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UN-Sonderbotschafterin Nadia Murad
"Noch immer sind 3.000 Frauen und Kinder in IS-Gefangenschaft"

Massenerschießungen und Vergewaltigungen von Frauen - all das geht auf das Konto der IS-Terroristen im Irak. Die 24-jährige Jesidin Nadia Murad hat das miterlebt und ist der IS-Hölle entkommen. Als UN-Sonderbotschafterin kämpft sie für die Befreiung der Jesiden, die noch in IS-Hand sind. Bei einem Besuch in Berlin warb sie vor Politikern für ihre Anliegen.

Von Sandra Stalinski | 04.04.2017
    Die Jesidin Nadia Murad.
    UN-Sonderbotschafterin Nadia Murad: "Diese Verbrechen müssen bestraft werden." (imago / CTK Photo)
    Auf den ersten Blick wirkt Nadia Murad schüchtern und zerbrechlich. Sie ist klein, sehr schmal, weicht Blicken aus. Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, was diese Frau hinter sich hat. Noch vor zweieinhalb Jahren führte sie ein glückliches, einfaches Leben in dem kleinen Dorf Kocho in der Nähe der Stadt Sindschar im Nordirak. Dann kamen die Terroristen vom Islamischen Staat:
    "Als der IS anfing, Dörfer und Städte in unserer Region zu überrennen, war uns nicht klar, dass er auch bis in unser Dorf kommen würde. Wir haben mitbekommen, dass Mossul und Tel Afar betroffen waren, aber wir hätten nicht gedacht, dass es auch uns betreffen könnte und dass wir missbraucht, vergewaltigt, verschleppt und ermordet würden."
    Im August 2014 hatten die Islamisten ihr Dorf umzingelt. Die Bewohner sollten sich entscheiden: Wenn sie zum Islam konvertieren, würde ihnen nichts passieren. Denn der IS hält die Jesiden für Ungläubige und Teufelsanbeter, weil ihre Religion sich nicht auf ein "heiliges Buch" bezieht und weil sie auch Engel anbeten.
    "Sie wurden ermordet"
    Die Bewohner von Kocho wurden in einer Schule zusammengetrieben. Frauen und Männer wurden separiert. Keiner hob den Finger auf die Frage, wer Moslem werden möchte. Daraufhin wurden sofort hunderte Männer erschossen. Fast alle Männer in Kocho waren am Ende tot - auch sechs von Nadia Murads Brüdern. Sie selbst, ihre Schwestern und Nichten wurden zu Gefangenen des IS. Die älteren Frauen wurden von ihnen getrennt.
    "Nachdem meine Mutter entführt wurde, haben wir die IS-Kämpfer, unsere Peiniger gefragt, was sie mit den älteren Frauen gemacht haben. Sie haben uns gesagt, dass sie ermordet wurden. Das wollten wir am Anfang nicht glauben, bis wir dann gehört haben, dass es etliche Massengräber gibt. Darunter auch ein Massengrab an dem Ort, an dem ich von meiner Mutter getrennt wurde. Es hieß, dass auch ältere Frauen sich darin befinden. Von da an war mir klar, dass auch meine Mutter ermordet wurde."
    Mehr als einen Monat verbrachte Nadia Murad in IS-Gefangenschaft. Es ist kaum auszuhalten, zu hören, was sie dort erlebte. Sie wurde täglich vergewaltigt, auch von mehreren Männern nacheinander. Nach einem Fluchtversuch wurde sie brutal zusammengeschlagen, gefoltert. Bei einem weiteren Fluchtversuch fand sie eine muslimische Familie, die sie versteckte und sie später aus dem IS-Gebiet herausschmuggelte.
    "Diese Verbrechen müssen bestraft werden"
    Tausende jesidischer Frauen haben das Gleiche erlebt wie Nadia Murad. Doch kaum eine von ihnen will darüber sprechen.
