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Umweltgifte
Welche Dosis macht das Gift?

Feinstaub macht krank, genauso wie Blei oder Weichmacher im Trinkwasser. Grenzwerte sollen schützen, aber es häufen sich Berichte, wonach auch geringste Konzentrationen noch Schaden anrichten. Was ist dran an den Vorwürfen?

Von Volkart Wildermuth | 29.07.2018
    Berufsverkehr auf der Aachener Straße in Köln
    Die Politik versucht, die Schädlichkeit von Umweltgiften mit Grenzwerten zu minimieren. Reicht das? (imago stock&people)
    Die Dosis macht das Gift. Es gibt Hinweise, die das Gegenteil dieser vermeintlich gesicherten Aussage nahelegen, nämlich dass Umweltchemikalien auch in kaum nachweisbaren Spuren den Einzelnen und die Gesellschaft als Ganzes schädigen. Bis zu zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts kosten uns all die Gifte, rechnet eine Studie des US-Amerikaners Philippe Grandjean vor.
    Andererseits steigen in Deutschland Lebenserwartung und Wirtschaftsleistung seit Jahren an. Wie passt beides zusammen? Welche Gifte sind in welcher Konzentration tatsächlich fatal für sich entwickelnde Gehirne? Welche führen zu Unfruchtbarkeit und welche triggern Krebs? Wer nach Antworten sucht, stößt auf eine unübersichtliche Landschaft, in der bösartige Giftzwerge und gutmütige Scheinriesen umherziehen.

    Im Medizinstudium Anfang der Siebziger in Kopenhagen hörte Philippe Grandjean nichts über giftige Chemikalien. Weit weg, in Japan, hatte eine Chemiefabrik da schon jahrzehntelang quecksilberhaltige Abwässer einfach in einen Fluss geleitet. Minamata ist zum Begriff geworden für einen der größten Umweltskandale.
    "Davon erfuhr ich nur, weil mein Bruder bei der ersten Umweltkonferenz der Vereinten Nationen 1972 in Stockholm war. Ich saß vor dem Fernseher, meinen Bruder habe ich nicht entdeckt. Aber es gab Bilder von einer Demonstration. Patienten aus Japan wollten zeigen, dass Umweltgifte tödlich sein können, dass sie schreckliche Krankheiten auslösen. Diese Leute waren aus Minamata und litten an einer Vergiftung mit Methylquecksilber. Das hat mich sehr bewegt."
    Seit 1972 hat sich viel getan. Nicht nur für das hochgifte Quecksilber wurden strenge Regeln beschlossen. Aber Philippe Grandjean ist immer noch nicht zufrieden. Im Gegenteil:
    "Bei Blei konnten wir es zum ersten Mal nachweisen, dann bei Quecksilber aus Fisch, dann bei den PCBs und bei Pestiziden. Langsam wurde uns bewusst: diese Substanzen schädigen die Gehirnentwicklung. Als wir dem nachgingen, sahen wie die Effekte bei niedrigeren und immer niedrigeren Konzentrationen. Das gilt wohl für sehr viele Chemikalien."
    Schädigungen auch unterhalb der Grenzwerte
    Schwermetalle in der Nahrung, giftige Chemikalien auf der Haut, dicker Smog - klar ist das gesundheitsschädlich und manchmal tödlich. Deshalb gibt es Grenzwerte. Und Grenzwerte haben viel bewirkt, keine Frage, Aber gerade weil zum Beispiel die Luft sauberer geworden ist, sehen wir die subtilen Effekte. Im Niedrigdosisbereich sind sehr viel mehr Frauen, Männer, Kinder betroffen, als von den großen Giftkatastrophen.
    "In den Bereichen auch unterhalb der europäischen Grenzwerte sehen wir ganz klare Zusammenhänge zwischen der Luftqualität und vorzeitiger Sterblichkeit, Herzinfarkten, Schlaganfällen, mit Einschränkungen der Atemfunktion, mit einer Einschränkung des Lungenwachstums bei Kindern."
