Donnerstag, 28. März 2024

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Umstrittene Therapien als letzte Chance
Mit Elektroschocks gegen Depressionen

Elektroschocktherapie - das klingt für viele immer noch wie aus dem Horrorkabinett der Psychiatrie. Doch die Behandlung ist längst nicht mehr so brutal wie früher. Vor allem aber wirkt sie. Und zwar auch bei Patienten, bei denen andere Methoden nicht anschlagen. Elektroschocks sind daher eine von mehreren ehemals tabuisierten Therapien, die Wissenschaftler nun weiter entwickeln.

Von Stefanie Kara | 12.02.2017
Ein einsamer Mann an der Töölönlahti Bucht in Helsinki
Etwa jeder Fünfte erkrankt irgendwann im Leben an einer Depression. Die Krankheit kann behandelt werden - manchmal leiden Menschen jedoch ein Leben lang. (picture alliance / dpa / Mikko Stig)
Depressionen können mit Psychotherapie und Medikamenten gut behandelt werden. Doch manchmal versagen alle Mittel und die Krankheit kommt immer wieder. Ein Fünftel der betroffenen Patienten nimmt sich schließlich das Leben. Deshalb entwickeln Wissenschaftler nun lang tabuisierte Therapien weiter.
Ein MKT-Gerät
Ein MKT-Gerät (Deutschlandradio/S. Kara)
Eine davon ist die Elektrokrampftherapie. Sie ist längst nicht mehr so brutal wie früher, doch Forscher wollen sie noch schonender machen – indem sie die Elektroschocks durch Magnetfelder ersetzen. Eine weitere umstrittene Therapie ist die Gabe von Ketamin, einem Rauschmittel. Wissenschaftler versuchen nun, dessen antidepressive Wirkung von der berauschenden Nebenwirkung zu trennen. Gelingt es ihnen, könnte auch Ketamin sein Schmuddel-Image verlieren. Und Patienten mit Depressionen hätten neue Alternativen.

Das Manuskript zur Sendung:
"Der Kranke wird zunächst vorbereitet, indem seine Schläfen ausrasiert werden. Dann werden zu beiden Seiten des Kopfes in der Schläfengegend auf die mit Kochsalzlösung durchfeuchtete Haut die Elektroden angelegt. Der Kranke wird in einem Ruhebett bequem gelagert, die Arme über der Brust verschränkt. Nun wird mittels des Apparates während einer kurzen Zeitspanne ein Wechselstrom durch den Kopf des Kranken geschickt. Der etwas gesteigerte Reiz kann ohne Bedenken nach kurzer Zeit wiederholt werden."
Aus: Elektrokrampfbehandlung der Psychosen. Von Friedrich Meggendorfer. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift, 1940, Bd. 66, H. 42, S. 1155-1157
"Ich wurde immer depressiver, über Jahre. Sie kennen sicher dieses Bild von Edward Munch: Der Schrei. Jeder Augenblick war ein Schrei. Sie probierten alles aus, was es gab. Sie versuchten es mit der üblichen Psychotherapie, sie probierten jedes verfügbare Medikament. Nichts passierte. Der Assistenzarzt sagte: Können wir es nicht mit Elektroschocktherapie versuchen?
Sie gaben mir eine Serie von zehn. Beim sechsten Mal: nichts, beim siebten Mal: nichts, beim achten Mal: nichts. Beim neunten Mal merkte ich, es ändert sich etwas. Es war, als wären diese völlig verwickelten Drähte in meinem Kopf ausgestöpselt worden, und ich konnte wieder klar denken."
Der amerikanische Arzt und Autor Sherwin Nuland schilderte 2001 in dem Vortrag "How electroshock therapy changed me" seine Erfahrungen mit der Elektroschock-Therapie.
Tabuisierte Therapien werden wieder entdeckt
Depression. Etwa jeder Fünfte erkrankt irgendwann im Leben daran. Oft kann die Krankheit gut behandelt werden, mit Psychotherapie oder Medikamenten. Doch zu oft kehrt die Depression wieder und wieder, ein Fünftel dieser Patienten nimmt sich das Leben.