    "Es ist tatsächlich so, dass die wenigsten Frauen offen darüber sprechen möchten, weil sie sich nicht trauen, weil sie sich dafür schämen, was passiert ist. All meine Nichten, meine Schwester und andere Verwandte - niemand möchte aussagen. Ich selbst habe schon damals im Irak im Flüchtlingslager, direkt nach der Gefangenschaft mitbekommen, dass Zeugenaussagen gesammelt werden, um zu erreichen, dass das, was passiert ist, als Genozid anerkannt wird. Das hat mich motiviert und ich sagte mir: 'Ich werde auf jeden Fall eine derjenigen sein, die aussagt. Diese Verbrechen müssen bestraft werden.'"
    Was dann kam, hatte Nadia Murad so nicht geplant. Es blieb nicht bei der Zeugenaussage. Sie sprach vor dem UN-Sicherheitsrat, Medienanfragen häuften sich. Sie wurde zur internationalen Fürsprecherin der Jesiden, bald zur UN-Sonderbotschafterin. Besondere Aufmerksamkeit erhielt ihr Fall, als Amal Clooney ihre Vertretung übernahm. Die prominente Rechtsanwältin ist die Frau des Schauspielers George Clooney. Gemeinsam kämpfen die beiden Frauen nun dafür, die IS-Mörder vor Gericht zur Rechenschaft zu ziehen und die Frauen zu befreien, die noch immer in der Hand des IS sind.
    Der Genozid dauert an
    "Knapp drei Jahre nachdem der IS die Dörfer und Städte der Jesiden überrannt hat, sind noch immer über 3.000 Frauen und Kinder in Gefangenschaft. Von den meisten wissen wir nichts. Ob sie sich umgebracht haben, ob sie ermordet wurden, ob sie noch in Gefangenschaft sind, wo sie sich befinden, wie es ihnen geht, ob sie überhaupt noch am Leben sind. Das ist unerträglich - nicht nur für ihre Verwandten."
    Der Genozid dauert an und kaum jemand unternimmt etwas. Das treibt Nadia Murad schier zur Verzweiflung. Deswegen nimmt sie dieses neue Leben auf sich, reist unermüdlich durch die Welt und berichtet immer wieder von den Gräueltaten des IS. Nicht selten bricht ihr dabei die Stimme. In ihrem Volk ist sie so zu einer Heldin geworden, wird verehrt - fast wie eine Heilige. Heute lebt sie in Deutschland.
    Sie ist eine der 1.100 Jesidinnen, die über ein Sonderkontingent aus dem Irak nach Baden-Württemberg geholt wurden. Doch ihre Heimat fehlt ihr. Sie vermisst das Dorfleben, sie vermisst es, auf dem Feld arbeiten zu können, mit ihren Tieren zu leben und zu arbeiten. Trotzdem kann sie sich nur schwer vorstellen, zurückzukehren. Zumindest nicht, so lange es keine international organisierte Schutzzone im Nordirak gibt, in der Jesiden, Christen und andere religiöse Minderheiten ein friedliches Leben garantiert wird.
    "Ich könnte mir vorstellen, Lokführerin zu werden"
    Sie ist dankbar dafür, in einem sicheren Land wie Deutschland leben zu können. Sie genießt es, allein endlos lange Spaziergänge machen zu können. Sie liebt lange Zugfahrten, bei denen sie in Ruhe aus dem Fenster schauen kann. Gleichzeitig wünscht sie sich, dass auch die Jesiden, die in den Flüchtlingslagern der Region ausharren, die Chance auf ein solches Leben bekommen.
    Weil sie nicht weiß, ob sie je in den Irak zurückkehren kann, will sie sich Deutschland ein neues Leben aufbauen, will die Sprache lernen, vielleicht eine Ausbildung machen.
    "Ich habe mir zum Ziel gesetzt, Teil dieser Gesellschaft zu sein, mich anzupassen an die deutsche Rechtsordnung, die Gepflogenheiten. Und für die Zukunft könnte ich mir vorstellen, Lokführerin zu werden."