    Das ist Barbara Hoffmann. Sie ist Mitglied der Kommission Umweltmedizin beim Bundesgesundheitsministerium. Auch dort stehen die Niedrigdosis-Effekte immer häufiger auf der Tagesordnung.
    Bleibelastung senkt IQ
    Als der angehende Umweltmediziner Philippe Grandjean die Bilder der Menschen mit Quecksilbervergiftung aus der Japanischen Stadt Minamata sah, hat das nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen:
    "Ich fragte mich, warum erfahre ich davon nichts an der Uni? Ich habe mich selbst weitergebildet und dann noch in der Ausbildung meinen ersten Artikel über Bleivergiftungen geschrieben."
    Bleivergiftungen sind eigentlich ein alter Hut. Schon der griechische Arzt Dioskurides nutzte Blei zwar als Heilmittel, warnte aber auch: "Blei lässt den Geist schwinden." Das traf vor allem Arbeiter, die mit Blei zu tun hatten. 1904 wurden dann die ersten Vergiftungen bei Kindern durch bleihaltige Farbe dokumentiert. Trotzdem wurde immer mehr Blei verarbeitet. In den 1970ern dann die ersten Verbote. Die Bleibelastung ging deutlich zurück. Ein großer Erfolg der Umweltgesetzgebung. Aber das Schwermetall war in der Welt: als weiße Bleifarbe an alten Fenstern, in Wasserrohren in manchen Altbauten, vor allem aber fein verteilt in vielen Böden, weltweit und auch in Deutschland.
    Nicht nur Erdbeeren enthalten Spuren von Blei. Unerheblich, könnte man meinen, aber Philippe Grandjean und andere Forscher konnten zeigen, dass es bei Blei keine verlässlichen Grenzwerte gibt.
    "Die einzige sichere Konzentration von Blei liegt bei Null. Auch winzige Mengen sind toxisch."
    Akute Symptome fehlen und trotzdem schädigt das Schwermetall bei Erwachsenen auf Dauer das Herz-Kreislaufsystem. Laut einer aktuellen Studie lassen sich in den USA jedes Jahr 400.000 Sterbefälle der niedrigschwelligen Bleibelastung zuschreiben. Phillipe Grandjean konzentriert sich in seiner Forschung auf die Hirnentwicklung bei Kindern. Dabei hat er beobachtet: Je höher die Bleikonzentration im Blut, desto schlechter schneiden sie im Durchschnitt in Intelligenztests ab. Besonders irritierend: Wenn man sich den Zusammenhang ansieht, dann steigt die Kurve gerade am Anfang steil an. Ein Großteil der Effekte tritt also schon bei ganz kleinen Konzentrationen von Blei auf.

    "Man kann sagen, das ist eine stille Pandemie, es gibt keine neuen Diagnosen, die Kinder entwickeln aber weniger Talente, als sie sonst gehabt hätten. Nach unseren Berechnungen ist Blei nach wie vor die Nummer eins unter den Chemikalien, die das Gehirn von Feten und Kindern schädigen. Wir müssen die Bleibelastung noch weiter senken."
    2017 hat eine Studie ermittelt, wie viel Blei Kinder in den Niederlanden zu sich nehmen und welchen Einfluss das auf ihren IQ haben wird.
    "Bei den bis zu Siebenjährigen führen die beobachteten Konzentrationen zu einem Absinken des IQ-Werts um 1,7 Punkte."
    Spielzeugsammler Marko Kogmann präsentiert am 28.09.2013 DDR-Spielzeuge im neuen DDR-Spielzeugmuseum in Aschersleben (Sachsen-Anhalt).