Der Bedarf ist da - für Therapien, die lange Zeit Tabu waren.
"Es ist die Überzeugung, dass es eine Brachialtherapie aus der alten Psychiatrie ist, dass man Patienten so etwas nicht zufügen darf, dass man sich mit sogenannten sanften Methoden Patienten nähern soll. Das ist komplett falsch. Diese Ideologie geht auf Kosten der Patienten", sagt Thomas Schläpfer, Psychiater an der Uniklinik Freiburg.
Elektrokrampftherapie. Oder Elektroschocktherapie. Das klingt für viele immer noch wie aus dem Horrorkabinett der Psychiatrie. Doch die Behandlung ist längst nicht mehr so brutal wie früher.
Ein Operationssaal an der Uniklinik Bonn. Die Patientin, etwa Mitte 30, leidet an Depressionen. Medikamente und Psychotherapie haben ihr nicht geholfen. Jetzt ein neuer Versuch: die Elektrokrampftherapie .
Elektroschock-Patienten werden vor der Behandlung sediert
Die Patientin bekommt eine Narkose, sie wird von der Behandlung nichts mitbekommen. Das ist ein wichtiger Unterschied zu den Horrorbildern. Der andere: ein Medikament zur Entspannung der Muskeln. Es verhindert die Zuckungen am ganzen Körper, die früher zu Verletzungen führten. Trotzdem war die Entscheidung für die Elektrokrampftherapie nicht leicht, wie die Patientin kurz vor der Behandlung berichtet:
"Hätte man mich vor einem halben Jahr gefragt oder vor einem Jahr, hätte ich das abgelehnt, aber in der Situation, in der ich mich jetzt befunden habe, war das die Hoffnung für mich", erzählt die Patientin.
Wie genau diese Situation aussah, mag sie nicht erzählen. Es sei schlicht so gewesen, sagt sie, "dass ich hoffnungslos war."
Die Ärztin Margaretha Klein trifft die letzten Vorbereitungen.
"Damit es zu keinen Verletzungen kommt an Zunge oder Zähnen, lege ich jetzt einen Mundschutz ein. Und dann würden wir beginnen. Und jetzt sieht man bei der Patientin, dass die motorische Antwort auf den Krampf nicht so stark ausgeprägt ist, das liegt einfach an dem Muskelentspannungsmedikament, das sie vorher bekommen hat. Aber hier auf dem EEG-Streifen sehen wir, dass es doch geklappt hat mit dem Krampf. Und jetzt ist er vorbei", erklärt Klein.
Nach wenigen Minuten erwacht die Patientin aus der Narkose. Heute war ihre vierte Behandlung. Zwölf wird sie insgesamt bekommen.
"Direkt nach der ersten EKT ist es besser geworden von der Stimmung und von der Anspannung her", sagt die Patientin.
Elektroschocktherapie wirkt - aber noch weiß niemand wie
"Mich persönlich hat diese Therapieform sehr schnell fasziniert, weil ich es aus meiner Disziplin, der Psychiatrie, gewohnt war, dass Veränderungen wenn überhaupt nur sehr langsam kommen. Und wenn Sie einen Patienten haben mit Depressionen, dem Sie ansehen, dass der in der schrecklichsten Gemütslage seines Lebens ist, dann haben Sie auch einen Drang, möglichst wirksam und schnell zu helfen."
Der Psychiater Thomas Schläpfer von der Uniklinik Freiburg hat über Jahrzehnte Hinweise gesammelt, dass die Elektrokrampftherapie wirkt. Längst sind Expertengremien überzeugt. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer meint, die EKT sei "für bestimmte psychiatrische Erkrankungen die bestmögliche Behandlung". Und aktuell erwägt die amerikanische Zulassungsbehörde für Arzneimittel, die FDA, die Therapie in eine niedrigere Risikoklasse einzustufen. Obwohl noch immer niemand versteht, wie sie wirkt.
