von Seiten zu halten und neue Handlungsknoten zu schürzen. In Ankara hat sich der Clan von Zelal auf die Spuren der flüchtigen Sünderin begeben. Und auch Mahmut wird von den Gespenstern seiner Vergangenheit eingeholt.

    "Als Mahmut sich der Hauptstraße nähert, sieht er sich vorsichtig um. An der Bushaltestelle genau gegenüber fallen ihm inmitten der Wartenden - Frauen mit Kopftüchern und langen Regenmänteln, junge Mädchen in Jeans und armselig gekleidete Männer in zerknitterten Jacketts mit Schweißflecken unter den Armen und ausgeleierten Taschen - zwei großgewachsene Personen auf. Zwei kerzengerade stehende Männer in dunklen Anzügen und mit dunklem Teint. Er geht hinter der Strommast in Deckung, um die Männer zu beobachten. Die beiden kommen aus unserer Gegend. Man erkennt sein eigenes Volk an der Haltung, am Gang, am Blick. Argwohn packt mich nicht beim Anblick der anderen, sondern bei meinen eigenen Leuten, ich werde skeptisch, weil sie aussehen, als stammten sie aus dem Osten, wie schrecklich!"

    In Szenen wie diesen mausert sich Oya Baydars dickleibiger Roman zu einer veritablen Abenteuergeschichte und bekommt neuen Schwung. Vor allem gegen Ende überstürzen sich die Ereignisse, und es ist verblüffend, wie Baydar die Erzählfäden mit Hilfe einiger Deus-Ex-Machina-Coups dann doch wieder zusammenführt. Ihre Helden können sich aus den Verstrickungen lösen, ihre Angelegenheiten gehen glimpflich für sie aus. Es besteht Hoffnung auf eine weniger blutige Zukunft, aber der Weg dorthin ist mühsam - so ließe sich der Schluss deuten. Ora Baydars Roman hat einige Schwächen. An manchen Stellen neigt Baydar zur Langatmigkeit, sie liefert überflüssige Deutungen und traut der Tragfähigkeit der Handlung nicht, die Psychologie ihres Personals ist mitunter zu holzschnittartig, und wenn Neonazis oder romantische Liebe ins Spiel kommen, trägt sie allzu dick auf. Dennoch ist "Verlorene Worte" ein lesenswertes Buch. Am Ende geht es einem wie Ömer Eren. Man hat etwas gelernt.