    Vor allem in Farben und Lacken der Spielwaren können Schwermetalle enthalten sein (dpa / Matthias Bein)
    Wirtschaftliche Auswirkungen
    Niemand bemerkt, ob ein bestimmtes Kind 1,7 IQ-Punkte mehr oder weniger erreicht, und trotzdem kann die Belastung über die Jahre Auswirkungen haben. Philippe Grandjean hat nicht nur Blei untersucht:
    "Kinder, die kurz vor und nach der Geburt Substanzen ausgesetzt sind wie Blei, Quecksilber über Fisch, Pestizide und so weiter, die werden einen etwas geringeren IQ erreichen. Sie werden nicht so hohe Schulabschlüsse bekommen und weniger gut verdienen."
    Niemand weiß, welches Potenzial dieses Mädchen oder dieser Junge gehabt hätten. Erst große Vergleichsstudien zeigen: Auf der Ebene der Gesellschaft gibt es hier ein relevantes Problem - das nach Meinung von Philippe Grandjean weder von den Regierungsbehörden noch von der Politik ernst genug genommen wird. Deshalb hat sich der Umweltmediziner mit Wirtschaftswissenschaftlern zusammengetan und seine Sorgen in Cent und Euro umrechnen lassen.
    "Ökonomen können den Verlust eines IQ-Punkts in einen Einkommensverlust übersetzen. Hier geht es um Milliarden von Euro jedes Jahr, verursacht durch den IQ-Verlust, weil junge Deutsche mit diesen Giften im Körper geboren werden.
    Ohne Daten keine Einschränkungen
    Kleine Effekte können sich summieren. Dabei hat Europa doch eigentlich einen Sicherheitsschirm zur Bewertung und Kontrolle gefährlicher Substanzen: REACH. Zuständig in Deutschland ist das Bundesinstitut für Risikobewertung.
    "Wir können uns nicht um alle registrierten Stoffe kümmern. 20.000 Stoffe sind registriert. Wir sind dafür zuständig, die besonders problematischen herauszufiltern, uns zu denen ein Bild zu machen und dann zu prüfen, ob Maßnahmen nötig sind, die wir dann vorschlagen können."
    Agnes Schulte, Leiterin der Fachgruppe Chemikaliensicherheit, arbeitet sich mit ihren Kollegen aus ganz Europa durch ein Datengebirge. Denn das Grundprinzip der Chemikalienrichtlinie lautet: no Data - no market, ohne Sicherheitsdaten keine Vermarktung. Bei Blei liegen die Daten vor. Es ist klar: Einen sicheren Grenzwert gibt es nicht, hier kommt es darauf an, die Belastung der Verbraucher Schritt für Schritt zu reduzieren.
    "Da kann man natürlich unter REACH etwas machen und hat natürlich auch schon ganz viel gemacht. Da gab es in den letzten Jahren eine Beschränkung, die Blei für die Verwendung in Modeschmuck und Schmuck vorgesehen hat. Das ist längst umgesetzt worden von der EU-Kommission."
    Nächstes Jahr wird wohl auch bleihaltige Jagdmunition in Feuchtgebieten verboten.
    "Der Punkt ist aber natürlich, man kann nicht hingehen und einen Stoff generell verbieten für alle Verwendung. Es muss erst einmal der Nachweis über ein annehmbares Risiko vorliegen und ich muss genau identifizieren, wo dieses Risiko herkommt. Also wenn ich nicht weiß, woher mein Eintrag stammt, kann ich jetzt nicht berechtigt jede Verwendung verbieten. Das ist nicht möglich."
    Ohne Daten keine Einschränkungen. Die Hersteller prüfen die Gefährlichkeit von Chemikalien in Tierversuchen und zwar in einer hohen, einer mittleren und einer niedrigen Dosis. Die muss so gewählt werden, dass bei den Mäusen oder Ratten keine gesundheitlichen Probleme auftreten. Das ist nach Ansicht von Agnes Schulte der wichtigste Schutz vor unerwarteten Wirkungen bei kleinen Konzentrationen.
    "Wenn wir Studien haben, die eine Dosis ohne Effekt zeigen, dann habe ich da jetzt nichts übersehen, sagen wir mal so."
    Andererseits: Tierversuche bilden nicht das ganze Gefährdungspotenzial ab.