"Darüber wissen wir erstaunlich wenig. Und das ist häufig auch eine Kritik, dass man sagt: Ihr wendet hier eine Therapie an, wo man keine Ahnung hat, wie es wirkt", so Schläpfer.
Dass Krämpfe Menschen aus ihrer Melancholie reißen können, zeigte sich erstmals in den 1930er Jahren. Die schweren Nebenwirkungen nahm man in Kauf – bis in den 50er Jahren die ersten Antidepressiva zur Verfügung standen. Sie halfen – aber längst nicht allen. Genauso verhielt es sich später mit der Psychotherapie und ab den 80er Jahren mit den Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, den SSRI: Damals vermutete man die Ursache der Depression in einem Ungleichgewicht von Botenstoffen wie Serotonin – die SSRI wurden zur Therapie der Wahl. Heute gilt die Hypothese als überholt. Gleichzeitig helfen SSRI vielen Patienten. Was passiert also im Hirn bei Depressionen? Und an welchen Stellschrauben dreht die Elektrokrampftherapie?
"Was bei der EKT beobachtet werden kann, dass die Hirnaktivität unmittelbar nach dem therapeutischen Krampf auf einem sehr niedrigen Niveau ist und sich dann wieder aufbaut auf eine normales Niveau.
Elektroschocks regen die Neubildung von Nervenzellen an
Schläpfer und seine Kollegen wollten genau wissen, was im Hirn passiert. Sie durchleuchteten Patienten im Hirnscanner, vor und nach der Elektrokrampftherapie.
"Ein ganz wichtiger Befund, den wir seit kurzer Zeit haben, ist, dass EKT die Neuroneogenese, also die Neubildung von Nervenzellen maximal anregt. Unter Umständen ist genau das der Wirkfaktor bei der EKT, dass sich schnell neue Nervenzellen bilden und wieder Kontakt aufnehmen mit neuronalen Netzwerken."
Damit bringt die Methode auch die Erkenntnis der Depression voran – und verändert den Blick auf die Krankheit:
"Heute redet man von neuronalen Netzwerken, von Zentren im Hirn, die alle etwas zu tun haben mit der Depression, die miteinander verbunden sind und miteinander kommunizieren, sowohl chemisch wie auch elektrisch. Und ich glaube, dass genau das der Grund ist, warum sowohl Medikamente wie auch Stimulationsverfahren wie die EKT eine Wirkung haben", sagt Schläpfer.
Die Schaltkreise im Kopf sind es also – so die neue Hypothese. Und auf diese Schaltkreise wirkt die Elektrotherapie. Sie hat allerdings auch Nebenwirkungen. Die häufigste sind Gedächtnisstörungen.
"Das tönt jetzt wirklich schrecklich, ist es auch subjektiv, wenn man sich nicht mehr erinnern kann, ist das sehr belastend für Patienten. Aber die Gedächtnisstörung bezieht sich auf das, was sie am Vortag gegessen haben, also auf Dinge, die objektiv eigentlich Kleinigkeiten sind, wenn man das in Betracht zieht im Rahmen einer schweren, tödlichen Krankheit. Trotzdem ist es unangenehm", sagt Schläpfer.
Viele verbinden Horrorszene aus Filmen mit Elektroschocks
Der weitverbreitete Horror vor der Elektrokrampftherapie hat dennoch nur wenig mit den Nebenwirkungen zu tun. Aber viel mit einer Filmszene:
Ein weiß gekleideter Mann folgt der Krankenschwester, seine Hände sind gefesselt. Im Behandlungszimmer setzt sie ein Gerät auf seine Schläfen. Der Arzt dreht einen Knopf, der Mann stöhnt. Pfleger halten ihn mit aller Kraft auf der Liege fest, während sein Körper von heftigsten Krämpfen geschüttelt wird.
