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Umverteilte Flüchtlinge verlassen das Baltikum
"Hier in Lettland, das ist weder Leben noch Sterben"

Lettland war eines der wenigen Länder in Osteuropa, das der EU-Verteilungsquote für Flüchtlinge zugestimmt hatte. 531 Flüchtlinge wollte das Land aufnehmen. Doch von den 23 Asylsuchenden, die Lettland nach der Umverteilung offiziell anerkannt hat, haben alle das Baltikum schon wieder verlassen. Der Grund: Die lettischen Starthilfen seien viel zu gering.

Von Samuel Acker | 24.10.2016
    Proteste gegen die EU-Verteilungsquote für Flüchtlinge in Lettlands Hauptstadt Riga. Ein Demonstrant hält ein Schild in die Höhe auf dem steht: "EU stop mass immigration now. It's criminal!" (Auf Deutsch: "EU beende die Masseneinwanderung jetzt. Das ist kriminell!")
    Viele Letten sind gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und protestieren gegen die Verteilungsquote der EU. (picture alliance / dpa / epa / Valda Kalnina)
    Gabriel Warkefi sieht müde aus. Das ist nicht sein richtiger Name – er ist aus Eritrea geflohen, seine Eltern leben noch dort, er hat Angst, dass ihnen etwas zustoßen könnte. Der 29-Jährige war vor zehn Monaten zusammen mit seiner Frau der erste Asylbewerber, der über den EU-Verteilungsplan nach Lettland gekommen ist.
    Nach einer langen Flucht über die Türkei und Griechenland endlich in Sicherheit. Bis vor wenigen Tagen war Warkefi einer der beiden letzten umverteilten Flüchtlinge, die in Lettland geblieben sind. Dass viele Flüchtlinge das Land schnell wieder verlassen haben, kann er verstehen:
    "Das hat mich nicht überrascht. Sie sind gegangen, weil sie leben müssen. Ich selbst kann hier ja nicht mal einen Löffel oder eine Tasse bekommen. Ich habe um Hilfe gerufen, ich habe meine Stimme erhoben und gebeten: Es ist kalt, bitte, ich brauche Decken. Aber keinen interessiert es."
    Maximal 139 Euro erhält jeder Flüchtling pro Monat
    Von den 23 Asylbewerbern, die bis Mitte September über das EU-Umverteilungsprogramm nach Lettland gekommen sind und offiziell als Flüchtlinge anerkannt wurden, haben alle das Baltikum schon wieder verlassen. Jetzt wird in Lettland darüber diskutiert, warum.
    Für die rechtspopulistische "Nationale Allianz", die als eine von drei Parteien in der Regierungskoalition sitzt, ist der Fall klar: Die Flüchtlinge seien faul, wollten lieber in Deutschland von Sozialhilfe leben, statt in Lettland zu arbeiten. Tatsächlich ist die finanzielle Unterstützung, die Flüchtlinge in Lettland erhalten, extrem gering, erzählt der Journalist Filips Lastovskis von "Delfi", der größten lettischen Nachrichtenseite. Maximal 139 Euro erhält jeder Flüchtling pro Monat:
    "Eine Wohnung in Lettland kostet deutlich mehr, selbst eine Wohnung in einer schlechten Gegend. Und wenn man eine Wohnung mietet, muss man meistens vorab die ersten zwei Monate Miete zahlen. Dann landet man bei 300 bis 400 Euro."
    Lettland bekommt von der EU 6.000 Euro pro umverteilten Flüchtling
    Umsonst ist für die Flüchtlinge nur der Aufenthalt in der Sammelunterkunft, in der Regel drei Monate, bis über den Asylantrag entschieden ist. Danach, darauf hatten die Nationalkonservativen im Parlament gedrängt, dürfen Geflüchtete in keinem Fall mehr Unterstützung bekommen als lettische Arbeitslose.
    Allerdings erhält Lettland Geld dafür, dass es am EU-Verteilungsprogramm teilnimmt. 6.000 Euro sind es laut EU-Kommission pro Flüchtling, der vom Süden in ein anderes Land umverteilt wird. Gabriel Warkefi beschwert sich, außer einem Sprachkurs habe er in keinster Weise von diesem Geld profitiert. Das lettische Innenministerium teilt dazu schriftlich mit:
    "Das Geld der EU wird nach strengen Richtlinien verwendet und nur für Aktivitäten ausgegeben, die im Aktionsplan der EU vorgesehen sind. Dies sind: Integrations- und Sprachkurse, Gesundheits-Leistungen, Hilfsprogramme, um einen Job zu finden, Übersetzungen und die Bereitstellung eines Mentors."
    Viele Letten scheinen dagegen zu sein, Flüchtlinge aufzunehmen
    Zugespitzt heißt das: Für warme Kleidung für den rauen lettischen Winter sollen keine EU-Gelder ausgegeben werden. Für einen Arztbesuch, falls die Flüchtlinge krank werden, schon. Doch die geringe finanzielle Unterstützung seitens offizieller Stellen ist nur ein Problem. Journalist Filips Lastovskis sagt, die meisten Letten seien generell dagegen, Flüchtlinge aufzunehmen:
    "Wir merken das in den Kommentaren auf unserer Seite, in den sozialen Netzwerken, aber auch in Umfragen. 65 bis 70 Prozent sagen, es wäre besser, wenn wir keine Flüchtlinge in Lettland aufnähmen."
    Didzis Melbiksis ist der lettische Vertreter des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen. Das diffuse Unbehagen in der Bevölkerung erklärt er damit, dass die meisten Letten noch nie mit Nicht-Europäern zu tun hatten. Melbiksis glaubt aber, dass die meisten Letten keine Ausländerfeinde sind:
    "Ich glaube, im Allgemeinen sind die Letten sehr passiv. Viele Leute interessieren sich nicht für die Flüchtlinge. Und das meine ich nicht negativ, sie wollen einfach nur nichts mit diesem Thema zu tun haben."
    Flüchtlinge leiden unter mangelnder Empathie der Letten
    Gabriel Warkefi sieht das ganz anders. Die Passivität der Letten und die mangelnde Empathie seien für ihn ein Riesenproblem, sagt der Flüchtling aus Eritrea. Zwar bekam er nach ein paar Monaten eine Aushilfsanstellung als Sozialarbeiter. Dafür wurde ihm aber das Flüchtlingsgeld gestrichen. Warkefi sagt, er musste seinen einzigen lettischen Freund auch danach immer noch um Kleidungsstücke bitten.
    "Ich würde das Umverteilungsprogramm heute nicht noch einmal nutzen. Ich würde eher noch mal aufs Mittelmeer fahren und mein Glück versuchen. Wenn ich sterbe, dann wenigstens mit meiner Frau, nicht alleine. Aber hier in Lettland, das ist weder Leben noch Sterben."
    Seit Mitte September sind nach Angaben des Innenministeriums 36 weitere Asylbewerber über das EU-Umverteilungsprogramm nach Lettland gekommen. Sie warten nun darauf, offiziell als Flüchtlinge anerkannt zu werden. Gabriel Warkefi werden sie nicht mehr kennenlernen. Er, der so lange in Lettland gelebt hat wie kein anderer umverteilter Flüchtling, hat mit seiner schwangeren Frau das Baltikum nun auch verlassen. Nach Informationen des Deutschlandfunks ist er nach Hessen gereist.