    "Sie können natürlich keine Aussagen machen zu Effekten, die Sie nicht untersuchen. Ein Test an Ratten wird nie eine Studie zu verschiedensten kognitiven Leistungen beim Kind ersetzen. Das können wir natürlich einfach nicht. Das geht nicht."
    Kombinierte Grenzwerte für Weichmacher
    Das Bundesinstitut für Risikobewertung sichtet neben den Industriestudien deshalb auch breit die wissenschaftliche Literatur. Das ist alles andere als einfach. Beispiel Phthalate. Diese Substanzen stehen in Verdacht, hormonähnliche Wirkung zu haben und dadurch zum Beispiel Übergewicht und die Zuckerkrankheit zu begünstigen. Agnes Schulte betont hier, dass man all die unterschiedlichen Stoffe nicht über einen Kamm scheren darf. Die Industrie verwendet eine große Vielfalt an Phthalaten als Weichmacher in Kunststoffen. Bei den Analysen hat sich Agnes Schulte erst einmal auf das Phthalat konzentriert, von dem in Europa am meisten produziert wird.
    "Und das, was wir zu diesem Stoff gefunden haben, war, dass er ausreichend geprüft war und wir haben auch keine gefährlichen Stoffeigenschaften identifizieren können, somit auch kein Risiko für den Verbraucher identifizieren können. Der Verbraucher möchte ja auch viele Produkte haben, dann denke ich, es ist auch gut, wenn wir wissen, dass diese Stoffe sicher sind für den Verbraucher."
    Gerade für das wichtigste Phthalat gab REACH also Entwarnung. Es gibt aber eine Gruppe von vier anderen Phthalaten, die das Hormonsystem tatsächlich durcheinanderbringen. Und weil sie alle die Zellen auf die gleiche Weise stören, verstärken sich ihre Effekte sogar gegenseitig. Darauf wird die EU jetzt mit einem kombinierten Grenzwert reagieren.
    "Also das ist das Prinzip, was man anwendet, um sicherzustellen, dass nicht ein einzelnes Phthalat darüber geht oder mehrere gemeinsame eben den Grenzwert überschreiten."
    Mit der Strategie der kombinierten Grenzwerte will REACH die Wechselwirkung von Chemikalien in den Griff bekommen.
    Das sind gute Ansätze, findet Philippe Grandjean, sie gehen ihm aber nicht weit genug.
    "Ich muss anmerken, dass wir für die Zulassung neuer oder breit eingesetzter Chemikalien nicht einmal nach Tests fragen, die eine Giftwirkung auf das sich entwickelnde Gehirn erkennen könnten. Wir prüfen das einfach nicht. Und so sind viele Pestizide zugelassen worden, die sich später als schädlich für die Gehirnentwicklung herausgestellt haben."
    Es dauert lange, bis sich die Schäden verlässlich nachweisen lassen. Zeit, in der Kinder und Erwachsene den Substanzen weiter ausgesetzt sind. Schon bei einem Verdacht mit Verboten zu reagieren ist aber unter REACH nicht vorgesehen: ohne Daten keine Einschränkung. Und die Datenlage ist eben oft alles andere als eindeutig.
    "Das Problem mit Effekten im Niedrigdosisbereich ist ja auch, dass sie dann mehrere Studien haben, die alle unterschiedliche Niedrigdosiseffekte haben, dann fragen Sie sich: Ist da eine ausreichende Beweiskraft da zu sagen, dass dieser einzelne Niedrigdosiseffekt, dass das ein robuster Effekt ist, den sie jetzt regulieren sollen? Also der stellt sich für uns immer. Und das ist häufig nicht der Fall."
    Luftschadstoffe verringern Produktivität am Arbeitsplatz
    REACH ist vor allem für die Kontrolle von Industriechemikalien zuständig. Es gibt aber noch viel mehr Substanzen, die auch in kleinen Dosen ungesund sind. Bestes Beispiel: Luftschadstoffe.