"Praktisch jeder Mensch hat den Film "One Flew Over The Cuckoo's Nest" gesehen, wo in dieser ganz eindrücklichen Szene Jack Nicholson eine EKT bekommt. Und das sieht schrecklich aus, das ist eine EKT ohne Muskelrelaxation, so wie das wirklich vor 50 Jahren abgelaufen ist. Heute ist das ganz anders. Aber genau dieses Bild aus diesem Film ist tief in den Hirnen von allen Menschen drin."
Thomas Schläpfer hat deshalb nach einer Methode gesucht, die beide Probleme beseitigt: die Nebenwirkungen und das Stigma.
"Wir sehen hier einen etwas größeren Kasten mit verschiedenen Steckanschlüssen. Ein Anschluss ist für die Kopfspule, darüber werden dann die Magnetimpulse an den Patienten weitergeleitet. "
Alternative zu Elektroschocks: Magnetimpulse
Die Psychologin Bettina Bewernick von der Uniklinik Bonn hat mit Thomas Schläpfer zusammengearbeitet, bevor der an die Uniklinik Freiburg ging. Sie zeigt auf einen Pappkarton, darin steckt die Innovation.
"Das ist die Spule, darüber werden die Magnetimpulse ins Gehirn geleitet. "
Statt Strom lösen Magnetfelder den Krampf aus. Schläpfer und seine Kollegen haben jahrelang an der neuen Technik gearbeitet. Das erste Gerät haben sie noch selbst gebaut. Inzwischen fertigen drei kleine Firmen Apparate für die Therapie mit der Magnetspule. Sie sendet bis zu vier Tesla starke Magnetfelder aus.
"Die kann ich mal gerade auspacken, die haben wir nämlich zur Zeit verpackt. Die ist teuer und schwer. Das ist so ein riesen schwarzes Ding, mit rechts und links den Kontaktstellen, worüber dann eben die Magnetstimulation erfolgt. "
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Magnetspule für MKT (Deutschlandradio / Stefanie Kara)
Noch hat die Innovation keine Zulassung. Nur in wissenschaftlichen Studien darf sie eingesetzt werden.
"Dann haben wir einige Studien gemacht, wo wir zeigen konnten, dass Magnetkrampftherapie genauso wirksam ist wie die Elektrokrampftherapie, aber - interessanter - diese kognitive Nebenwirkung, diese Gedächtnisnebenwirkung überhaupt nicht hat", sagt Schläpfer.
Magnetfelder stimulieren nicht das gesamte Hirn
Anders als Elektroschocks stimulieren die Magnetfelder nicht das gesamte Hirn, sondern nur die Bereiche an der Oberfläche. Der Hippocampus, der in der Tiefe des Hirns liegt, wird verschont. Er ist entscheidend für die Erinnerung.
"Es ist ganz lustig, wie viele Menschen sagen, ja, das sind ja Magnetfelder wie die Mutter Erde sie hat und das ist viel biologischer und viel sanfter. Das mag zwar nicht zutreffend sein, aber wir argumentieren dort gar nicht dagegen."
Zwei Probleme gelöst also. Es gibt aber ein neues: Geld. Denn für die Zulassung sind größere Studien mit mehr Teilnehmern nötig. Und die kosten.
"Ich hoffe sehr, wir sind mit zwei Firmen im Gespräch, vielleicht nicht doch das Geld für eine Studie zu bekommen, die gerade knapp langen würde, eine Zulassung zu bekommen. Es ist ein langer Weg, das ist das Einzige, was ich dazu im Moment sagen kann", erklärt Schläpfer.
Die Patienten fragen aber jetzt schon nach der Behandlung, sagt Bewernick: "Diese Woche hatten wir drei Anfragen, wo ganz genau explizit nach MKT gefragt worden ist."
