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Umwandlungsmechanismus aufgeklärt
Wie Nervenzellen enstehen

Neuronale Stammzellen sind der Grundbaustein für unser Gehirn - und müssen bei dessen Entwicklung enorme Aufgaben bewältigen. Forscher der Universität Bonn haben nun aufgeklärt, welcher Mechanismus die Zellvermehrung steuert - und dabei festgestellt: Die Biomoleküle funktionieren ähnlich wie Gas und Bremse im Auto.

Von Michael Lange | 14.11.2016
    Aus humanen pluripotenten Stammzellen gewonnene humane neurale Stammzellen Immunfluoreszenzfärbung, bei der für neurale Stammzellen charakteristische Proteine mit Antikörpern farbig markiert wurden. (Nestin in rot, ZO1 in grün, Zellkerne in blau)
    Immunfluoreszenzfärbung, bei der für neurale Stammzellen charakteristische Proteine mit Antikörpern farbig markiert wurden. (Laura Stappert, Universität Bonn)
    Das Labor des Instituts für Rekonstruktive Neurobiologie der Universität Bonn. Im Brutschrank wachsen bei 37 Grad Celsius Stammzellen. Sie entwickeln sich weiter zu neuralen Stammzellen und reifen anschließend zu Nervenzellen heran. Die Wissenschaftlerin Laura Stappert holt zwei kleine, runde Schälchen mit Zellkulturen aus dem Schrank.
    "Wir haben hier zwei Platten mit Zellen. Auf der ersten Platte die neuralen Stammzellen in ihrem Normalzustand. Da sieht man, dass die Zellen sich vermehren. Die Platte wird immer dichter wachsen."
    Unter dem Mikroskop ist klar zu sehen: Die Zellen sind kompakt und bilden keine Fortsätze. Ganz anders die Zellen in der zweiten Plastikschale.
    "Da sieht man: Es sind viel weniger Zellen auf der Platte, weil sie sich nicht mehr teilen. Und die Zellen beginnen, die für Nervenzellen typischen Fortsätze auszubilden."
    Neuronale Stammzellen sind Grundbaustein für unser Gehirn
    Im Grunde ganz einfach: Zunächst die Vermehrung der Stammzellen in Schale eins. Dann die Entwicklung zu Nervenzellen oder anderen Zellen des Gehirns in Schale zwei.
    Bei der Gehirnentwicklung jedes Menschen läuft dieser Prozess milliardenfach ab, im Fötus und auch noch nach der Geburt. Pro Minute entstehen so 250.000 neue Nervenzellen.
    "Die neuralen Stammzellen sind sozusagen der Grundbaustein für unser Gehirn. Sie bilden das Gehirn und müssen eine enorme Aufgabe bewältigen. Wir haben ja hundert Milliarden Nervenzellen in unserem Gehirn, und die stammen alle von einer kleinen Population von neuralen Stammzellen ab."
    Laura Stappert und ihre Kollegen haben zwei Faktoren untersucht, die die Entwicklung der neuralen Stammzellen strikt kontrollieren. Da ist zum einen der bekannte Notch-Signalweg. Er besteht aus einzelnen Proteinen. Sie fördern die Teilung der Stammzellen und verhindern die Ausreifung.
    Nervenzellen mit der typischen Ausbildung von langen Nervenfortsätzen. Immunofluoreszenzfärbung gegen das neuronale Protein beta-III Tubulin (grün). Die Zellkerne sind in blau angefärbt.
    Nervenzellen mit der typischen Ausbildung von langen Nervenfortsätzen. Immunofluoreszenzfärbung gegen das neuronale Protein beta-III Tubulin (grün). Die Zellkerne sind in blau angefärbt. (Laura Stappert, Universität Bonn)
    Das Forscherteam aus Bonn entdeckte nun einen zweiten wichtigen Mitspieler: Die Mikro-RNA 9. RNA ist gewissermaßen der kleine Bruder des Erbmoleküls DNA. Die Biomoleküle transportieren genetische Informationen, aber sie steuern auch die Aktivität der Gene. Das gilt insbesondere für die Mikro-RNA. Diese kleinen RNA-Schnipsel bestimmen mit, welche und wie viele Proteine nach den Bauplänen im Erbgut produziert werden. In der Fachzeitschrift "Stem Cell Reports" beschreiben die Bonner Wissenschaftler, wie beide Faktoren zusammenwirken.
    "Zunächst haben beide genau den gegenteiligen Effekt auf unsere Zellen. Notch fördert die Zellvermehrung und erhält den Stammzellenstatus aufrecht. Die Mikro-RNA 9 hingegen hemmt die Zellvermehrung und drängt die Zellen dazu, Nervenzellen auszubilden. Dann interagieren die beiden Faktoren aber auch miteinander. Die Mikro-RNA 9 hemmt den Notch-Signalweg. Der interessante Punkt ist nun, dass Notch selber die Produktion der Mikro-RNA 9 anregt. Es produziert seinen eigenen Hemmstoff."
    Auf der einen Seite das Gaspedal, auf der anderen Seite die Bremse
    Gemeinsam steuern Notch und Mikro-RNA 9 die Geschwindigkeit der Entwicklung von der Stammzelle zur Nervenzelle. Im Labor können die Wissenschaftler nun die Entwicklung der Zellen von außen exakt kontrollieren, erklärt der Leiter des Instituts für Rekonstruktive Neurobiologie Oliver Brüstle.
    "Vereinfacht kann man sagen: Man hat auf der einen Seite ein Gaspedal für die Teilung und Vermehrung von Stammzellen und auf der anderen Seite ein Bremspedal, das die Stammzellenteilung blockiert und die Stammzellen Richtung Ausreifung drängt, Richtung Nervenzellen."
    Wie beim Autofahren, mit einem entscheidenden Unterschied: Beide Pedale sind gekoppelt: Jedem Tritt auf das Gaspedal folgt automatisch die Bremse, damit es auf gar keinen Fall zu schnell geht bei der Entwicklung der Nervenzellen. Umgekehrt ist es anders. Wenn das Auto steht, folgt auf die Bremse kein erneuter Tritt auf das Gaspedal. Übertragen auf die Zellzüchtung bedeutet das: Die Entwicklung zur Nervenzelle ist abgeschlossen – die Zeit als Stammzelle vorbei.