    "Viele Forschungsprojekte zeigen, es gibt jenseits von Krankenhausaufenthalten und Sterbefällen auch Einflüsse auf die Produktivität am Arbeitsplatz. Also die Leute fühlen sich wohl genug, um zur Arbeit zu gehen. Es geht ihnen nicht so schlecht, dass sie sich dort krank fühlen, aber ihre Produktivität sinkt."


    Umwelt, Gesundheit und Ökonomie hängen eng zusammen, davon ist Mathew Neidell überzeugt. Und das nicht erst, wenn der Smog so dick ist, dass man kaum die nächste Straßenecke erkennt. Der Wirtschaftswissenschaftler ist von seiner Universität in New York zu den Obstpflückern nach Kalifornien gereist. An Tagen mit hohen Ozonwerten ernten sie etwa fünf Prozent weniger Beeren oder Trauben. Das fällt ihnen auf den Plantagen kaum auf. Aber am Abend haben sie weniger verdient, denn in den Betrieben wird nicht nach Arbeitsstunden, sondern nach Kilo Obst bezahlt.
    "Wir halten das für einen beachtlichen Effekt. Diese Leute verdienen oft kaum den Mindestlohn. Wenn ihr Einkommen um fünf Prozent sinkt, dann fällt ihnen das auf."
    Bodennahes Ozon entsteht zum Beispiel, wenn UV Strahlung auf Stickoxide trifft. Das Gas ist reaktiv, die Halbwertszeit kurz, deshalb spielt es in Innenräumen kaum eine Rolle. Dafür sorgt in Werkhallen und Büros der Feinstaub für Probleme und das selbst in kleinen Konzentrationen. Mathew Neidell kann das mit Statistiken aus Callcentern in Indien belegen.
    "Da gibt es ähnliche Muster. Sobald die Verschmutzung anstieg, wurden weniger Anrufe angenommen, die Leute machten mehr Pausen. Aber wir haben auch gesehen, wie ihre Produktivität sank."
    Sogar die Banker an der New Yorker Börse verdienen weniger, wenn die Luft nicht so frisch ist. Es gibt inzwischen also genug Daten zu den Niedrigdosiseffekten. Und doch bleibt der Statistik-Experte Walter Krämer vom RWI- Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung in Essen skeptisch.
    "Die Epidemiologie ist da ein bisschen unter Beschuss geraten. Denn um einen kleinen Effekt zu isolieren, muss man natürlich alle anderen kleinen Effekte konstant halten oder muss man raus rechnen. Und das ist eine sehr, sehr schwierige Kunst, sodass sehr oft Scheineffekte entdeckt werden, die gar nicht existieren."
    Junge müde Frau im Büro am Laptop.
    Die Luftqualität hat Auswirkungen auf die Produktivität am Arbeitsplatz (imago)
    Krämer rät zur Zurückhaltung, gerade weil die Diskussion auch eine wichtige psychologische Dimension hat.
    Risikowahrnehmung und Bedrohung klaffen auseinander
    "Sobald von einem Risiko in der Öffentlichkeit gesprochen wird, existiert es auch im Bewusstsein der Leute. Auf jeden Fall sagt das Bauchgefühl dann den Leuten: Jeder Todesfall ist zu viel."
    Thorsten Pachur beschäftigt sich am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung mit der Wahrnehmung von Risiken und stellt immer wieder fest: Die Wahrnehmung eines Risikos und die tatsächliche Bedrohungslage klaffen häufig auseinander. Giftzwerge blähen sich auf zu Scheinriesen. Und neue Gefahren gelten den Menschen dabei als besonders gefährlich.
    "Insbesondere sind es auch Gefahren, die sie nicht selber kontrollieren können, und wenn sie wahrnehmen, dass sie einer gewissen Gefahr quasi schutzlos ausgeliefert sind und beispielsweise nichts - nicht direkt zumindest - gegen die Gefährdung durch die Umweltverschmutzung tun können, dann fühlen sie sich einem gewissen Risiko ausgesetzt und empfinden das eben auch subjektiv mit ihrem Gefühl, mit ihrem Bauchgefühl als risikoreich."