Do-it-yourself: Patienten bauen eigene Elektroschockgeräte
Die klinische Entwicklung stockt. Und derweil probieren mehr und mehr Menschen selbst Möglichkeiten aus, ihrem Hirn auf die Sprünge zu helfen. Im Internet führen Bastler in zahlreichen Videos vor, wie man sich seinen eigenen Hirnstimulator baut. Stromquelle: eine Neun-Volt-Batterie.Das leichte Prickeln soll das Gedächtnis oder die Konzentration verbessern. Aber es soll eben auch Depressionen lindern. Die Hirnstimulation mit Strom wird zum Do-it-yourself-Hit. Berührungsängste? Eher nicht.
"Ich hatte überhaupt keine Ahnung von Elektronik, von Schaltkreisen, von Strom. Punkt. Ich habe nach einem fertigen Gerät gesucht und bin gegen ziemlich viele Wände gerannt. Offensichtlich musst du Arzt sein, um auf dem kommerziellen Markt irgendwas zu bekommen, das Strom durch deinen Schädel schickt. Also war der nächste Schritt, es einfach selbst zu bauen"
Anthonynlee nennt sich der Bastler in seinen Videos auf Youtube. Um die dreißig, Dreitagebart, T-Shirt.
Die Do-it-yourself-Welle ist inzwischen so groß, dass Neuroforscher einen Brief an die Bastler geschrieben haben, veröffentlicht im Fachmagazin Annals of Neurology. Sie verdammen die Bastelei nicht, sondern klären über die Sicherheitsrisiken auf. Die hält Thomas Schläpfer für gering. Er sorgt sich um etwas anderes:
"Wenn das ein Spieler macht, um seine Performance in World of Warcraft zu verbessern, von mir aus, das ist das eine. Aber sobald das einhergeht mit der Heilsversprechung bei einem Patienten mit Depressionen, da habe ich ganz schnell Mühe."
Langzeit-Kranke suchen nach Behandlungsalternativen
Auch Wissenschaftler beschäftigen sich mit der Technik. "tDCS" nennen sie die Methode, das ist die englische Abkürzung für: transkranielle Gleichstromstimulation. Die Ergebnisse sind äußerst widersprüchlich. Noch am stärksten scheint die Evidenz ausgerechnet bei Depressionen zu sein.
Am meisten Aufsehen erregte eine Studie des Neuroforschers Felipe Fregni von der Harvard Medical School: Er stellte in einem Versuch an 120 Patienten fest, dass die Hirnstimulation mit Gleichstrom genauso gut wirkte wie Sertralin, ein Antidepressivum aus der Gruppe der SSRI.
Angesprochen fühlen sich wohl eher leicht Erkrankte. Aber auch Patienten mit schweren Depressionen verlieren die Geduld mit der Forschung und suchen nach Alternativen.
"Am Anfang hat mich immer noch der Gedanke getragen: Das und das geht noch, das kann ich noch machen. Aber dann habe ich immer mehr gemacht, und nichts hat richtig geholfen."
Die Patientin ist 29 Jahre alt.
"Als erstes habe ich eine Verhaltenstherapie versucht, aber die hat leider gar nicht geholfen."
Diagnose: schwere Depression.
"SSRI, die waren für mich ganz furchtbar. Ich habe mich mehr wie ein Zombie gefühlt als wie ein Mensch. Und gewirkt hat es leider nicht."
Die Krankheit quält sie seit 20 Jahren, seit sie ein Kind war.
"Ich bin auch in die Klinik gegangen, immer wieder, für vier, fünf Wochen. Ich weiß gar nicht mehr wie oft."
Vor einem Jahr hatte sie wieder einen schweren Rückfall.
"Da habe ich mich wirklich gefragt: Wie soll das weitergehen, ich kann das auf Dauer nicht aushalten. Entweder finde ich was, oder ich weiß nicht, ob ich das weiter schaffe."
Dann fand sie etwas, im Internet, unter www.ketamin.de.
Narkosemittel Ketamin wirkt als Antidepressiva
"Die sterile Perfusorspritze. Die Dosis von Ketamin ist vorher festgelegt worden mit 50 Milligramm. Die ich dann in die Perfusorspritze fülle. Und dann können wir zum Patient gehen, um den Venenzugang zu legen" erklärt eine Fachschwester Anästhesie.
