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Unbeachtete Studien
Schlafende Schönheiten

1935 veröffentlichte Albert Einstein mit seinen Kollegen Podolsky und Rosen ein Paper zur Vollständigkeit der Quantentheorie, doch die Fachwelt reagiert desinteressiert. Gut 50 Jahre später erwacht die Studie zu neuem Leben - und ist damit ein prominentes Beispiel für den Dornröschenschlaf einiger wissenschaftlicher Aufsätze. Ein Einzelfall ist die Studie jedoch nicht.

Von Tomma Schröder | 26.05.2015
    "Da lag es und war so schön, dass er die Augen nicht abwenden konnte."
    Während wir bei Dornröschen nur wissen, dass sie "wunderschön" war, geht es in der Wissenschaft eher zu wie bei Germany's Next Topmodel. Die Schönheiten werden genau quantifiziert, wie Alessandro Flammini von der Indiana University erklärt:
    "Wir berücksichtigen zwei Faktoren: die Tiefe des Schlafs und das Ausmaß der Schönheit. Beim ersten Faktor schauen wir, wie lange die Studie geschlafen hat, also unbemerkt geblieben ist. Und die Schönheit wird daran gemessen, wie häufig die Studie zitiert wird, nachdem sie schließlich entdeckt wurde."
    Auf diese Weise haben Flammini und seine Kollegen 22 Millionen Paper über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren untersucht und dabei viel mehr schlafende Schönheiten entdeckt als vorangegangene Studien:
    "Tatsächlich haben wir herausgefunden, dass es keine exakte Grenze zwischen normalen Papern und schlafenden Schönheiten gibt. Jede Studie kann eine schlafende Schönheit sein. Und die extremen Beispiele sind sozusagen nur die Spitze des Eisberges."
    Besonders häufig sind schlafende Schönheiten in den Disziplinen Mathematik, Physik und Chemie, sowie bei Studien, die eher interdisziplinäre Themen behandeln. Warum sie nach vielen Jahren aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen, hat verschiedene Gründe:
    "Das Paper kann seiner Zeit voraus sein. Wenn es zum Beispiel eine Theorie erweitert, es aber keine empirischen Möglichkeiten gibt, dies zu überprüfen – so wie im Falle des Einstein-Podolsky-Rosen-Papers . In anderen Fällen wird eines der Ergebnisse der Studie, die vielleicht für den Autor eher nebensächlich waren, in einer anderen Disziplin entdeckt. Und manchmal scheint es auch einfach Zufall zu sein."
    Relevanz lässt sich auch in der Wissenschaft nicht immer quantifizieren
    Zufall ist aber ein Wort, das in das wissenschaftliche Bewertungssystem so gar nicht passen mag. Ist die Häufigkeit der Zitate doch das A und O bei der Bewertung von Wissenschaftlern, von Fachmagazinen, von Instituten und ganzen Universitäten. Gemessen wird dieser sogenannte Impact meist anhand der Veröffentlichungen weniger Jahre. Eine schlafende Schönheit, die vielleicht Themen behandelt, die gerade nicht in Mode sind, wird dabei natürlich nicht erkannt. Greift der Impact-Faktor also im wahrsten Sinne des Wortes zu kurz?
    "Ich bin kein großer Fan dieser Qualitätsbestimmung, die auf der Häufigkeit von Zitaten basiert. Es gibt unzählige Mechanismen, die dafür sorgen, dass ein Paper populär wird. Und ich gebrauche das Wort "Popularität" hier nicht zufällig. Etwas kann sehr viel Aufmerksamkeit innerhalb kürzester Zeit erhalten und nach zehn Jahren ist alles vorbei. Ich denke, eine Sache, die wir aus unserer Untersuchung lernen sollten ist, dass es einfach sehr schwierig ist, zu bestimmen, wann und warum wissenschaftliche Ergebnisse wichtig werden."
    Relevanz, so scheint es, lässt sich auch in der Wissenschaft nicht immer quantifizieren, und manchmal braucht es einige Zeit bis sie entdeckt wird. Auf die Frage, was die Schönheit einer Studie ausmache, zögert Alessandro Flammini kurz: Wenn ich eine sehe, sagt er schließlich und lacht dabei, dann erkenne ich sie.