    Der Griff zur Zigarette oder der Fallschirmspringer sind im Grunde bekannt und vor allem: Jeder entscheidet für sich selbst.
    "Was man aus dem Umgang von Menschen mit Risiko weiß ist, dass selbst wenn die Gefahr sehr, sehr, sehr klein ist, also hier beispielsweise die Wahrscheinlichkeit 0,00001 Prozent ist, machen die Leute sich viel mehr Sorgen, als wenn die Gefährdung tatsächlich Null ist. Und die Leute sind bereit, sehr große Geldbeträge auch zu zahlen, um eben so ein Risiko vollkommen zu reduzieren."
    "Aber das ist ja irrational, weil Null Risiko gibt es ja praktisch nie?"
    "Korrekt. Aber das hat damit zu tun, dass es überhaupt solche kulturellen Errungenschaften gibt wie Medien, da hören wir von Risiken, die uns möglicherweise, sehr wahrscheinlich im Alltag nie begegnet wären. Und das führt dann eben auch zu einer gewissen Verzerrung."
    Belastung vorgeschädigter Personen
    Aus einer Vielzahl von psychologischen Gründen starrt die menschliche Wahrnehmung wie mit einer Lupe auf die Niedrigdosiseffekte. Sind die Sorgen also irrational? Schließlich geht es den Menschen in Deutschland im Durchschnitt ziemlich gut! Das stimmt, nur einigen eben nicht, und die kommen in die Sprechstunde von Annette Peters.
    "Aus meiner Sicht kann man sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass manches, was wir hier diskutieren, Luxusprobleme sind. Aber die Perspektive ändert sich möglicherweise, wenn man Asthmatiker ist oder wenn man sozusagen schon unter einer Vorerkrankung leidet. Von seinem Lebensstil her alles richtig macht, aber trotzdem immer wieder Symptome hat. Das heißt, wir haben ja eigentlich die Vorstellung, dass wir alle Personen in der Bevölkerung schützen. Und von daher, denke ich, ist es letztlich kein Luxusproblem."
    Die Direktorin des Institutes für Epidemiologie am Helmholzzentrum München kennt natürlich die Unsicherheiten großer Studien. Deshalb versucht sie, die Zusammenhänge im Detail zu klären.
    "Wir haben Freiwillige eingeladen, ein Messgerät mit nach Hause zu nehmen, ihre Aktivitäten aufzuschreiben und die Personen waren so toll, dass sie praktisch das bis zu siebenmal gemacht haben, weil wir das eben nicht nur einmal machen wollten, die Schadstoffe zu Hause messen und im Verkehr sondern auch wiederholt. Und wir haben dann zum Beispiel gesehen, dass in der Tat eine hohe Belastung zu ultrafeinen Partikeln, also zu verkehrsabhängigen Partikeln, den Herzrhythmus verändert. Nicht so, dass es bei einer gesunden Person wirklich schädlich sein kann, aber doch so, dass möglicherweise eine Person, die ein starkes Risiko für Herzrhythmusstörungen hat, da eben auch eine klinisch relevante Arhythmie ausgelöst werden könnte."

    "Das sind jetzt ja Effekte, die noch unterhalb dieses Levels einer wirklichen Krankheit stattfinden, die sich auch gar nicht unbedingt zum Herzinfarkt weiterentwickeln. Geht es im Grunde eher um, sagen wir mal, Befindlichkeitsstörungen?"
    "Aus unserer Sicht sind diese Effekte sehr wohl relevant, wenn man sich überlegt, dass im Prinzip die gesamte Bevölkerung zum Teil in diesem Niedrigdosisbereich Umweltschadstoffen ausgesetzt ist."