Ein junger Mann, sehr schüchtern, sehr zurückhaltend. Er blickt niemanden an. Seit Jahren quälen ihn Gesichtsschmerzen, dann kam die Depression hinzu. Die herkömmlichen Antidepressiva hätten auch ihm nicht geholfen, sagt er. Sein Vater nickt, er hat seinen Sohn in die Praxis von Frank Mathers nach Köln begleitet. Der Arzt hat amerikanische Wurzeln, ist aber im Rheinland aufgewachsen.
"So, dann legen wir eine Kanüle. Können Sie die Faust auf- und zumachen? Es gibt gleich mal einen kleinen Stich. Ok so? Ja? Gut. Dann lassen wir das auf 50 Milliliter die Stunde laufen", sagt Frank Mathers
Die durchsichtige Flüssigkeit beginnt, in die Vene des Patienten zu rinnen. "So, den Blutdruck messen wir noch. So, die Kamera ist eingeschaltet. Wenn Sie irgendwas stört, winken Sie uns. Ok, dann bis gleich."
Frank Mathers verlässt den Behandlungsraum. "Wir werden jetzt den Patienten auf dem Monitor beobachten. Ansonsten sollte er jetzt Ruhe haben und sich in seiner eigenen Welt bewegen unter der Ketamin-Infusion."
Mathers ist Narkosearzt. Er kennt sich aus mit Ketamin, es ist ein Narkosemittel. Mit Depressionen kennt er sich nicht aus, das sagt er selbst.
"Ich bin eigentlich per Zufall über einen Fachartikel gestolpert, wo beschrieben worden ist, dass das Narkosemittel Ketamin auch antidepressiv wirkt. "
Ketamin noch nicht für die Depressionsbehandlung zugelassen
Das erste Experiment mit dem Mittel hat der Psychiater Carlos Zarate vom amerikanischen National Institute of Mental Health bereits vor zehn Jahren gemacht. Seine Entdeckung wurde gefeiert. Und kritisch beäugt: Ketamin ist auch ein Rauschmittel und wird als Droge missbraucht.
Ketamin funktioniert ganz anders als alle anderen heute verfügbaren Antidepressiva. Die wirken über sogenannte Monoamine, dazu gehören die Botenstoffe Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Ketamin dagegen beeinflusst das Glutamat-System. Offenbar lässt es neue Verbindungen zwischen Nervenzellen wachsen.
Auch der Psychiater Malek Bajbouj von der Charité in Berlin forscht an Ketamin. Er ist eher vorsichtig: "Das, was wir gesehen haben, ist etwa so eine Drittelregel: Ein Drittel haben gut angesprochen, ein Drittel teilweise, ein Drittel gar nicht."
Zugelassen ist Ketamin für die Behandlung von Depressionen noch nicht. Deshalb können Patienten es nur im Rahmen von wissenschaftlichen Studien bekommen – oder in der Praxis von Frank Mathers. Es ist die einzige Ketamin-Praxis in Deutschland, in den USA gibt es bereits Dutzende. Zahlen müssen die Patienten selbst, fast 200 Euro pro Infusion.
200 Euro für eine Ketamin-Behandlung
Dabei ist Ketamin eigentlich billig: Eine Ampulle kostet drei Euro. Die Kosten entstünden dadurch, dass die Patienten für mehrere Stunden überwacht werden müssten, sagt Mathers. Ketamin verursacht Dissoziationen, also ein Auseinanderfallen der Wahrnehmung.
"Wir haben angefangen in der normalen Praxis, wo wir eine Liege hatten und da nebenbei, wenn Zeit war, einen Patienten infundiert haben. Inzwischen ist das so, dass wir eigens für die Ketamininfusion Räume angemietet haben, wo wir parallel vier Patienten gleichzeitig infundieren können", erzählt Mathers.
Etwa der Hälfte seiner Patienten hilft Ketamin, schätzt Mathers. Auch die Studentin, die seit 20 Jahren unter Depressionen leidet, gehört dazu:
"Es wirkt schnell, das ist ein Segen. Und ich habe wieder Antrieb, der fühlt sich echt an, nicht irgendwie sediert. Ich fühle mich einfach normal. Ja, ich glaube, so fühlt sich normal an."
Dauer der Wirkung nicht vorhersehbar
Der Psychiater Malek Bajbouj sieht die Ketamin-Praxis jedoch kritisch: "Bei jedem neuen Verfahren muss man entscheiden, zu welchem Zeitpunkt setzt man es außerhalb von Forschungskontexten ein. Beim Ketamin ist es relativ klar, dass es zum jetzigen Zeitpunkt zu früh ist"
Also weiter warten? Es ist eine heikle Situation: Viele Patienten verlieren die Geduld – und das aus gutem Grund. Forscher wollen die Vor- und Nachteile neuer Therapien in Ruhe abklären – auch das aus gutem Grund. Denn Ketamin ist ein Rauschmittel, es kann abhängig machen. Und es kann Leber, Blase und das Herz schädigen. Außerdem ist noch nicht klar, ob und wie es langfristig wirkt.
Mathers: "Ein Problem der Ketamintherapie ist, dass die Wirkung unvorhersehbar lang anhält. Ich würde sagen, im Durchschnitt bei unseren Patienten vier Wochen. Und die Wirkung muss dann durch Auffrisch-Infusionen im Laufe der Zeit immer wieder neu verstärkt werden."
Bajbouj: "Infusionen kann man nicht jahrelang machen. Deswegen haben wir uns als neues Verfahren überlegt, dass es besser sei und auch länger einsetzbar, wenn man das Ganze als Nasenspray gibt."
Nasenspray statt Infusionen
Das Ketamin-Spray wird gerade an acht Kliniken in Europa getestet, die Charité in Berlin ist eine davon. Der Proband heute ist um die 60, er hat schon sieben, acht Antidepressiva ausprobiert, auch Psychotherapie. Die Versuchsleiterin beobachtet ihn. Nur etwas leicht im Kopf werde ihm von dem Spray, erzählt der Proband später.
Bajbouj: "Das Bauchgefühl, das wir nach den ersten Patienten haben, ist, dass es in etwa gleich gut wirkt wie die Infusion. "
Wenn dieses Gefühl durch Daten bestätigt wird, auch in den anderen Testzentren, könnte das Ketamin-Nasenspray als Medikament zugelassen werden. "

"Opium, Morphium, Extractum Cannabis indicae, Nux vomica, Strychnin, können theils bei zu Grunde liegender großer Reizbarkeit der Brust- und Bauchganglien, und in kleinen Dosen gereicht, dieselbe direct beseitigen und dadurch Melancholie heilen."
Aus: D.G. Kieser (1855): Elemente der Psychiatrik. Breslau. [1]
Bajbouj: "Das, was wir am allermeisten fürchten, ist, dass wir Patienten in eine Abhängigkeit bringen."

"Man steht also billig bey sich an, ob man Opium, oder die schlafmachende Kraft des Mohns wohl gebrauchen solle, um ein allzustarkes Gefühl einzuschläfern."
Aus: Annäus Lorry (1770): Von der Melancholie und den melancholischen Krankheiten. [2]
Bajbouj: Ketamin gehört ja auch zu den Top fünf der missbräuchlich eingesetzten Substanzen bei Jugendlichen.

"In Wahrheit ist dennoch bei der Anwendung dieses Mittels Einsicht notwendig. Wenn nämlich die Melancholiker diese Erleichterung einmal erfahren haben, wollen sie diese später nicht entbehren.