    Eine Frau mit Asthmaspray
    Asthmatiker können schon durch niedrige Schadstoffbelastung beeinträchtigt werden (dpa / PA Wire / Peter Byrne)
    Grenzwerte schützen nicht effektiv vor Gesundheitsfolgen
    Die Belastungen betreffen im Grunde alle Menschen und sie werden auch nicht an einigen wenigen Tage mit Inversionswetterlage erreicht, sondern im Alltag, im ganz normalen Leben, Tag für Tag, Jahr für Jahr. So erklärt sich Barbara Hoffmann, dass diese kleine, aber chronische Dauerbelastung unterhalb der Grenzwerte Folgen hat. Barbara Hoffmann forscht an der Universität Düsseldorf und ist stellvertretende Vorsitzende der Kommission Umweltmedizin, die das Bundesgesundheitsministeriums berät. Sie sagt: Sowohl Politik als auch Forschung müssen reagieren.
    "Insbesondere für die chronischen Effekte brauchen wir ganz andere Studiendesigns, da müssen wir über viele Jahre hinweg große Bevölkerungsgruppen beobachten und schauen, vergleichen, inwieweit diejenigen, die in stärker verschmutzten Gegenden leben, welche Krankheiten, wie viele Krankheiten die über einen langen Zeitraum entwickeln und die dann vergleichen mit anderen Menschen, die in sauberer Luft leben. Also Studien müssen sehr groß sein, mit vielen tausenden Probanden und wir müssen die auch über viele Jahre beobachten."
    "Und gibt es da schon erste Ergebnisse, dass zum Beispiel meinetwegen Stickoxide besonders problematisch sind oder Feinstaub oder Ozon, dass es da klare Schuldige gibt, die man auch angehen könnte?"
    "Ja das gibt es schon. Wir wissen schon seit langem, dass der Feinstaub die Mortalität, also die Sterblichkeit erhöht und viele Krankheiten auslöst, auch im Niedrigdosisbereich. Aus der bisherigen Evidenz kann man sagen: Wir kennen bisher keinen Wert, unterhalb dem Feinstaub ungefährlich wäre. In Europa ist der Grenzwert zur Zeit bei 25 µg/Kubikmeter, die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt einen Wert von 10 µg/Kubikmeter, aber selbst unterhalb dieser 10 µg können wir Gesundheitseffekte auf die Mortalität und auch auf das Eintreten von Herzinfarkten und Schlaganfällen erkennen. Und was wir bisher sehen, ist, dass die Wirkung pro Mikrogramm in dem unteren Bereich, also bei niedrigeren Belastungen, sogar stärker ist als im höheren Bereich. Also speziell so in den Dosisbereich, in dem wir uns jetzt befinden, bringt jedes Mikrogramm pro Kubikmeter Abnahme der Luftverschmutzung einen noch größeren Gesundheitsgewinn."
    "Heißt das, dass man die Grenzwerte im Grunde nach unten anpassen muss? Ich meine, es werden die geltenden Grenzwerte sowieso schon nicht immer erreicht."
    "Ja, das heißt, dass die Grenzwerte, so wie wir sie zur Zeit in Europa haben, die Bevölkerung nicht effektiv vor den Gesundheitsfolgen der Luftverschmutzung schützen. Und deswegen sollten die Grenzwerte auch abgesenkt werden."
    Annette Peters: "Was bedeutet, dass man in gewisser Weise auch eine gesellschaftliche Debatte braucht: Wie viel Gesundheit und wie viel saubere Umwelt können wir uns leisten? Weil es eben diese bequeme Vorstellung, es gibt ein Level, darüber ist es ganz schlimm und da drunter ist es ganz unschädlich, nicht gibt. Und das scheint so zu sein, dass je genauer man hinschaut, dies für eine ganze Menge von Umweltschadstoffen gilt.
    Unterschiedliche Einschätzungen des Risikos
    Auch wenn Umweltgifte in unserer Wahrnehmung oft überbewertet werden, so bleiben sie doch, was sie sind: Gifte. Annette Peters ist überzeugt: Die Forschung allein kann nicht entscheiden, wie mit den Scheinriesen und Giftzwergen umzugehen ist. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Frage und entsprechend viele Meinungen gibt es auch. Philippe Grandjean etwa würde bereits bei einem ersten Verdacht Beschränkungen erlassen.