Aus: Gerhard v. Swieten (1753): Commentaria in Hermanni Boerhaave Aphorismos de cognoscendis et currandis morbis. Lugduni Batavorum. [3]
Problem: Medikament können süchtig machen
Depression ist mitunter eine tödliche Krankheit. Das war das gewichtigste Argument für die Erforschung eines potenziell suchtauslösenden Medikaments. Doch nun stellt sich heraus, dass die Wirkung vielleicht auch ohne Risiko zu haben ist:
Bajbouj: "Unsere Idee ist gewesen, je angenehmer es ist, je euphorischer ein Patient während der Infusion ist, desto besser wirkt es antidepressiv. Und genau das Gegenteil war am Ende der Fall. Je weniger während der Infusion passiert, desto besser wirkt es."
Könnte man dann nicht die Wirkung von der Nebenwirkung trennen, den Rausch vom Mittel? Ein Forscherteam um den Ketamin-Pionier Carlos Zarate hat jüngst tatsächlich etwas Hochinteressantes entdeckt, veröffentlicht im Fachmagazin Nature: Nicht Ketamin selbst, sondern eines seiner Abbauprodukte wirke antidepressiv.
Und genau dieses Abbauprodukt habe offenbar keine dissoziative Wirkung. Das zumindest zeigten Experimente mit Mäusen. Ließe sich das in ein Medikament für Menschen übersetzen, könnte Ketamin nicht nur seine Nebenwirkungen, sondern auch sein Schmuddel-Image als Rauschmittel loswerden.
Bajbouj: "Das sind alles Untersuchungen in der Frühphase, also der Sprung in die Patientenbehandlung ist noch nicht gelungen, aber da wird es sicher in den kommenden Jahren einiges geben."
Umstrittene Therapien erhalten neue Chancen
Der Widerstand bröckelt: Umstrittene Therapien gegen Depressionen bekommen eine neue Chance. Weil Forscher daran arbeiten, die Nebenwirkungen zu reduzieren. Bei der Krampftherapie ist ihnen das bereits gelungen – indem sie Magnetfelder nutzen statt Strom.
Und vielleicht gelingt es bald auch, dem Rauschmittel Ketamin den Rausch abzugewöhnen. Die beiden Beispiele zeigen aber noch etwas: Neue Therapien gegen Depressionen kommen immer häufiger aus den Universitäten – und nicht von den Pharmafirmen. Der Psychiater Thomas Schläpfer sieht darin die Zukunft:
"Ich glaube, dass das Modell, dass Firmen forschen und dafür mit Geld belohnt werden, sich langsam etwas ausgeleiert hat bei psychiatrischen Erkrankungen. Weil ich fest daran glaube, dass akademische Institutionen kompetenter sind im Planen von Forschungsstudien als Pharmahersteller, die eine ganz andere Agenda haben, wo es darum geht, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen. Das ist auch per se nichts Schlimmes, das ist ein sehr valables Ziel, nur muss man realisieren, dass es nicht ganz deckungsgleich ist mit dem von Patienten."
Quellen:
[1] D.G. Kieser: Elemente der Psychiatrik. Breslau. 1855, § 94;
zit. in: Matthias M. Weber (1987): Die "Opiumkur" in der Psychiatrie. In: Sudhoffs Archiv, Bd. 71, H. 1, S. 31-61
[2] Annäus Lorry: Von der Melancholie und den melancholischen Krankheiten. Zweiter Band. Aus dem Lateinischen. Frankfurt 1770. S. 188-192; zit. in: Matthias M. Weber (1987): Die "Opiumkur" in der Psychiatrie. In: Sudhoffs Archiv, Bd. 71, H. 1, S. 31-61

[3] Gerhard v. Swieten: Commentaria in Hermanni Boerhaave Aphorismos de cognoscendis et currandis morbis. Lugduni Batavorum. § 1115.3; 1753; zit. in: Matthias M. Weber (1987): Die "Opiumkur" in der Psychiatrie. In: Sudhoffs Archiv, Bd. 71, H. 1, S. 31-61
Regie: Friederike Wigger
Redaktion Christiane Knoll
Online: Nina Carbonetti
Produktion: Deutschlandfunk 2017