    "Das ist vielleicht ein bisschen hart, wenn zum Beispiel ein Pestizid erst als neurotoxisch gilt und sich später als unproblematisch erweist. Aber wenn es um den Schutz der Gehirnentwicklung geht, halte ich so ein Vorsorgeprinzip für wichtiger als einen Preisvorteil beim Gemüseanbau durch diese Chemikalien."
    Sagt Philippe Grandjean, der die Niedrigdosiseffekte von Blei und Pestiziden zu hohen gesellschaftlichen Folgekosten hochgerechnet hat. Deutlich zurückhaltender ist da der Statistiker Walter Krämer.
    "Angenommen es wäre wirklich so, ich will es gar nicht abstreiten, dass Blei im Trinkwasser den IQ um einen Punkt senkt weltweit, dann ist das volkswirtschaftlich ein riesiger Verlust, und da würde sich jede Investition lohnen, Bleirohre durch andere zu ersetzen. Das will ich gar nicht abstreiten. Aber dann muss ich immer wieder darauf verweisen, dass beide Indikatoren, sowohl unsere Gesundheit - gemessen durch den einzigen wahren Indikator, der das wirklich misst, nämlich die Lebenserwartung - wie auch die Wirtschaftsleistung - gemessen durch den einzigen Indikator dafür, nämlich das Sozialprodukt - beide seit Jahren in Deutschland stark steigt, sodass diese ganzen Ängste eigentlich an den Haaren herbeigezogen sind."
    Krämer schlägt vor, als erstes die bekannten großen Risiken anzugehen, zum Beispiel die Straßen sicherer zu machen. Er blickt auf die steigende Lebenserwartung und rät zur Gelassenheit.
    "In gewissem Maße ist eine hohe Mortalität an Stickoxidbelastung ein positives Qualitätsmerkmal, weil die Leute an anderen Dingen nicht gestorben sind."
    Es geht darum, abzuwägen: Welche Einschränkungen im Verkehr sind akzeptabel, um die Feinstaubbelastung und damit die Häufigkeit von Herzkreislaufleiden weiter zu senken? Würde es sich lohnen, Lebensmittel aus anderen Ländern mit bleiarmen Böden zu importieren, um die geistige Entwicklung der Kinder ein wenig zu verbessern? Es ist aufwendig und teuer, niedrige, eher diffuse Belastungen weiter zu senken. Aber diese Kosten könnten mehr als aufgewogen werden durch den Gewinn an Gesundheit und Produktivität. Allerdings fallen Kosten und Einsparungen nur selten an ein und derselben Stelle an und so bewertet jeder die Giftzwerge aus seiner Warte.
    Epidemiologen wie Barbara Hoffmann: "Also einfach Augen zu machen und denken, es wird schon nichts ausmachen, ist sicherlich nicht der richtige Weg."
    Ökonomen wie Matthew Neidell: "Es ist vermutlich eine gute Idee, Schadstoffkonzentrationen zu senken. Aber man kann gleichzeitig noch sehr viel mehr tun, um das menschliche Kapital zu stärken. Die Gesellschaft könnte in bessere Schulen investieren, das sind sehr wichtige Maßnahmen."
    Chemikerinnen wie Agnes Schulte: "Es gibt eine ganze Palette von Stoffen, die jetzt drastisch geregelt sind und beschränkt worden sind auch für den Verbraucher oder für die Verbrauchverwendung, da hat sich schon sehr Vieles getan."
    Und Umweltmediziner wie Philippe Grandjean, dessen Mission in den 70er-Jahren begann, und noch lange nicht beendet ist: "Ich bin überzeugt, die menschliche Intelligenz wird Wege finden, uns so zu organisieren, dass wir uns nicht gegenseitig zwingen, Stickoxide einzuatmen, Feinstaub, polyzyklische Kohlenwasserstoffe oder giftige Metalle. Es kann gelingen, ich bin optimistisch."